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Vor 50 Jahren uraufgeführt
Stanley Kubricks böses Meisterwerk "A Clockwork Orange“

Kaum ein Film hat Gewalt so konsequent ästhetisiert - und das zugleich hinterfragt wie "A Clockwork Orange“. 50 Jahre nach seiner Premiere am 19. Dezember 1971 hat Stanley Kubricks düsteres Meisterwerk nichts an Intensität verloren.

Von Katja Nicodemus | 19.12.2021
The Droogs - die Gang in "A Clockwork Orange" trägt stets weiße Kleidung und schwarze Melonen
Malcolm MCDowell (Mitte) als Alex in Stanley Kubricks "A Clockwork Orange" (picture alliance / Everett Collection)
Willkommen in dieser Zukunftswelt des Schreckens. Willkommen in einer Clique, die in bizarren weißen Outfits, ausgestattet mit Genitalienschonern, marodierend durch die Gegend zieht. Malcolm McDowell spielt ihren Anführer, den Hooligan Alex, der Beethoven liebt und noch bei seinen Eltern lebt.
„Für eine Weile hatten wir unseren Spaß mit anderen Autofahrern und ließen so richtig die Kuh fliegen. Dann ging es nach Westen, um einen von unseren alten Überraschungsbesuchen zu machen. Das war immer ein Mordstrip mit großer Schaffe, viel Geschrei und Ultrabrutalem.“

Drastische Gewaltszenen und eine eigene Kunstsprache

1971 beginnt Stanley Kubrick mit den Dreharbeiten. Zwar war sein vorheriges Werk, der zwölf Millionen Dollar teure Science-Fiction-Film „2001: Odyssee im Weltraum“, ein finanzieller Welterfolg. Doch an der Verfilmung von Anthony Burgess‘ Kultroman „A Clockwork Orange“ aus dem Jahr 1963 sind die Geldgeber wenig interessiert. Wohl wegen der drastischen Gewaltszenen und weil der Protagonist und Erzähler eine eigene Kunstsprache verwendet, zwischen Jugendjargon, russischen Lehnwörtern und viktorianischer Gestelztheit.
„Es war ein wunderbarer Abend. Und was er noch brauchte, um wahrhaftig großartig zu enden, war ein wenig vom alten Ludwig van.“

An Originalschauplätzen gedreht

Obwohl der Film nur das Budget von zwei Millionen Dollar hat, ist er voller exzentrischer Schauwerte. Kubrick dreht an Originalschauplätzen in London und Umgebung: Betonlandschaften, Hochhausburgen, Unterführungen, Wohnungen, die er mit einer ausgefeilten Lichtregie verfremdet. Endlos wirken die mit futuristischen Möbeln ausgestatteten Raumfluchten. Zooms, Kamerafahrten und extreme Weitwinkelaufnahmen erzeugen eine unruhige, von Aggression durchsetzte Atmosphäre.
Der Regisseur Stanley Kubrick 1972 beim Dreh seines Films "A Clockwork Orange"
Der Regisseur Stanley Kubrick 1972 beim Dreh seines Films "A Clockwork Orange" (picture-alliance / MP / Leemage)
Bei einem Überfall schlagen Alex und seine Komplizen einen Schriftsteller zum Krüppel und vergewaltigen dessen Frau. Die brutale Tat wirkt umso irritierender, da sie choreografiert ist. Während Alex einen Musicalsong singt, verbinden sich seine Tanzbewegungen mit Tritten. Malcolm McDowell erinnert sich
„Stanley sagte zu mir: ‚Kannst Du tanzen?‘ Ich sagte: ‘Ja, warum nicht?‘ Und ich begann mit einer Art Stepptanz-Nummer und fing an zu summen und ‚Singing in the Rain‘ zu singen. Für mich ist diese Szene mit Gene Kelly eine der unbeschwertesten, die ich je im Kino gesehen habe, gerade deshalb schien sie mir zu passen.“

Kubrick: „Jeder ist von der Gewalt fasziniert."

Die Szene ist eine Zumutung, weil sie die Frage nach dem Unterhaltungswert von Gewalt auch dem Kinopublikum stellt. Gegenüber dem Magazin "Newsweek" sagte Kubrick: „Jeder ist von der Gewalt fasziniert. Schließlich ist der Mensch der unbarmherzigste Killer, der je auf Erden jagte.“

Von der katholischen Kirche indiziert

Die Radikalität und bewusste Amoralität, die Mitleidlosigkeit und formale Kälte wird die Rezeption des Films, der am 19. Dezember 1971 uraufgeführt wird, maßgeblich bestimmen: Die amerikanische Starkritikerin Pauline Kael attestiert „A Clockwork Orange“ die Glorifizierung sadistischer Gewalt. Feministinnen kritisieren die Vergewaltigungsszene als schockierend misogyn, die katholische Kirche in den USA setzt den Film auf den Index, britische Zeitungen spekulieren darüber, ob "A Clockwork Orange" Menschen zu Gewalttaten anstiften könne.

Das Verhältnis von individueller und staatlicher Gewalt

Mit seinen Provokationen wirft „A Clockwork Orange“ weitergehende Fragen auf: Im Gefängnis wird der zu 14 Jahren verurteilte Alex einer Anti-Gewalt-Konditionierung unterzogen, die seine kriminelle Veranlagung auslöschen soll. Eine Apparatur hält seine Augen offen, während er Filme mit Gräueltaten vorgeführt bekommt.
Stanley Kubrick verhandelt das Verhältnis von individueller und staatlicher Gewalt. Er zeigt einen Staat, der nicht weniger brutal ist als die, die er bestraft. Nach Alex‘ Gehirnwäsche sagt der davon schockierte Gefängnispfarrer einen zentralen Satz:
„Er wird nichts Böses mehr tun, ja, aber er ist hinfort auch kein Wesen mehr, das einer freien moralischen Entscheidung fähig ist.“
Und, so kann man fragen, wieviel moralische Distanzierung ist angesichts der inszenatorischen Schönheit und Perfektion von „A Clockwork Orange“ überhaupt möglich? Bis heute hat dieses „böse Kunstwerk“ nichts von seiner Wucht verloren. Noch immer hält es der gewalttätigen Natur des Menschen mit perfekter musikalischer Choreografie den Spiegel vor.