Donnerstag, 18. April 2024

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"Die Spaltung der Gesellschaft wird vorangetrieben"

Laut Günter Piening herrscht angesichts der Integrationsdebatte bei den Einwanderern "das blanke Entsetzen". Positionen, die bisher nur an den Rändern des demokratischen Spektrums vertreten waren, würden "in die Mitte geschoben".

Günter Piening im Gespräch mit Gerd Breker | 19.10.2010
    Gerd Breker: Bundespräsident Christian Wulff ist heute zum Auftakt seiner Türkei-Reise offiziell von Staatspräsident Abdullah Gül mit militärischen Ehren empfangen worden. Die beiden Präsidenten und ihre Ehefrauen schritten die Ehrenformation vor dem Präsidentenpalais in der türkischen Hauptstadt Ankara ab. Es war übrigens das erste Mal seit dem Amtsantritt Güls vor drei Jahren, dass auch die Präsidentengattin beim Empfang eines Staatsgastes mit militärischen Ehren die Ehrengarde abschritten. Nach einem Gespräch, was die beiden Staatschefs derzeit führen, wollen sie vor die Presse treten. Der Besuch des Bundespräsidenten in der Türkei findet vor dem Hintergrund einer seltsamen Integrationsdebatte hierzulande statt. Einerseits ist aus dem Einwanderungsland Deutschland ein Auswanderungsland geworden, andererseits braucht die Wirtschaft Fachkräfte aus dem Ausland; einerseits wird über Integrationsunwilligkeit geklagt, andererseits werden Mittel für die Integration gekürzt. Also aus vielen einzelnen Komponenten wird von manch einem ein Brei gerührt, der Richtiges und Falsches vermischt und Emotionen schürt. Wie auch immer: Die Integration ist ein Thema hierzulande. Am Telefon bin ich nun verbunden mit Günter Piening, Beauftragter für Integration und Migration in Berlin. Guten Tag, Herr Piening.

    Günter Piening: Guten Tag.

    Breker: Dass nun so viel über Integration geredet wird, Herr Piening, das müsste Sie eigentlich von Amtswegen erfreuen?

    Piening: Meine Freude hält sich in Grenzen, mein Entsetzen steigt aber von Woche zu Woche, denn wir reden ja seit Jahren über Integration, wir machen auch eine Menge. Nun ist die Debatte in eine Schieflage geraten, die zunehmend also auch nicht mehr nur Kolateralschaden hinterlässt, sondern die wirklich großen Schaden anrichtet. Es geht hier ja nicht um die Frage, Probleme zu lösen. Da kann jeder mitreden. Es geht hier darum, eine klare Trennung aufzubauen zwischen denen, die dazugehören, die nicht dazugehören. Dieses gemeinsame Wir, wo wir schon mal waren, wird infrage gestellt. Ich glaube, am besten kann man die Schieflage daran klar machen an dem Satz des Bundespräsidenten, der Islam gehöre zu Deutschland. Da ist er ja aus der eigenen Partei niedergemacht worden. Als vor fünf Jahren Herr Schäuble das Gleiche sagte, gab es in der Partei eine leichte Unruhe. Ich glaube, das zeigt, dass wir zurzeit einwanderungspolitisch und integrationspolitisch eher bei einem Rollback sind statt bei einem Schritt nach vorne.

    Breker: Sie sind ja, Herr Piening, sozusagen ein Mann der Praxis. Lassen Sie uns doch mal konkret werden. Es gibt doch durchaus das Phänomen der Integrationsunwilligkeit. Kann man das eigentlich für Ihren Bereich Berlin einschätzen, wie hoch der Anteil der Integrationsunwilligen tatsächlich ist?

    Piening: Es hat mir noch keiner eine genaue Definition genannt, was das denn heißt. Ich glaube, wir haben Distanzen und Entfernungen in verschiedenen Bereichen. Häufig wird ja das Datum angebracht, wer verweigert, wer geht nicht, wer bricht Integrationskurse ab. Wir haben da wenig Zahlen. Das ist schon mal ein Problem, dass die Bundesregierung zwar permanent was behauptet, aber wir als Länder entsprechende Daten nicht bekommen. Was wir haben ist einige Schlaglichter bezüglich der Integrationskurse. So hat die Bundesregierung selbst mal in einer kleinen Anfrage gesagt, dass zwischen 2005 und 2007 bis auf sechs Prozent aller zur Teilnahme an Integrationskursen verpflichteten türkischen Neuzuwanderinnen und Neuzuwanderer, also die Gruppe, die nach Ansicht von Herrn Seehofer besonders integrationsrelevant ist, nicht daran teilnehmen, sechs Prozent von 100 Prozent. Über die Gründe ist noch nichts gesagt. Das kann Schwangerschaft sein, Erkrankung, oder was weiß ich. Wir sehen auch in Berlin, dass die Zahlen derer, die nicht an den Kursen teilnehmen, obwohl sie verpflichtet sind, im unteren einstelligen Bereich liegen. Aber Sie haben es ja in Ihrer Anmoderation schon gesagt! Die Situation ist ja verrückt. Auf der einen Seite schickt die Bundesregierung Integrationskurswillige auf monatelange Wartelisten, weil sie die Kurse nicht bezahlt, weil das Geld nicht reicht, und auf der anderen Seite reden sie von Integrationsunwilligkeit als vorrangiges Problem. Auch hier zeigt sich wieder, wie merkwürdig die Debatte zurzeit läuft.

    Breker: Die Situation in Berlin, Herr Piening, ist da bei Zuwanderung und bei Abwanderung spürbar Bewegung in der Szene?

    Piening: Sie hält sich seit Jahren etwa in der Waage, Zuwanderung und Abwanderung. Was wir in den letzten Jahren merken – und dieses wird sicherlich durch die Diskussion in den letzten Monaten verstärkt werden -, wir haben eine starke Abwanderung von türkischstämmigen Akademikern, die nach Istanbul gehen. Dort sind die Jobchancen besser. Aber Befragungen zeigen auch, dieses Gefühl, nie dazuzugehören, egal was erreicht wird, hier nicht angenommen zu werden mit seinen Leistungen, das trägt erheblich dazu bei, dass diese Rückkehr von gut Qualifizierten zunehmend an Bedeutung gewinnt.

    Breker: Sie haben es gerade schon angedeutet, Herr Piening. Die jetzige Diskussion, was bewirkt die eigentlich? Hat die was verändert, oder muss man erkennen, dass sie deutlich an der Wirklichkeit vorbeigeht?

    Piening: Man kann sagen, in den Einwanderer-Communities herrscht das blanke Entsetzen. Man kann nicht fassen, was Deutschland hier diskutiert. Mich sprechen Leute an und sagen, es kann doch nicht sein, dass die Deutschen so abwertend über uns denken. Jeder berichtet, dass er seinen Arbeitskumpel jetzt ganz anders anschaut. Fassungslosigkeit ist, glaube ich, der richtige Punkt und das werden die Folgen der Debatten sein: die Spaltung der Gesellschaft in Wir und die Einwanderer wird vorangetrieben. Anstatt Brücken zu bauen, werden Positionen, die bisher nur an den Rändern vertreten waren, in die Mitte geschoben. Ich möchte auch noch einen Aspekt betonen, den sich die Kanzlerin auch leider jetzt zu eigen gemacht hat: die Betonung des Christentums als Leitkultur, auf die sich die Einwanderer einlassen müssen. Das ist ein bisher noch nicht erlebtes Rollback auch und eine klare Abkehr von der Verfassung, die ja Gleichheit der Bürger, Unabhängigkeit der Herkunft und Religion zur Grundlage des Zusammenlebens macht. Wenn ich einem Einwanderer aus einem muslimischen Land sage, das Christentum ist unsere Leitkultur, soll der dann konvertieren? Das heißt, wir haben zurzeit einen Prozess, der das Vertrauen zerstört, dass man als Einwanderer in Deutschland gleichberechtigter Deutscher ist, wenn man Steuern zahlt, den deutschen Pass hat und die Gesetze achtet. Dieses Fundament der Integrationspolitik, dieses perspektivische Fundament wird zurzeit systematisch zerstört, und das werden die Langzeitfolgen dieser Debatte sein.

    Breker: Im Deutschlandfunk war das die Meinung von Günter Piening, er ist Beauftragter für Integration und Migration in Berlin. Herr Piening, vielen Dank für dieses Gespräch.