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Corona: Erkenntnisse einer Krise
Sehnsucht Tourismus

Kaum eine Branche wurde von der Coronakrise so hart getroffen wie der Tourismus: Experten rechnen mit einem Einbruch des weltweiten Geschäfts um 70 Prozent. Wer weiterhin mit Touristen Geld verdienen will, muss sich etwas einfallen lassen. Andere sind froh, dass die Urlauber derzeit wegbleiben.

Von Benjamin Dierks |
Mallorca während des Lockdowns am 8. Mai 2020
Die Coronakrise bietet sonst überlaufenden Touristenzielen auch die Chance, neue und nachhaltigere Konzepte zu entwickeln (imago / Thomas Reiner)
Dort wo schon bald die Zukunft des Reisens beginnen soll, stehen bislang nur grobe Pfeiler aus Spanplatte. Sie halten den Platz frei in der glänzenden Fassade aus Stahl und Glas, wo Bauunternehmer Till-Oliver Kalähne in ein paar Tagen die Tür zu seinem neuen Hotel einsetzen lassen will. Wobei Tür es nicht ganz trifft.
Wer das Haus im Berliner Stadtteil Neukölln betritt, soll eine automatische Hygieneschleuse passieren: "Da geht der Flügel elektrisch auf, dann gehen Sie durch die Schleuse. Dann sind sie bestäubt und können da rein."
Kalähne macht ein paar Schritte in die künftige Eingangshalle hinein, in der an der nackten Betonwand noch Metallträger und große Wandplatten lehnen. Die gläserne Schleuse, die Kalähne selbst entwickelt hat, soll mit einem feinen Nebel aus Desinfektionsmitteln dafür sorgen, dass Viren und Bakterien draußen bleiben.
Dieser Hintergrund ist Teil 5 einer Serie zu den Krisenerkenntnissen der Corona-Pandemie

Teil 1 am 2.6.2020: Lehren für Medizin und Pflege in Deutschland
Teil 2 am 3.6.2020: Afrikas Gesundheitsnöte
Teil 3 am 4.6.2020: Spaltpilz Massenarbeitslosigkeit
Teil 4 am 5.6.2020: Die Welt in Unordnung
Teil 6 am 7.6.2020: Nicht die Stunde der europäischen Rechten
"Die Aerosole strömen aus in dem Moment, in dem die Klapptür aufgeht. Und nach der Bestäubung sollte es dazu führen, dass zumindest Ihre Kleidung und was Sie so draußen haben, desinfiziert ist."
Gleich vier dieser Apartment-Hotels errichtet Kalähnes Unternehmen gerade in Berlin. Die Coronakrise platzte mitten in die heiße Bauphase. Der Reisemarkt brach weltweit zusammen, Hotels machten dicht und die Zukunft für Kalähnes schicke neue Herbergen sah plötzlich mau aus.
Künftigen Epidemien mit desinfizierter Luft trotzen
Also überlegte er mit seinen Kollegen, wie sie auf die Pandemie reagieren könnten: "Wir haben das hier gemacht, um ein Produkt überhaupt noch an den Markt zu kriegen, langfristig an den Markt zu kriegen, unabhängig zu sein von solchen Schwankungen, die eben durch so etwas passieren, geöffnet bleiben zu dürfen, wenn noch mal so etwas passiert oder was Ähnliches."
Neben der Sicherheitsschleuse haben die Entwickler noch einige andere Finessen eingebaut, um Corona und künftigen Epidemien zu trotzen: Temperaturscanner in der Lobby, einen kontaktlosen Fahrstuhl, desinfizierende Fußmatten, waschbare Matratzen und eine besondere Reinigung der Zimmer mit UV-Strahlen, die nur Fachleute in Schutzanzügen durchführen dürfen.
Das Berliner Stadtschloss im Bau, neben Dom und Fernsehturm bei Dämmerung.
Sicher in die Hauptstadt reisen - mit neuen Hygienekonzepten (imago images / Future Image /S. Gabsch)
Kalähne nimmt die Treppe in die erste Etage und bahnt sich seinen Weg an einigen Handwerkern vorbei. Noch wird überall geschraubt, gebohrt und geschliffen. Aber in diesem Stockwerk nehmen die Zimmer schon Gestalt an. Bald sollen die ersten Gäste einziehen. In einem der Räume trifft Kalähne auf eine Kollegin, die kontrolliert, ob beim Einbau alles richtig gemacht wurde.
Auch in den Zimmern wird darauf geachtet, dass keine Erreger in die Luft gepustet werden. Kalähne weist auf einen Schlitz vor den bodentiefen Fenstern:
"Das ist desinfizierte Luft. Wir haben eine zentrale Klimaanlage, die sehen Sie auch, wenn Sie aufs Dach gucken. Und die Klimaanlage sorgt für gereinigte Luft in den Einheiten."
Für Hotels, die ihre Türen nun wieder öffnen dürfen, gelten schärfere Hygienevorschriften: Masken an der Rezeption etwa, Abstand im Restaurant oder genauere Reinigung. Kalähne glaubt nicht, dass es damit getan ist. "Es reicht einfach nicht ein Handbuch zu schreiben, wie weit ich Abstand halten muss, und bitte ziehe eine Maske an."
Hygiene als Marke
Der Unternehmer will mit seinen Maßnahmen einen Standard setzen. "Safer than home", hat er sein Konzept genannt – sicherer als zu Hause, und es als Marke schützen lassen. Nun hofft er, dass auch andere Hoteliers sich dafür begeistern. Mit dem TÜV berät er sich, ob daraus gar ein eigenes Hygienezertifikat werden könnte.
"Der Tourismus wird ja wieder aufblühen – hoffentlich. Und reisen wollen wir auch alle. Aber wir reisen halt, glaube ich, ungern in eine unsichere Location und setzen uns ungern einem Risiko aus, und das hat die Leute, glaube ich, auch im Kopf erreicht. Es gibt Risiken, wenn man reist. Und das wird die Art des Tourismus sicherlich verändern."
Die Attrappe in Form eines Riesen- Waffeleis vor einem Eiscafe in Dettenheim bei Karlsruhe. Die Tische und Baenke sind leer, gesperrt und abgeriegelt. Au?er-Haus Verkauf ist moeglich. GES/ Taegliches Leben in Deutschland waehrend der Corona-Krise, 27.04.2020 GES/ Daily life during the corona crisis in Baden-Wuerttemberg, Germany. April 27, 2020 A big dummy of an Icecream seen in front of a Ice Cream Caf? in Dettenheim, close to Karlsruhe. Benches and Tables are closed. | Verwendung weltweit
Tourismusbeauftragter: "Große Sorge, dass eine ganze Branche ins Wanken gerät"
Thomas Bareiß, Tourismusbeauftragter der CDU, geht nicht davon aus, dass in naher Zukunft Reisen ins Ausland möglich sein werden. Die Bürger sollten in diesem Sommer den Schwerpunkt auf Deutschland legen, sagte er im Dlf.
Kaum eine Industrie wurde so hart von der Coronakrise getroffen wie die Reisebranche. Auch wenn sich erste Grenzen zumindest in Europa wieder öffnen, die Welttourismusorganisation UNWTO rechnet mit einem Einbruch des weltweiten Geschäfts um rund 70 Prozent. Umso mehr ringt die Branche darum, die Reiselust der Menschen zu wecken und ihnen ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln.
Branchenverband fordert koordiniertes Vorgehen
Die Folgen der derzeitigen Krise seien für die Industrie schlimmer als die Reaktion auf die Terroranschläge von 2001 und die Finanzkrise von 2008 zusammen, sagt Gloria Guevara, die Chefin des weltweit operierenden Branchenverbands WTTC. Aber anders als damals müsse es diesmal eine koordinierte Antwort geben:
"Wir wollen verhindern, was damals passiert ist. Nach den Anschlägen vom 11. September hat die Branche vier Jahre gebraucht, um sich zu erholen, weil wir uns damals nicht abgestimmt haben. Der öffentliche und der private Sektor haben nicht zusammengearbeitet. Und nicht einmal die Regierungen haben kooperiert. Jede schaffte ihre eigenen Sicherheitsbestimmungen. Das verunsicherte die Reisenden, was wiederum die wirtschaftliche Erholung beeinträchtigte."
Ähnlich wie Bauunternehmer Till-Oliver Kalähne in seinem Hotel in Berlin-Neukölln will deshalb auch Gloria Guevara mit ihrem weltweiten Branchenverband ein Label schaffen, das Urlaubern und Geschäftsreisenden Vertrauen geben soll. "Safe travels", also sicheres Reisen, hat sie die Kampagne getauft. Deren grünes Emblem sollen sich nun alle anheften können, die ein gemeinsames Regelwerk für Hygiene- und Gesundheitsvorkehrungen befolgen.
Branche setzt auf Schutzkonzepte für Reisende
Der weltweite Tourismus liegt am Boden. Doch es gebe Wege aus der Krise und zwar dann, wenn Schutzkonzepte für die Reisenden entwickelt würden, sagte Michael Rabe vom Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaft im Dlf.
"Die Realität ist, dass wir nicht 100 Prozent Sicherheit garantieren können. Wir wollen den Kunden mit diesem Stempel einfach nur sagen: Wir tun alles, um das Risiko zu minimieren. Ob es ein Hotel in New York, London oder in Cancun ist, sie folgen alle demselben Sicherheitsprotokoll."
Aber werden die Reisegäste sich deshalb wieder in die Flugzeuge, die Züge, die Reisebusse und auf die Fähren wagen, die seit Monaten stillliegen – auf die Kreuzfahrtschiffe gar, die ihren Ruf weg haben als schwimmende Infektionsherde? Und wie wird das Reisen aussehen mit oder nach Corona?
Hoffnung auf das Sommergeschäft in Deutschland
Für dieses Jahr hoffen Branchenvertreter, dass zumindest das Sommergeschäft wieder anzieht – und das nicht ganz zu Unrecht, sagt Ulf Sonntag, der beim Kieler Institut für Tourismus- und Bäderforschung in Nordeuropa die Marktforschung leitet. Das Geschäft mit Oster- und Pfingstreisen sei zwar unwiederbringlich verloren, sagt Sonntag, aber das gelte zumindest in Deutschland nicht für den Rest des Jahres:
"Zwei Drittel der deutschen Urlauber haben zumindest den Urlaub 2020 für sich noch nicht abgeschrieben. Ein Teil von denen ist sehr optimistisch, dass sie auch reisen können, wollen und werden. Und ein anderer Teil, der wartet halt noch ab und guckt, ob es sich noch ergibt, ob es passt, aber schließt es im Moment noch nicht aus."
Bei Jana Buhl allerdings kommt dieser Optimismus noch nicht an. Die Berlinerin betreibt seit 20 Jahren ein kleines Reisebüro. Sie hatte die Aufhebung der Reisewarnung zumindest für Europa sehnsüchtig erwartet.
Quarantäneregeln bei Einreise unterschiedlich je nach Land
Die Nachfrage sei aber noch nicht merklich gestiegen, berichtet Buhl. Und sie mahnt zur Vorsicht: "Nur weil jetzt nicht mehr offiziell davor gewarnt wird, heißt das ja nicht, dass alles möglich sein wird. Momentan hat zum Beispiel Irland, da habe ich eine aktuelle Anfrage, nach wie vor 14 Tage Quarantäne vorgeschrieben für Einreisen nach Irland, und Großbritannien ebenfalls. Genau wie Norwegen: Das Auswärtige Amt sagt okay, aber die Norweger lassen gar keine Deutschen ins Land."
Ebenso wenig sei klar, ob die Fluggesellschaften wieder verlässlich fliegen und die Hotels in ausreichendem Maß ihre Tore öffnen. "Also, es gibt sehr viele Fragen: Können wir denn? Und wenn ich dann sage: theoretisch ja, aber praktisch sind eben noch diese vielen anderen Fragen offen, hält sich die Reiselust ziemlich in Grenzen, also zumindest, was ich über meine Kunden sagen kann."
Das Bild deckt sich mit der Stimmung, die in Umfragen weltweit zutage tritt. Gefragt nach dem Wort, das ihnen am ehesten in den Sinn kommt, wenn sie ans Reisen denken, antwortete die Mehrheit in einer Erhebung in den USA mit: Angst, gefolgt von Unsicherheit, Vorsicht und Gefahr. 63 Prozent der Amerikaner wollen im Moment lieber keine Touristen an ihrem Wohnort sehen. Und zumindest viel Besuch aus China müssen sie nicht befürchten.
Mehrheit der Chinesen bleibt derzeit lieber zuhause
Vor der Coronakrise waren die USA unter chinesischen Reisenden das Traumziel schlechthin. Seit dem Ausbruch des Virus tauchen die Vereinigten Staaten nicht einmal mehr in den Top Ten auf. Eine große Mehrheit von 77 Prozent der Chinesen will demnach vorerst ohnehin lieber gar nicht ins Ausland reisen, entweder, weil die Pandemie in ihren Augen dort schlecht gehandhabt werde, wie in den USA, weil das Geld oder die Zeit fehle, oder auch weil Menschen und Regierungen im Ausland Chinesen infolge des Corona-Ausbruchs schlechter behandelten.
"Wir sind uns sicher, dass Corona die Art, wie Leute übers Reisen denken, wie sie ihre Entscheidungen treffen und wie sie ihre Reiseerlebnisse wahrnehmen, verändern wird. Wichtig wird sein, wie lange diese Krise dauert und welche wirtschaftlichen Folgen sie hat. Denn es ist eine Sache, die Angst vorm Reisen, vor Menschenansammlungen und mangelnder Hygiene wieder zu überwinden. Eine ganz andere Sache ist es, ob man es sich noch finanziell leisten kann", sagt die Verhaltensökonomin Milena Nikolova, die Trends im Verhalten von Touristen erforscht.
Auch in Deutschland sinkt das Reiseaufkommen, wenn Arbeitslosenzahlen steigen. Und klar ist, dass der wirtschaftliche Rückfall enorm wird, womöglich die tiefste Rezession, die der Westen erlebt hat, ohne dass es einen Krieg gab. Allerdings könnte schon kommendes Jahr wieder ein Boom folgen, sagen Ökonomen.
Virtuelles Reisen statt Tourismus
Der Szenarioforscher Alexander Fink hat mit seinem in Paderborn ansässigen Institut ScMI mit Hilfe von Umfragen unter Unternehmern, zivilgesellschaftlichen Akteuren, Bürgern und in der Politik mehrere Szenarien für die Post-Corona-Zeit entwickelt und es ist alles dabei, von der düstersten Dystopie aus Weltwirtschaftskrise und autoritärem Siegeszug bis hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit, Freiheit und einer Welt, die zusammenwächst.
Daneben gibt es viele Zwischentöne, mehr Regionalisierung etwa oder einen Rückzug in eine stärker virtuelle Welt aufgrund wiederkehrender Infektionswellen und der Angst vor Viren, die draußen lauern:
"Also es könnte auch eine Situation entstehen, in der die neue Sicherheit in den eigenen vier Wänden entsteht. Und inwieweit sich das dann auf Reiseverhalten und Freizeitverhalten auswirkt, langfristig, das kann eine ganz spannende Frage sein."
Womöglich bleibt dann das bestehen, was Reiseexperten in den USA Armchair Escapism getauft haben: die Realitätsflucht vom heimischen Sessel aus. In der Krise bieten Museen und andere Kultureinrichtungen virtuelle Touren an, um ihre Exponate zu präsentieren, auch wenn die Besucher am anderen Ende der Welt in ihrem Wohnzimmer sitzen. Und auch einige Reiseorte versuchen, so im Gespräch zu bleiben. "Träume jetzt, reise später", warb etwa die Schweiz in einem Video-Clip. Viele andere schlugen ähnliche Töne an.
Viele Ruhe für Faroer-Reisende
Die für kreative Kampagnen bekannte Tourismus-Chefin der Faroer Inseln, Guðrið Højgaard, etwa bedauert in einem Video, dass die Inselgruppe Touristen die Einreise verwehren musste, bietet ihnen im Gegenzug aber eine ungewöhnliche virtuelle Tour an: Bewohnerinnen und Bewohner der Inseln hätten nun ja etwas mehr Zeit, berichtet sie. Deshalb könne man sie jetzt, mit Webcam auf dem Kopf, per Handy-App ferngesteuert über die Inseln laufen lassen. Sogar in die Luft springen würden die virtuell gesteuerten Reiseführer, wenn man den entsprechenden Knopf auf dem Handydisplay drückt, verspricht Højgaard.
Mitte Juni will die zu Dänemark gehörende autonome Inselgruppe sich schrittweise wieder für Besucher öffnen. Eigentlich hatte sie in diesem Jahr einen Reiseboom erwartet. Nun lockt sie ruhesuchende Reisende mit der Aussicht, dass es hier dieses Jahr wohl schön leer bleiben werde auf den Vulkaninseln.
Selfie mit chinesischer Polizistin, die vorrübergehend in Dubrovnik, Kroatien, stationiert ist, 14.8.2019
Overtourism in Europa - Tourismus nicht mehr um jeden Preis
Barcelona, Venedig oder Amsterdam erzielen aus dem Tourismus hohe Einnahmen. Gleichzeitig belastet übermäßiger Tourismus die betroffenen Orte und ihre Bevölkerung existenziell. Der Ruf nach Hilfe von der EU wird darum immer lauter.
Aus der Not eine Tugend machen, das ist es, was einige Tourismusexperten auch anderen Urlaubsorten empfehlen. Im vergangenen Jahr noch klagten beliebte Städte wie Venedig, Barcelona oder Dubrovnik über den ungebremsten Massenansturm von Touristen. Heute herrscht dort gähnende Leere und die vom Tourismus abhängige Wirtschaft hofft, dass die Besucher bald zurückkehren.
Aber in immer mehr Orten stellen sich die Tourismusverwalter auch die Frage, ob sie den Reiseverkehr um jeden Preis zurückhaben wollen. Einige von ihnen berät die Dänin Signe Jungersted, die einst den Tourismusstandort Kopenhagen reformierte und heute Tourismusmanager beliebter Orte dabei berät, wie sie den Reiseverkehr besser mit den Ansprüchen von Natur und Einwohnern abstimmen können.
"Nach vorne zu schauen, heißt ja nicht, dass wir nicht auch aus der Vergangenheit lernen sollten. Wie beim Virus müssen wir nun auch im Tourismus die Kurve abflachen. Es gibt auch ein Übermaß an Tourismus, das die Lebensqualität in Urlaubsorten, die natürlichen Lebensräume und das kulturelle Erbe, beeinträchtigen kann. Lange galt es nur, Tourismus immer mehr wachsen zu lassen. In den vergangen Jahren wurde klar, dass das kein nachhaltiger Weg ist", sagte Jungersted in einem Online-Workshop, zu der die Tourismusagentur von Island geladen hatte.
Nachhaltiger Tourismus statt Overtourism
Und tatsächlich überlegen die Verantwortlichen in einigen der besonders stark nachgefragten Urlaubsorte, wie sie Tourismus zu verträglicheren Bedingungen wieder anlaufen lassen können. Venedig etwa versucht, wieder mehr dauerhafte Einwohner in die Stadt zu locken und Studenten in Ferienunterkünfte ziehen zu lassen. Eine Steuer für Tagesausflügler wurde auf kommendes Jahr verschoben. Zunächst soll nun ein digitales Messsystem dabei helfen, die Besucherströme besser zu kontrollieren. Reisegäste sollen länger bleiben, der Tourismus soll langsamer werden.
Menschen in Berufskleidung stehen mit Abstand zueinander am Ufer aufgereiht und winken dem abfahrenden Schiff
Abschied in Freemantle: Medizinische Fachkräfte winken dem Kreuzfahrtschiff, dessen Passagieren sie zu Hilfe gekommen waren (AAP Image/Richard Wainwright)
Genau dazu rät auch Doug Lansky, ein in Stockholm lebender Tourismusstratege und beliebter Kongressredner der Branche. Es geht ihm zufolge nicht nur um Natur und das Leben der Einwohner. Auch wirtschaftlich sei weniger oft mehr:
"Es geht nicht darum, nur noch reiche Touristen hereinzulassen. Es geht darum, was sie ausgeben. Mehr Besucher bedeutet nicht unbedingt auch mehr Einnahmen, im Gegenteil: Wenn ein Urlaubsort zu viele Menschen hineinlässt, kann das schlecht fürs Geschäft sein. Touristen, die bereit wären, Geld auszugeben, bleiben fern, wenn ein Ort überfüllt ist. Und das wird noch zunehmen, wenn sie Angst vor einem Virus haben."
Wenn ein Urlaubsort weniger Tagesbesucher etwa von Kreuzfahrtschiffen oder Bustouren hineinlasse, gäben die verbleibenden Touristen pro Kopf mehr Geld aus. Auch in Amsterdam, das im vergangenen Jahr einen Ansturm von mehr als 18 Millionen Touristen bewältigen musste, hoffen Stadtverwaltung und Tourismusmanager auf einen Wandel durch die Krise und überlegen, wie sie künftig die "richtigen" Touristen in die Stadt locken könnten.
Jeroen Klijs von der niederländischen Breda University of Applied Sciences hat die Folgen von Overtourism, also einem Übermaß an Tourismus, in Europa und weltweit erforscht. Auch er glaubt, dass die Krise eine Chance biete:
"Natürlich ist es schwierig, einen großen Tanker oder einen rollenden Zug wie den Tourismus bei voller Fahrt auf neuen Kurs zu bringen. Aber nun hat der Tanker ja angehalten. Jetzt ist also die Zeit, genau darüber nachzudenken, welche Touristen kommen sollen, wie Besucher und Einwohner in Kontakt kommen sollen, welche Einrichtungen benötigt werden. Es geht darum, alles ein wenig in die richtige Richtung zu steuern, bevor die Maschine wieder anläuft."
In Umfragen kommt tatsächlich heraus, dass Menschen auch die Art, wie sie reisen, ändern wollen: individueller, langsamer, häufiger mit dem Fahrrad, nach wie vor im Flugzeug, aber weniger in Bussen oder auf Schiffen. Ob sich das auch bewahrheitet, wenn das Coronavirus keine Bedrohung mehr darstellt, ist eine andere Frage.
Interessenskonflikte mit öffentlichen Stellen
Jeroen Klijs warnt, sich nicht auf die Launen der Touristen zu verlassen. Änderungen seien nur politisch möglich. Allerdings stehe vielen Unternehmen das Wasser bis zum Hals. Und die seien kaum bereit, auf einen anderen, nachhaltigen Tourismus zu bauen.
"Das Urlaubsziel als Einheit existiert ja nicht, es setzt sich aus vielen Beteiligten zusammen, aus der Verwaltung, der Öffentlichkeit, den Unternehmen, die schnell wieder Touristen dort haben wollen. Die Interessen der öffentlichen Stellen und der privaten Tourismusunternehmen stimmten noch nie vollständig überein. Ein Fährunternehmen auf den Kanälen von Amsterdam hätte bestimmt gerne noch mehr Touristen statt weniger. Und in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage wollen sie die Zahlen auf jeden Fall wieder in die Höhe zu treiben. Dieser Interessenkonflikt hat nicht abgenommen, sondern ist eher stärker geworden."
Eines habe die Tourismusindustrie gezeigt, sagt Klijs, sie sei flexibler als andere Branchen und komme nach einem Absturz wieder in Gang. Zu welchen Bedingungen aber, das ist noch nicht klar. Viele Orte versuchen nun, zuerst an die Einwohner zu denken, sagt Tourismusexpertin Signe Jungersted:
"Früher hieß es immer: Verhalte dich wie ein Ortsansässiger. Aber wollen sie das noch? Schließlich gelten Touristen als diejenigen, die die Seuchen anschleppen. Vor allem auf Touristen, die mit den Kreuzfahrtschiffen unterwegs sind, lastet jetzt ein riesiges Stigma."
Es bleibt die Frage, wie lange diese Vorbehalte Bestand haben, wenn die Urlaubsorte das Geld der Reisenden brauchen.