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Dag Solstad: "T. Singer"
Im Kokon der Anonymität

Eine der wichtigsten Neuerscheinungen aus Anlass des Buchmessen-Gastlands Norwegen: Dag Solstad hat mit "T. Singer" nicht zum ersten Mal einen Außenseiter geschaffen, der nur in der weltabgewandten Nische existieren kann. Ein brillantes Psychogramm von Individuum und Gesellschaft - endlich auf Deutsch.

Von Angela Gutzeit |
Der norwegsiche Autor Dag Solstad in einem Interview während der Buchmesse in Helsinki 2014/ Norwegian author Dag Solstad poses in interview during Helsinki Book Fair on October 23, 2014. LEHTIKUVA / Sami Halinen *** FINLAND OUT. NO THIRD PARTY SALES. *** |
Der norwegische Autor Dag Solstad, hier 2014 in Helsinki, wird immer wieder als Kandidat für den Literaturnobelpreis genannt (dpa/Lehtikuva/ Sami Halinen)
Es gibt diese Magie des ersten Satzes. "Ilsebill salzte nach" zum Beispiel – der pointiert kurze Beginn von Günter Grass' Roman "Der Butt". Oder der berühmte Satz "Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen" am Anfang von Uwe Johnsons "Mutmaßungen über Jakob". Der Norweger Dag Solstad zieht seine Leser gekonnt mit einem verschlungenen Satzgebilde in seine Geschichte über einen Taugenichts, den eine Erinnerung quält.
"Singer litt an einer speziellen Form von Schamgefühl, das ihn keineswegs täglich plagte, ihn jedoch gelegentlich heimsuchte, es war eine Erinnerung an ein wie auch immer geartetes peinliches Missverständnis, die ihn plötzlich innehalten ließ, völlig erstarrt, mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck, den er sogleich verbarg, indem er beide Hände vor das Gesicht führte, während ihm ein lautes ,Nein, nein' entfuhr."
Die Scham des Außenseiters
Diese Erinnerung Singers, dem für seinen Vornamen nicht mehr zugestanden wird als der Buchstabe T, bezieht sich auf ein im Grunde genommen völlig lapidares Ereignis aus seiner Kindheit. Aber Solstads überaus präsenter Erzähler entfaltet dieses Ereignis mit einer Süffisanz, man kann auch sagen: mit einer gespielten Ratlosigkeit, die diesem Erzählwerk eine eigentümliche Spannung verleiht. Singer hatte als Kind in gekünstelter Affektiertheit über ein Spielzeug gelacht. Eigentlich nur, weil sein Freund es komisch fand. Er selbst aber nicht. Zufällig war er dabei von seinem Onkel beobachtet worden. Ob dieser von ihm selbst als überaus peinlich empfundene Vorfall tatsächlich verantwortlich ist für Singers künftiges Außenseitertum - das bleibt in der Schwebe. Solstads Erzähler hat zwar einen genauen Einblick in Singers Seelenleben. Aber er zieht sich auf die Position eines Beobachters zurück, der wie ein interessierter Forscher seinen Gegenstand genüsslich seziert und dabei recht mitleidslos ein paar unangenehme Beobachtungen kundtut.
"Singer ist zu Beginn dieses Buches vierunddreißig Jahre alt und im Begriff, nach Notodden zu ziehen, um eine neue Phase seines Lebens zu beginnen. Blickt er auf sein Leben zurück, ist es primär von Rastlosigkeit, Grübeleien, Rückratlosigkeit und plötzlich abgebrochenen Plänen geprägt. (…) Der passive junge Mann ist und bleibt ein abstoßender Anblick."
Henrik Ibsen als Vorbild
Singer verlässt Oslo, weil er es dort zu nichts gebracht hat. Ein Literaturstudium hat er ergebnislos beendet. Nur ein paar Gelegenheitsjobs haben ihn finanziell über Wasser gehalten. Spät lässt er sich schließlich zum Bibliothekar ausbilden und bewirbt sich auf eine Stelle in der Provinz. Der an Norwegens großem Dramatiker Henrik Ibsen und dessen Figuren geschulte Solstad hat hier einen Anti-Helden geschaffen, der sich selbst nicht begreift und immer wieder Täuschungen aufsitzt über seine Talente und Möglichkeiten. Das offenbart sich beispielsweise in einer umwerfend komischen, über mehrere Seiten variierten Passage über Singers kurzzeitige Ambitionen als Schriftsteller. Jahrelang arbeitete er sich an einem einzigen Satz ab – ohne über diesen jemals hinauszukommen.
",Eines schönen Tages stand er Auge in Auge einem denkwürdigen Anblick gegenüber.' (…) In der Rückschau ist es dennoch nicht richtig zu sagen, dass dieser Satz, diese Idee eines denkwürdigen Anblicks, all seinen dichterischen Plänen zugrunde lag. So faszinierte ihn beispielsweise eine Weile der schwebende Mensch, die Vorstellung, frei schweben zu können, verlieh ihm ein eigentümliches Gefühl von Freiheit, sodass es ihm selbstverständlich vorkam, die Idee des schwebenden Menschen, des fliegenden Menschen mit der Idee eines denkwürdigen Anblicks zu verbinden. Doch denkwürdig für wen? Für ihn, der dem denkwürdigen Anblick Auge in Auge gegenüberstand?"
Auffällig an dieser Prosa sind die langen Satzkaskaden, die etwas Schwingendes, ja, Singendes haben. Der Erzähler gefällt sich ganz offensichtlich darin, immer wieder in einen leichten Plauderton zu verfallen – unterstützt von kleinen Seufzern: "Ja, der Singer" heißt es dann. Oder "wahrhaftig, das ist Singer". Äußerst gekonnt hält Dag Solstads Sprachkunst die Balance zwischen Ironie und Anteilnahme.
Zunehmende geistige Abwesenheit
Sein seltsamer Held zieht in das kleine Städtchen Notodden in der Telemark, einer "sagenumwobenen Brutstätte für Volksmärchen", wie es heißt, um in der Anonymität zu verschwinden. Für kurze Zeit scheint sich ein grundlegender Wandel in Singer zu vollziehen. Er heiratet, aber nach zwei Jahren will er sich im gegenseitigen Einvernehmen wieder scheiden lassen. Seine Frau Merete beklagt seine zunehmende "geistige Abwesenheit". Bevor es jedoch zur Trennung kommt, stirbt Merete bei einem Autounfall. Und da bricht sie wieder hervor – die Singer'sche Scham. Zunehmend erfasst ihn Panik, weil er glaubt, Freunde und Verwandte wüssten von der Trennungsabsicht, würden ihr Wissen aber aus undurchsichtigen Motiven verschweigen.
"Singer wurde den Verdacht nicht los, dass es sich von ihrer Seite um ein einstudiertes Spiel handelte, geplant und durchdacht. (…) Aber warum? Was wollten sie damit bezwecken? Singer gefiel es nicht, und er wurde mit der Zeit immer unruhiger. Kurz nach der Beerdigung hätte er darin noch ein Zeichen von Taktgefühl sehen können, aber jetzt, mehr als ein Jahr später? Wenn sie etwas wussten, warum taten sie so, als wüssten sei von nichts, was um alles in der Welt wollten sie damit zum Ausdruck bringen?"
Und so treibt es Singer zurück nach Oslo. Meretes kleine Tochter, zu der er niemals Zugang finden wird, nimmt er mit. Auch wenn Solstad seinem Protagonisten ein paar Veränderungen zugesteht, so entlässt er ihn doch nie aus der Schleife der immer gleichen Grundverfassung. Dieser Singer lebt in einem Kokon, seelisch labil, unpolitisch, desinteressiert, unfähig zur Teilhabe.
Die Absurdität des Kleinkarierten
Dag Solstad hat diesen Roman bereits vor zwanzig Jahren in Norwegen veröffentlicht, und Singer ist nicht die einzige Hauptfigur in seinem umfangreichen Werk, die ein eigenbrötlerisches und abgewandtes Leben führt. Das Buch "T. Singer" bezieht sich zeitlich auf die 80er Jahre in Norwegen. Der einst im politisch linken Spektrum engagierte Autor hatte wohl zu dieser Zeit ein paar Illusionen verloren. Der von ihm und Gesinnungsgenossen bekämpfte Kapitalismus wucherte ungebremst weiter. Und so kann man das oft wiederholte Wort "Missverständnis" in diesem Roman als Schlüsselbegriff werten. Solstad entwirft hier eine Figur, deren Beziehung zur Gesellschaft aus Missverständnissen besteht und die deshalb den radikalen Rückzug ins Private bevorzugt. Auch das Städtchen Notodden wird in einer großartigen Szene als "ein einziges Missverständnis" vorgeführt. Anfang des 20. Jahrhunderts hegte man in Notodden hochfliegende Pläne. Mitten im Binnenland gelegen, sollte die Stadt wegen einer Düngemittelfabrik eine Schiffsverbindung nach New York erhalten. Das ist zwar im Roman fiktiv ausgeschmückt, für das einst hochfliegende "epochale" Vorhaben gibt es aber eine gewisse historische Grundlage. Gesellschaftlich wie individuell ist es auf unterschiedliche Weise die Absurdität des Kleinkarierten, die Solstad hier aufs Korn nimmt. Dies sprachlich und kompositorisch zu gestalten, ist dem norwegischen Autor glänzend gelungen.
Dag Solstad: "T. Singer"
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger
Dörlemann Verlag, Zürich. 287 Seiten, 22 Euro.