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Das Ende des Grauens 1918 (3/5)
Polen und die Gräber der anderen

Der Erste Weltkrieg im Osten gilt als Wendepunkt auf Polens Weg zu Freiheit und Unabhängigkeit. Auch deswegen kümmert sich ein pensionierter Oberförster aus Masuren schon seit Jahrzehnten um die vielen Soldatengräber in seiner Nachbarschaft.

Von Robert Baag | 07.11.2018
    Russische Soldaten wehren sich gegen den deutschen Vormarsch in der Schlacht von Tannenberg 1914
    Russische Soldaten wehren sich gegen den deutschen Vormarsch in der Schlacht von Tannenberg 1914 (imago)
    Treffpunkt Gittertür. Neben dem hohen, weißen, blumengeschmückten Holzkreuz. Dort, kurz bevor die schmale Kreisstraße nach rechts abbiegt. Der stattliche ältere Herr ist pünktlich. Auf die Minute. Freundlich tippt er an den Schirm seiner blauen Baseball-Kappe:
    "Ich heiße Andrzej Sobotko. Ich wohne in Nidzica. Seit 35 Jahren. Hier war ich mal der zuständige Oberförster. Seit 1946 lebt meine Familie in Ostpreußen. Vier Jahre alt war ich damals. In Olecko bin ich zur Schule gegangen, davor dort in den Kindergarten - ‚Neidenburg‘, so hieß Nidzica früher. ‚Olecko‘, das war mal ‚Treuburg‘."
    Ein Friedhof für russische und deutsche Soldaten
    Nicht erst als Rentner hat ihn dieser Treffpunkt, ein lichtes, hellgrün leuchtendes Lindenwäldchen interessiert. Sobotko tritt zur Seite, gibt den Blick frei: Diese so lauschig anmutende Baumgruppe mit ihren üppigen, sacht rauschenden Wipfeln hat eine klare Funktion. Ihre schmalen Stämme stehen schützend um ein Gräberfeld herum. Eine Hinweistafel klärt auf:
    "Soldatenfriedhof Orlowo (Orlau). Hier liegen 1101 russische und 326 deutsche Soldaten. Gefallen am 23.August 1914."
    "Ich weiß noch: Als ich hier öfters auf dem Weg zu meiner Arbeit vorbeigekommen bin, das muss so 1978 gewesen sein, war nichts davon zu sehen. Alles war zugewachsen, überwuchert. Na ja, das war ja mehr als 50 Jahre nach der Schlacht von Tannenberg, mit den Gefechten hier bei Orlau. Irgendwann dann hat mich einer meiner Förster angesprochen: ‚Chef, ich zeig Ihnen mal was Interessantes. Hier ist ein Friedhof. In diesem Wald liegen etwa anderthalbtausend Menschen.‘"
    Tief in den Wäldern Masurens
    Damals waren noch die Kommunisten an der Macht, nannte sich das Land offiziell "Volksrepublik Polen" und gehörte zum so genannten Ostblock unter politischer Bevormundung durch die Sowjetunion. Das aber war dem Oberförster Sobotko, tief in den Wäldern Masurens, erst einmal egal:
    "Ich hab‘ mir gesagt: Mir wird schon niemand den Kopf abreißen, wenn wir uns ein bisschen um dieses Gräberfeld kümmern. Und dann hab ich einem meiner Förster gesagt: ‚Schnapp Dir ein paar Arbeiter, entfernt das Gestrüpp und legt alles frei. Lasst nur diejenigen Bäume stehen, die offensichtlich mal bewusst angepflanzt worden sind‘. Und dann haben wir diesen deutschen Friedhof eben wiederhergestellt. Und den Kopf abgerissen hat mir deswegen natürlich kein Mensch. Das gab’s so eine Art stillschweigende Übereinkunft. Darüber hat man einfach nicht gesprochen ... Der Wald wächst weiter. Und gut!"
    Und die Kosten? Wer hat das alles denn bezahlt? Jetzt gerät Andrzej Sobotko ein wenig ins Schlingern:
    "Wer das war? - Na, am Ende .... Heute sind das die Gemeinden, die für so etwas aufkommen. Aber, hm, damals, da hatten wir so eine Art ‚schwarze Kasse‘. An der offiziellen Buchführung vorbei. Verdeckt. Bei uns über die Forstverwaltung ist das gegen Ende der Siebzigerjahre auch oft so gelaufen: Die Friedhofsmauer hier, die haben wir gesetzt, das Kreuz aufgestellt, aber irgendwelche Spuren, was das gekostet hat, die werden sie in unserer offiziellen Buchhaltung von damals nicht finden."
    Jüngere Generation engagiert sich
    Längst verjährt sind solche kleine Tricksereien aus realsozialistischen Zeiten. Sobotko schmunzelt kurz und hintergründig. Die Leidenschaft für die Geschichte seiner Heimat Masuren hat dagegen nicht nachgelassen. Eine Menge solcher Grabstätten seien über Nordostpolen verstreut, würden restauriert und gepflegt - übrigens nicht nur von Angehörigen seiner Generation, von Rentnern, sondern auch viele Menschen mit den unterschiedlichsten Berufen, auch die jüngeren Generationen, bis hin zu Schulkindern, engagierten sich, lobt Sobotko.
    Sie alle fänden es wichtig, jenen speziellen Zeitabschnitt zwischen 1914 und 1918 in ihrer Nachbarschaft nicht dem Vergessen preiszugeben. Ein Motiv dafür lasse sich hier, auf dem Soldaten-Friedhof von Orlowo-Orlau, beispielhaft besichtigen:
    "Auf der rechten Seite liegen russische Gefallene in Sammelgräbern, in sogenannten ‚Bruder-Gräbern‘. Auf dem Grabstein steht nur: ‚Unbekannt‘. Auf der linken Seite: Soldaten der deutschen Armee, hauptsächlich einfache Mannschafts-Dienstgrade. In der Mitte des Friedhofs sind die deutschen Offiziere und Unteroffiziere bestattet. Eine Menge polnischer oder eingedeutschter polnischer Familiennamen kann man auf den Steintafeln lesen."
    "Dieser Friedhof ist nichts Abstraktes! Dieser Friedhof ist eine konkrete Spur. Und eine konkrete Lektion. Hier liegen nämlich auch Polen. Polen, die auf beiden Seiten gekämpft haben, als Untertanen des russischen Staates und als Untertanen des deutschen Staates. Sie alle mussten bei diesem Krieg unserer alten Teilungsmächte mitmachen. Aber: Dank dieses Krieges hat Polen seine Freiheit wiedererlangt!"
    Eine Produktion des Deutschlandfunk 2014