Dienstag, 19. März 2024

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Debatte über Kolonialismus
"Jedes Denkmal muss man extra betrachten"

Die Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte sei wichtig, sagte die Historikerin Hedwig Richter. Was den Umgang mit Denkmälern angehe, rate sie aber zur Vorsicht. Jeder Fall müsse einzeln betrachtet werden, sagte sie im Dlf. Richter warb dafür, mehr Geschichte in den Lehrplänen aufzunehmen.

Hedwig Richter im Gespräch Ann-Kathrin Büüsker | 09.07.2020
U-Bahnhof-Schild "Mohrenstraße"
Die Berliner Verkehrsbetriebe wollen den Namen des U-Bahnhofs Mohrenstraße ändern. Auch in Deutschland nehmen die Rufe nach der Umbenennung von Plätzen und Straßen zu. (picture alliance / Bildagentur-online / Schoening)
Plötzlich fehlte Christopher Kolumbus der Kopf: Im Columbus Park in Boston köpften Protestierende die Statue des Weltentdeckers; in Richmond, Virginia, landete gleich ein ganzes Kolumbus-Denkmal in einem See. Täglich kippen andere Statuen, entdecken Demonstrierende, Politikerinnen und Politiker im öffentlichen Raum viele Nachbildungen von Menschen, die sie nicht mehr sehen wollen.

In Antwerpen stürzte der belgische Kolonialherrscher Leopold II., in Bristol der Sklavenhändler Edward Colston. Die Demonstrationen gegen Rassismus werden an diesen Orten zum Bildersturm. In Deutschland ist es dabei noch vergleichsweise ruhig.
Lesen Sie hier das vollständige Interview.

Ann-Kathrin Büüsker: Frau Richter, erleben wir gerade live mit, wie Gesellschaften ihre Geschichte neu verhandeln.
Hedwig Richter: Ja, das sehe ich auf jeden Fall so. Ich empfinde diese ganze Debatte als ein großes Aufklärungsprogramm. Ich finde es ganz toll, dass sie stattfindet, und ich muss auch sagen, dass ich Argumente auf allen Seiten sehe, die sehr, sehr gut sind, die intellektuell interessant sind. Es bewegt sich wirklich was, das sehe ich genauso, und durch einen Austausch von Argumenten kommt man auch wirklich ein Stück vorwärts, denke ich.
Büüsker: Aber ist es denn ein Argument, wenn man Denkmäler stürzt, wenn man Statuen vom Sockel reißt?
Richter: Ja, da finde ich auch wichtig: Es gibt eigentlich in diesen Debatten niemanden, der blind ein Denkmalstürmer ist oder Denkmalstürmerin. Das wird ja manchmal dann von konservativer Seite vorgehalten. Ich sehe doch, dass die meisten auf beiden Seiten sehr differenziert argumentieren, und das würde ich selber auch immer stark machen. Jedes Denkmal muss man extra betrachten, jede Diskussion für jedes Denkmal extra gestalten.
MONTGOMERY, AL - JULY 06: Hank Willis Thomas' 'Raise Up' statue, which depicts contemporary issues of police violence and racially biased criminal justice, stands inside The National Memorial For Peace And Justice in Montgomery, Alabama on July 6, 2018. MANDATORY MENTION OF THE ARTIST UPON PUBLICATION - RESTRICTED TO EDITORIAL USE. (Photo By Raymond Boyd/Getty Images)
US-Historiker: Das Ganze ist nicht nur Geschichte, sondern Gegenwart"
Die USA müssten Reparationszahlungen für die Nachfahren von Sklaven zahlen, sagte US-Historiker Max Friedman im Dlf. Schwarze Familie in den USA, seien massiv benachteiligt worden.
Büüsker: Es gab ja lange Zeit den Spruch, dass Geschichte vor allem von Siegern geschrieben wird. Steht das jetzt in Frage?
Richter: Ja, und das finde ich eine der interessantesten Entwicklungen, die wir ja schon ein bisschen länger beobachten können, und das finde ich überhaupt wichtig. Wenn wir uns als Demokratie verstehen und wenn wir uns auch zum Beispiel an Gedenktagen als demokratische Gemeinschaft feiern, dann finde ich das unwahrscheinlich wichtig, dass wir aufhören, nur dieses oft auch martialische und siegesbewusste Heroische zu betonen, sondern dass wir auch beispielsweise viel, viel stärker zeigen können die problematischen Zeiten.
In Deutschland haben wir das etwa mit dem Holocaust-Denkmal, dass Deutschland da wirklich anerkennt, hier waren die Deutschen die Täter, und dass man damit auch die Opfer ehrt. Ich glaube, dass das ein ganz wichtiger, für Denkmalkultur und Erinnerungskultur ein epochenmachender Umbruch ist, vom Heroischen, auch vom Selbstfeiern zu diesem kritischen Feiern, und ich denke, dass das wirklich angemessen ist für Demokratien.
"Für die Deutschen war es in gewisser Weise einfacher"
Büüsker: Das heißt aber ja auch, dass so eine Auseinandersetzung unter Umständen alte Gewissheiten, alte Gewohnheiten, vielleicht auch das, was man für wahr hielt, in Stücke reißt. Irgendwie auch ein schmerzhafter Prozess dann für eine Gesellschaft.
Richter: Ja, auf jeden Fall. Das würde ich auf jeden Fall sehen. Das war in gewisser Weise für die Deutschen einfacher, weil der Zivilisationsbruch durch den Nationalsozialismus so offensichtlich war. Das war kein Prozess, der ohne Konflikte ablief. Es war nicht so, dass die Bundesrepublik von Anfang an offen war, über die Verbrechen zu reden. Das war auch eine lange Geschichte. Aber das war doch in gewisser Weise für die Deutschen einfacher, weil es offensichtlicher war.
In den USA sehen wir gerade, wie schwierig das ist und für wieviel Widerstände das sorgt. Aber auch in den USA haben wir inzwischen Denkmäler zum Beispiel für das Lynching, für diese schrecklichen Verbrechen an Afroamerikanern, und natürlich die Hinterfragung dieser ganzen fragwürdigen Südstaaten-Kultur, die noch den Bürgerkrieg aus Südstaaten-Zeit feiert.
Einem Denkmal von Christoph Columbus in Boston fehlt der Kopf - Demonstranten gegen Rassismus haben die Statue zerstört.
Philosoph: "Wir brauchen auf jeden Fall Helden"
Wenn man Geschichte von allem säubere, was verdächtig ist, bleibe nicht mehr viel übrig, sagte der Philosoph Dieter Thomä im Dlf.
Büüsker: Wobei die Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte fällt uns ja auch in Deutschland nicht so richtig leicht.
Richter: Ja, das ist ziemlich neu und ich denke auch für viele überraschend. Die Verbrechen, die man auf deutscher Seite sieht, mit dem Nationalsozialismus hat man die bearbeitet. Aber das ist ja etwas, ich finde das auch verständlich, dass das nach und nach hochkommt, und ich finde das absolut begrüßenswert, dass das jetzt durch diese ganzen Diskussionen auf den Tisch kommt.
Man sieht zum Beispiel bei Einträgen in Wikipedia. Da kann man ja sehen, wie oft die aufgerufen werden. Da werden die deutschen Kolonien inzwischen viel, viel öfter aufgerufen oder auch ein Kolonialverbrecher wie der belgische Leopold II. Wir sehen auf der ganzen Ebene, dass das wirklich ein Aufklärungsprogramm ist.
Büüsker: Jetzt setzen wir uns gerade mit dieser Zeit auseinander, fangen damit an, eine Zeit als Monarchie in Deutschland herrschte, als wir Kolonien gegründet haben. Jetzt diese kritische Aufarbeitung, gerade dann, wenn in Berlin ein Schloss gebaut wird, das genau prägend für diese Epoche ist. Das ist ein bisschen widersinnig, oder?
Richter: Ja! Ich finde, dass in diesem Widersinn auch die Möglichkeit steckt, sich damit noch mal ganz neu auseinanderzusetzen. Das Schloss ist ja aus einer Zeit vor der Kolonialzeit, dieses Kreuzfest. Dieses Kreuz wurde 1854 errichtet, bevor Deutschland offiziell Kolonien angekauft hat und als Staat das wirklich in einem größeren Ausmaß hatte. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte, denke ich, kann man durchaus auch durch dieses Berliner Stadtschloss befördern. Es spricht sehr, sehr viel dagegen, aber ich glaube, dass es auch eine Chance ist, sich damit auseinanderzusetzen, und dass letzten Endes das wahrscheinlich bei den Menschen relativ gut ankommt.
Ich sehe da auch eine Parallele zum Beispiel zum Potsdamer Platz, wo die Intellektuellen auch alle entsetzt waren. Alle Menschen mit Geschmack fanden das schrecklich. Und dann wurde das doch sehr, sehr gut angenommen. Ich denke, dass auch das Berliner Schloss, das Humboldt-Forum letzten Endes gut angenommen wird und dass dann zum Beispiel auch diese außereuropäischen Sammlungen endlich mal einem breiteren Publikum zugänglich werden.
"Vorsicht mit der Umbenennung von Denkmälern"
Büüsker: Weil Orte und vielleicht auch Denkmäler ganz konkrete Bezugspunkte sind, anhand von denen wir uns erinnern können?
Richter: Ja, genau! Das finde ich auch. Anhand des Berliner Schlosses kann ja einfach noch mal deutlich werden, erstens natürlich die Öffnung, den Blick öffnen für andere Kulturen, aber zugleich auch den Blick öffnen dafür, dass Deutschland eine Kolonialmacht war, dass es diese Verbrechen begangen hat, dass wahrscheinlich ein großer Teil dieser Güter, die während der Kolonialzeit nach Deutschland kamen, Raubgüter sind, dass wir damit sensibel umgehen müssen, vielleicht auch neue Wege finden müssen. All das wird dadurch ermöglicht.
Demonstranten schieben die Statur von Edward Colston richtung Wasser. 
Historiker: "Koloniale Denkmäler auf den Kopf stellen"
Die Statue des ehemaligen Sklavenhändlers Edward Colston zu stürzen, hält der Historiker Jürgen Zimmerer für richtig. Das gelte allerdings nicht automatisch für alle deutschen Kolonialdenkmäler oder Straßennamen.
Büüsker: Eine Form der Erinnerung, die wir in Deutschland auch ganz intensiv pflegen, ist ja, Plätze nach Personen zu benennen, Straßen nach Personen zu benennen, und auch da gibt es eine intensive Debatte über Umbenennungen. Gerade mit Blick auf die Kolonialzeit wird darüber debattiert, ob man Straßen nicht umbenennen sollte.
Wenn man das tut – und das haben wir ja beispielsweise in Deutschland auch mit Straßen und Plätzen, die nationalsozialistisch geprägte Namen hatten, gemacht -, raubt man diesen Orten dann nicht auch ihren historischen Kontext?
Richter: Ich würde das immer zögerlich und vorsichtig machen, die Umbenennungen, auch was Denkmale betrifft. Auch hier gilt, jeder Fall sollte extra betrachtet werden. Aber ich finde, in einer demokratischen aufgeklärten Gesellschaft spricht überhaupt nichts dagegen, dass man das ab und zu macht.
Sie haben ja schon gesagt, nach dem Nationalsozialismus haben wir das ganz selbstverständlich gemacht. Wir wollen auch keine Stalin-Allee mehr. Es gibt bestimmte Grenzen, da ist ganz, ganz klar, von diesen Menschenschlächtern wollen wir weder Straßennamen, noch Denkmale. Aber dann gibt es auch andere Fälle, wo man sich das dann genauer anschauen muss.
Ich würde auch sagen, da die meisten Innenstädte in Zeiten gebaut wurden, in denen zum Beispiel Frauen in der Öffentlichkeit nicht vorkommen sollten und People of Color erst recht nicht, die haben keine Rolle gespielt, da sind die Straßennamen wirklich nur nach Männern benannt und es spricht einiges dafür, dass wir überlegen, ob wir nicht manche von diesen Straßennamen umbenennen. Das ist ja unser Umfeld und zu einer demokratischen aufklärerischen Gesellschaft gehört ja auch, dass wir unsere Umwelt bewusst gestalten, dass wir Dinge verändern, dass wir vorwärts gehen, dass wir reformieren. Und warum sollte sich das nicht auch an einigen Stellen an Straßennamen ausdrücken.
"Man muss die Geschichte mitbedenken"
Büüsker: Aber dieses bewusste Gestalten, bedeutet das nicht auch, dass man das, was mal war, erhalten muss, um sich damit auseinanderzusetzen? Beispielsweise Dresden, Pegida, die immer auf dem Theaterplatz demonstrieren, der ja früher Adolf-Hitler-Platz hieß, und es gibt viele politische Beobachter, die darauf hinweisen, dass dieser historische Name auch in der Gegenwart eine Bedeutungsebene hat. Müssen wir, wenn wir diese Umbenennungen machen, nicht auf die historische Komponente auch irgendwie hinweisen?
Richter: Doch, das finde ich auch gut. Bei Denkmalen, finde ich, bietet sich das sehr oft an, dass man das Denkmal stehen lässt und damit irgendwie umgeht. Man kann das zum Beispiel vom Sockel holen. In Paraguay gibt es ein sehr schönes Beispiel mit dem Diktator Alfredo Stroessner, dass der zwischen zwei Betonklötze eingequetscht wurde. Oder man kann auch eine Aufklärungstafel daneben stellen. Das finde ich bei Denkmälern ganz wichtig.
Aber ich finde auch immer entscheidend, dass man die Geschichte mit bedenkt. Auch beim Schloss, denke ich, wird es immer aufmerksame Beobachterinnen und Beobachter geben, die daran erinnern, was zuvor dort stand, dass da in relativ kurzer Zeit dieser Palast der Republik stand, davor eine ziemlich lange Zeit Wüste war, dass dieses Schloss abgerissen wurde von der SED-Diktatur und so weiter. Das finde ich auf jeden Fall auch ganz wichtig, das mitzubedenken.
Die Historikerin Hedwig Richter steht hinter einem Rednerpult.
Die Historikerin Hedwig Richter (HIS/ Fabian Hammerl)
"Ich würde natürlich niemals ein Kant-Denkmal stürzen wollen"
Büüsker: Das heißt: Ziel der gesellschaftlichen Debatte sollte dann aus Ihrer Sicht eigentlich sein, die Geschichte derjenigen zu schreiben, die gewonnen haben, aber auch die Geschichte derjenigen sichtbar zu machen, die verloren haben?
Richter: Ich denke, wir sollten Geschichte oder wir müssen heute Geschichte gar nicht mehr in Sieger und Verlierer einteilen. Wir können Geschichte auch sehen je nachdem, als Geschichte der Mehrheitsgesellschaft, die Täter war und Täterin. Das ist Deutschland, wenn wir Holocaust-Gedenken haben oder auch im Kolonialismus. Und, dass wir dann auch sehr, sehr stark der Opfer gedenken. Da kommen wir mit den Kategorien Sieger und Besiegte gar nicht mehr weiter und das finde ich einen totalen Fortschritt, dass wir das hinter uns lassen können, dass wir diese heroischen Geschichten eigentlich nicht mehr brauchen.
Büüsker: Im Prinzip dann vielleicht auch Personen - jetzt im Zuge der Rassismus-Debatte hat sich ja die Aufmerksamkeit auch auf Immanuel Kant zum Beispiel gelegt, wo auch rassistische Aspekte seines Werkes thematisiert wurden – dann nicht nur als Helden begreifen, sondern auch die Graustufen von Persönlichkeiten und von Geschichte sichtbar machen?
Richter: Ja, genau! Auch bei Bismarck ist das so. Ich würde auf keinen Fall ein Bismarck-Denkmal stürzen wollen. Ich wüsste jetzt auch niemanden, der das machen will. Auch natürlich niemals ein Kant-Denkmal stürzen. Wer sich bisher mit Bismarck und Kant beschäftigt hat, dem war das ohnehin klar, dass das ambivalente Figuren waren. Großartig ist jetzt, dass das sehr stark in eine breite Öffentlichkeit kommt, dass jetzt viel deutlicher wird, dass auch so eine Figur wie Kant natürlich problematische Seiten hat. Das ist ja gar nichts Neues, aber das wird jetzt viel breiter in der Öffentlichkeit diskutiert.
Büüsker: Sehen Sie aktuell auch einen größeren Wunsch in der Gesellschaft, sich mit Geschichte auseinanderzusetzen und daraus zu lernen?
Richter: Ja, das sehe ich auf jeden Fall. Es wird auch einfach sehr, sehr viel in den Zeitungen darüber berichtet und ich finde das unwahrscheinlich positiv. Ich hoffe auch, dass es ein Anstoß ist für diejenigen, die Lehrpläne machen, dass sie dort mehr Geschichte reinbringen. Dort fehlt es ja nicht nur an der Kolonialismus-Geschichte, was jetzt sehr, sehr deutlich wurde. Wir müssen auf jeden Fall in der Schule mehr darüber lernen.
Es fehlt ja auch immer noch sehr stark daran, dass wir mehr über die DDR lernen beispielsweise, dass die Schülerinnen und Schüler mehr darüber lernen. Es wird oft behauptet, es würde viel zu viel Nationalsozialismus gemacht; das sehe ich überhaupt nicht. In vielen entscheidenden Fragen wissen viele junge Menschen sehr, sehr wenig, was beispielsweise den Holocaust betrifft.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.