Dienstag, 16. April 2024

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Brexit
"Ende der Fahnenstange ist erreicht"

Ein Austritt Großbritanniens aus der EU zum geplanten Termin am 29. März werde "aller Wahrscheinlichkeit" nicht stattfinden, sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Dlf. Denn es gebe im britischen Unterhaus für nichts eine Mehrheit. Es werde auch keine Nachverhandlungen mehr geben.

Jean-Claude Juncker im Gespräch mit Mario Dobovisek | 20.03.2019
Die britische Premierministerin Theresa May beim Empfang durch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Brüssel
Kommt der Brexit - in welcher Form auch immer? Die britische Premierministerin Theresa May mit dem EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (re.) (AFP / Aris Oikonomou)
"Wir brauchen Klarheiten über die eigentlichen Absichten des Vereinigten Königsreichs, die endgültigen Zusagen der britischen Regierung, diese Zusagen haben wir bislang nicht erhalten", sagte Juncker.
"No-Deal" hätte nur Verlierer zur Folge
Eine Fristverlängerung für den Brexit müsse ebenfalls die Zustimmung des britischen Parlaments für den vorliegenden Vertragstext erbringen. Dies sei bisher noch nicht passiert.
Es werde keine Neu- oder Nachverhandlungen oder Zusatzversicherungen geben, betonte der Luxemburger. Die Verhandlungen seien abgeschlossen. Man habe sich intensiv auf Großbritannien zubewegt. "Das Ende der Fahnenstange ist nun erreicht. Mehr geht nicht." Er wünsche sich keinen harten Brexit, ein "No-Deal" sei die schlechteste aller Möglichkeiten. Dies würde nur Verlierer produzieren.
Lesen Sie hier das vollständige Interview.

Mario Dobovisek: Es sind schwere Zeiten für überzeugte Europäer. Die Europäische Union will sich weiterentwickeln, sich reformieren. Da preschen die einen vor, während die anderen zögern. Zu unterschiedlich sind ihre Ideen mit Blick in die Zukunft. In vielen Mitgliedsstaaten gewinnen Populisten an Einfluss, übernehmen nach und nach auch Regierungsverantwortung, wie in Italien zum Beispiel.
Und dann der Brexit, der dieser Tage über allem schwebt. Klare Ansagen fehlen weiter, neun Tage vor dem eigentlichen Austrittsdatum Großbritanniens. Zweimal hat das Unterhaus in London den mit der EU ausgehandelten Deal bereits abgeschmettert. Eine dritte Abstimmung soll es nur bei substanziellen Änderungen geben. Wird der Brexit jetzt auf die lange Bank geschoben, oder kommt mit Pauken und Trompeten in gut einer Woche der harte Brexit, der Brexit ohne Austrittsabkommen?
In dieser recht unübersichtlichen Gemengelage können wir mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission, der EU-Kommission sprechen: mit Jean-Claude Juncker. Guten Morgen, Herr Juncker!
Jean-Claude Juncker: Guten Morgen nach Köln.
Dobovisek: Fangen wir mit einer ganz kurzen wie simplen Frage an, die wahrscheinlich nicht ganz so simpel zu beantworten ist, Herr Juncker, zum Aufwärmen sozusagen. Wann kommt der Brexit?
Juncker: Die Frage ist einfach; die Antwort ist schwer.
Dobovisek: Wie lautet sie?
Juncker: Es ist so, dass aller Wahrscheinlichkeit nach Großbritannien am 29. März wie geplant nicht austreten wird, weil es im britischen Unterhaus keine Mehrheit für nichts eigentlich gibt. Ich habe am Montag vergangener Woche drei, vier Stunden lang mit Theresa May in Straßburg verhandelt. Wir haben uns geeinigt. Aber das britische Parlament hat nicht zugestimmt.
"Wir brauchen verlässliche Angaben der britischen Regierung"
Dobovisek: Einen Brief wollte Großbritanniens Premierministerin an die EU schicken - so hatte sie es gestern angekündigt -, mit der Bitte um Fristverlängerung für den Brexit. Ist der Brief schon angekommen?
Juncker: Soweit ich weiß - wir sind ja jetzt zehn nach acht heute Morgen; ich war noch nicht im Büro; ich sitze hier quietschfidel auf meinem Bett und rede mit Ihnen -, soweit ich weiß, ist dieser Brief nicht angekommen. Aber diesen Brief bräuchten wir, weil wir müssen Klarheit gewinnen über die eigentlichen Absichten des Vereinigten Königreiches.
Die Antwort auf die Frage, die Sie mir stellen, liegt ja zu großen Teilen in Großbritannien. Wir als Europäische Kommission, als Europäische Union haben alles getan, um zu einer Einigung zu kommen. Wir haben mehrfach mit der britischen Premierministerin auch Vertragstexte geändert. Aber diese Vertragstexte finden, so wie es scheint, nicht die Zustimmung des britischen Parlaments.
Wir brauchen aber verlässliche Angaben über die eigentlichen Absichten der britischen Regierung, des britischen Parlaments. Diese endgültigen Zusagen des britischen Parlaments und der britischen Regierung haben wir bislang nicht erhalten.
Die britische Premierministerin Theresa May und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bei einer Pressekonferenz.
Verhärte Fronten: Theresa May und Jean-Claude Juncker (AFP / Emmanuel Dunand)
"Dann sind wir in Gottes Hand"
Dobovisek: Jetzt meldet die BBC vor ein paar Minuten, dass Frau May wohl keine lange Verlängerung beantragen werde, sondern nur eine kurze. Wir sprechen da über zwei bis drei Monate. Sie haben gerade die Problematik aufgezeigt, Herr Juncker. Was würden denn diese Monate überhaupt bringen?
Juncker: Diese Monate müssen im Endergebnis eine Zustimmung des britischen Parlaments zu dem vorliegenden Vertragstext erbringen. Passiert dies nicht und tritt Großbritannien nicht wie vorgesehen Ende März aus, dann sind wir - ich sage das nicht gerne - eigentlich in Gottes Hand. Aber ich glaube, auch Gott hat einen Geduldsfaden, der irgendwann reißt.
Dobovisek: Wie ist es denn um Ihren Geduldsfaden bestellt? Ist der inzwischen gerissen?
Juncker: Ich wusste überhaupt nicht, dass mein Geduldsfaden so lang wäre, wie er gewesen ist in den letzten Wochen, Tagen und Monaten. Aber wir brauchen Klarheit, und die Antwort wird von London formuliert. Wir müssen ja zustimmen. Aber es gibt keine Nachverhandlungen, keine Neuverhandlungen und keine Zusatzversicherung zu den ohnehin schon abgegebenen Zusatzversicherungen.
Dobovisek: Basta! Aus! Friss oder stirb, könnte man sagen. Keine Nachverhandlungen, das war's?
Juncker: Ich werde in hohem Alter nicht zu Schröder werden und werde nicht einfach "basta!" sagen. Wir bleiben mit den Briten im Gespräch. Wir befinden uns ja mit Großbritannien nicht im Kriegszustand, sondern im Verhandlungszustand. Aber die Verhandlungen sind abgeschlossen.
"Wir haben uns intensiv auf Großbritannien zubewegt"
Dobovisek: Dann aber noch mal die Frage: Wenn sich beide Seiten nicht bewegen, was würde dann eine Fristverlängerung bringen?
Juncker: Ich bin zu jeden Bewegungen fähig. Aber wir haben uns intensiv auf Großbritannien zubewegt. Mehr geht nicht! Das Ende der Fahnenstange ist erreicht. Wenn jetzt über andere Szenarien gesprochen wird, dann brauchen wir eine neue Fahnenstange. Ob wir die aber anfassen, das steht in den Sternen.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Dobovisek: Mal gucken, ob noch so viel Stahl da ist wegen der Strafzölle. Fragen wir mal anders herum: Wenn Theresa May morgen wieder nach Brüssel reist, denn da beginnt der EU-Gipfel mit den Staats- und Regierungschefs aus der Europäischen Union, was muss sie konkret mit im Gepäck haben, damit es eine Zustimmung geben könnte für eine Fristverlängerung?
Juncker: Sie muss im Gepäck haben eine Zustimmung zu dem ausgehandelten Vertrag. Sie muss im Gepäck haben klare Zeitvorstellungen. Meine Einschätzung ist die - das wird Sie vielleicht überraschen -, dass es diese Woche anlässlich des Europäischen Rates zu keiner Beschlussfassung kommt, sondern dass wir uns wahrscheinlich nächste Woche wieder treffen müssen, weil Frau May hat weder in ihrem Kabinett, noch im Parlament Zustimmung zu irgendetwas.
Solange wir nicht wissen, wozu Großbritannien Ja sagen könnte, können wir auch zu keiner Beschlussfassung kommen. Meine Einschätzung heute Morgen um Viertel nach acht ist, dass wir diese Woche nicht zu Potte kommen, sondern uns nächste Woche noch einmal treffen müssen.
"Der harte Brexit wäre ein Lose-Lose-Game"
Dobovisek: Gehen Sie trotz aller Treffen, die vielleicht noch kommen und folgen werden, von einem harten Brexit Ende März aus?
Juncker: ich wünsche mir das nicht, weil der harte Brexit wäre, wie wir auf Deutsch sagen, ein Lose-Lose-Game. Jeder wird verlieren. Ein No Deal, eine Nichteinigung ist die schlechteste aller Möglichkeiten. Die beste Möglichkeit wäre, dass das britische Parlament sich zusammenrauft und dem Vertragstext zustimmt, so wie er jetzt vorliegt. Ich gehe in diese Woche Europäischer Rat, Donnerstag und Freitag, nicht heiter, aber gelassen hinein.
Dobovisek: Machen wir gemeinsam einen Schritt zurück, Herr Juncker. Premier David Cameron hatte das Brexit-Referendum einst ins Spiel gebracht. Dann folgte ein spaltender populistischer Wahlkampf mit bekanntem Ergebnis. Jetzt stehen Europawahlen an. Gestalten persönliche Egoismen und volksnahe Parolen das Europa der Zukunft?
Juncker: Nein! Wahrscheinlich wird dies auf Großbritannien zutreffen. Aber wir haben noch andere Dinge zu erledigen, als nur den Brexit-Deal. Es stehen große Probleme vor der Tür. Unser Verhältnis zu China, unsere Bemühungen, die Investitionen in Europa anzukurbeln, obwohl wir schon 380 Milliarden Euro Investitionen losgetreten haben, dank des Juncker-Planes, der nicht mehr so heißt.
Am Anfang hieß dieses Investitionsprogramm Juncker-Plan, weil die Menschen dachten, das geht schief und dann müssen wir denjenigen identifizieren, der daran Schuld ist. Jetzt funktioniert das und jetzt heißt das Europäischer Fonds für strategische Investitionen. Daran arbeiten wir weiter.
Gruppenbild vom EU-Gipfel im Dezember 2017: Ungarns Ministerpräsident Orban steht neben EU-Kommissionspräsident Juncker (Mitte).
Ungarns Ministerpräsident Orban (li.) und EU-Kommissionspräsident Juncker (AFP/BELGA/(Thierry Roge)
"Ich rate meinen Parteifreunden, dass die Fidesz-Partei ausgeschlossen wird"
Dobovisek: Viele große Aufgaben, Herr Juncker. Kommen wir noch mal zurück zum Thema Populismus. Heute hätten die Christdemokraten im Europaparlament ja eine Chance zu reagieren. Es geht um den möglichen Fraktionsausschuss des Fidesz von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán. Auch Sie gehören zu dieser Parteifamilie und wurden auch immer wieder persönlich angegriffen. Was raten Sie Ihren Parteifreunden heute?
Juncker: Ich rate meinen Parteifreunden - ich werde an diesen Sitzungen nicht teilnehmen, weil ich Kommission und Parteiamt nicht miteinander verwechseln möchte -, dass die Fidesz-Partei von Herrn Orbán ausgeschlossen wird. Das habe ich schon vor zwei Jahren verlangt.
Ich bin nicht erheitert. Die Plakat-Kampagne, die Herr Orbán gegen mich organisiert hat, ist mir relativ egal. Aber ich bin seit zwei Jahren der Meinung, dass die Orbán-Partei sich von den christdemokratischen Grundwerten entfernt, und wer sich von den Grundwerten entfernt, der muss sich überlegen, ob er seinen Platz noch in dieser Parteienfamilie hat.
Dobovisek: Wie weit reicht Ihr Verständnis für Ihren potenziellen Nachfolger Manfred Weber, wenn er zu Orbán fährt und für einen möglichen Kompromiss unter anderem bayerische Professorenstellen für die Soros-Universität im Gepäck hat?
Juncker: Es ist ja Aufgabe und Sache des Spitzenkandidaten der EVP, die Dinge in Ordnung zu bringen, und ich habe überhaupt nicht den Eindruck, das weiß ich auch aus vielen Gesprächen mit meinem Freund Manfred Weber, dass er da nachgiebig agieren würde.
Dobovisek: Das bedeutet?
Juncker: Das bedeutet, wenn Herr Orbán sich nicht zu den Grundwerten der christlichen Demokratie in Europa bekennt, dass dann sein Platz außerhalb der Europäischen Volkspartei zu suchen ist. Er muss ihn suchen, nicht wir.
"Meine große Sorge ist, dass Europa sich aufteilt"
Dobovisek: Wir haben über die Kampagnen auch gegen Sie persönlich gesprochen. Für viele Extreme, für viele Populisten sind Sie, Herr Juncker - ich zitiere -, das Sinnbild für das kranke Europa. Wie sehr schmerzen solche Angriffe zum Beispiel aus Ungarn und aus Italien?
Juncker: Ich fühle mich eigentlich relativ munter. Oder klinge ich nicht so? Ich nehme diese Anwürfe zur Kenntnis. Die beeindrucken mich aber nur in Maßen.
Dobovisek: Aber was sagt uns das über das Miteinander oder Gegeneinander in Europa, das wir inzwischen haben?
Juncker: Meine große Sorge ist, dass Europa sich in Ost und West, in Westeuropa und in Mitteleuropa aufteilt. Aber Europa muss mit beiden Lungen atmen und ich hätte gerne, dass wir wieder Zugluft in unsere Lungen kriegen.
Der französische Staatspräsident Macron und Bundeskanzlerin Merkel unterzeichnen den Aachener Vertrag
Frankreichs Präsident Macron und Bundeskanzlerin Merkel unterzeichnen den Aachener Vertrag (AP via dpa/Martin Meissner )
Dobovisek: Kann dabei die deutsch-französische Initiative helfen, der Aachener Vertrag? Über den wird der Bundestag heute entscheiden und ihn dann annehmen. Der ist ja explizit offen auch für andere Länder. Die können da mitmachen. Das haben beide Seiten heute gesagt. Ist das das neue Europa, ein Kerneuropa um Deutschland und Frankreich mit der Peripherie, die langsam zerbröselt?
Juncker: Ohne Deutschland und Frankreich läuft ja nichts in Europa. Aber ich warne davor zu denken, dass die Deutschen und die Franzosen vorsingen und das die anderen abnehmen. So wird das nicht sein. Wir brauchen viele kleine Hände und die kleinen Hände sind oft geschickter als die großen Hände. Und kleine Länder - ich komme ja aus einem kleinen Land...
Dobovisek: Sie kommen aus Luxemburg.
Juncker: Ja, ja! Gut, dass Sie darauf hinweisen. Ich habe das aber nie vergessen. Kleine Länder brauchen große Ohren, weil wir müssen nach Frankreich und nach Deutschland hinein zuhören. Wir können das besser. Die Luxemburger wissen besser über die Franzosen Bescheid als die Deutschen und besser über die Deutschen Bescheid als die Franzosen.
Dobovisek: Haben die kleinen Hände Angst vor den großen Händen?
Juncker: Nein! Kleine Luxemburger haben keine Angst vor großen Tieren. Ich habe öfters gesagt, ein Löwe kann einen Floh nicht belästigen, aber ein Floh kann einen Löwen zum Wahnsinn treiben.
Dobovisek: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker live heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk. Ich danke Ihnen für das Interview.
Juncker: Vielen Dank! Ich war froh, mal wieder im Deutschlandfunk zu sein. Ich war zwei Jahre lang nicht mehr da. Es war schön, Sie wieder zu hören.
Dobovisek: Wir auch! Auf Wiederhören!
Juncker: Okay! Alles Gute! Schönen Tag!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.