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"Die Staatsreform wird unvermeidlich sein"

Nach 246 Tagen des stetigen Bemühens um eine Regierungsbildung sei bei ihm die Zuversicht deutlich zurückgegangen, sagt Rudi Schröder vom Belgischen Rundfunk. Belgien sei ein kompliziertes Gebilde, bei dem es weniger um den Sprachenstreit zwischen Flamen und Wallonen als um wirtschaftliche Differenzen gehe.

Rudi Schröder im Gespräch mit Jasper Barenberg | 15.02.2011
    Jasper Barenberg: Dass es in Belgien oft lange dauert, bis nach Wahlen eine neue Regierung ihre Arbeit aufnimmt, ist dort eine alte Erfahrung. So kompliziert und so zäh wie jetzt aber war es noch lange nicht, eigentlich noch nie. Auch acht Monate nach den vorgezogenen Parlamentswahlen führt immer noch die abgewählte Regierung die Geschäfte. Sollten sich die Gespräche für eine neue noch bis Ende März hinziehen, dann würde Belgien den Weltrekord brechen. Den hält derzeit der Irak mit 289 Tagen ohne Regierung. Ein Ausweg aus der Krise ist nicht in Sicht, zu sehr unterscheiden sich die Vorstellungen der flämischen Wahlsieger im Norden von denen der Frankophonen im Süden. Steht das Land vor der Teilung? – Das habe ich vor der Sendung Rudi Schröder gefragt, den Chefredakteur des Belgischen Rundfunks BRF im deutschsprachigen Landesteil.

    Rudi Schröder: Dieses Thema wird ernsthafter denn je diskutiert, weil man natürlich feststellt, dass die Parteien, die Flamen und die Wallonen, nicht wirklich zusammenfinden. Das hat aber nichts mehr mit dem ursprünglich existenziellen und wichtigen Sprachenstreit zwischen Flamen und Wallonen zu tun; das hat in erster Linie wirtschaftliche Gründe, rein monetäre Gründe. Da geht es um Steueraufkommen, um Steuereinnahmen, da geht es um Zuständigkeiten, da geht es um die Frage, wie ist dieser hoch komplexe, sehr schwierige Staat künftig zu gestalten. Es ist ja ein Staat, der aus Gemeinschaften, aus Regionen, aus Provinzen besteht, und eben darüber als Überbau sozusagen der Bundesstaat. Das ist außerhalb von Belgien kaum jemandem zu erklären. Also Belgien ist eine sehr komplexe, sehr komplizierte Angelegenheit, und in der Tat geht es jetzt natürlich darum, dass die Akteure, die eine große Lippe riskiert haben und ihren Wählern eine Menge versprochen haben, dass sie auch dabei bleiben, einfach der Glaubwürdigkeit wegen.

    Barenberg: Lässt sich denn der Konflikt auf eine einfache Formel insofern bringen, als es schon darum geht, dass die flämischen Nationalisten, kann man fast schon sagen, von Bart de Wever im Norden und dass die frankophonen Sozialisten im Süden ganz unterschiedliche Auffassungen darüber haben, wie der belgische Staat in Zukunft konstruiert sein soll?

    Schröder: Das ist sicherlich richtig so. Die NWA oder NVA unter Bart de Wever hat ja ganz klar definiert für sich, was sie von der Zukunft des Landes hält, nämlich gar nichts. Es ist nach ihrer Auffassung klar, dass es Belgien in 20 oder 30 Jahren nicht mehr geben wird, und das ist auch das erklärte Ziel dieser Partei. Insofern muss man sich natürlich schon Sorgen machen, wenn man sieht, dass Bart de Wever bei all diesen Verhandlungsrunden eine ganz wichtige Rolle spielt.
    Das sieht man auf frankophoner Seite ganz anders. Die Frankophonen sind deutlich königstreuer, als es die Flamen sind. Den Frankophonen ist natürlich auch aus Eigennutz sehr viel mehr daran gelegen, dass das Land zusammenbleibt. Also da gibt es zwei völlig unterschiedliche Ausgangslagen. Hinzu kommt, dass die Flamen natürlich sehr viel mehr Einnahmen beanspruchen. Sie sagen, wir geben immer seit vielen Jahrzehnten inzwischen viel mehr Geld in die gemeinsame Staatskasse, als es die Wallonen tun, die natürlich wirtschaftlich deutlich notleidender sind als die Flamen.

    Barenberg: Ist das insofern auch ein Konflikt zwischen dem wohlhabenderen Flandern und dem ärmeren Wallonien?

    Schröder: Das ist eindeutig mit Ja zu beantworten. Das war seinerzeit einmal anders, als es in Wallonien noch die florierende Stahlindustrie gab, die ja im Laufe der letzten Jahrzehnte den Bach hinuntergegangen ist. Zu dieser Zeit hat Wallonien Flandern mit durchgefüttert, und das ist das Hauptargument, das die Wallonen immer wieder anführen und sagen, die Zeiten ändern sich, früher waren wir für die Flamen da und jetzt sehen wir nicht ein, dass Flandern nicht seinen Beitrag leistet auch zu unseren Gunsten.

    Barenberg: Nun ist ja Belgien – Sie haben das ja im Einzelnen beschrieben – lange schon kein Zentralstaat mehr, sondern ein sehr komplexes Gebilde, verschiedene Regierungen in den verschiedenen Landesteilen mit einer überbürdenden Regierung auf nationaler Ebene. Braucht es denn jetzt noch eine weitere Staatsreform?

    Schröder: Die Staatsreform wird unvermeidlich sein. Es gab Stimmen, die sagten, es wird wahrscheinlich auf eine Konföderation hinauslaufen. Inzwischen gehen aber die meisten Beobachter, die meisten Experten davon aus, dass es auf einen Bundesstaat hinausläuft mit vier Teilstaaten, mit vier Bundesstaaten, mit Wallonien, Flandern, Brüssel-Hauptstadt und der kleinen deutschsprachigen Gemeinschaft, in der 70.000 deutschsprachige Belgier leben, die dann dieselben Zuständigkeiten, dieselben Kompetenzen erhalten würde wie die anderen drei großen Gemeinschaften. Darauf wird es hinauslaufen. Die Frage ist nur, wie viele Zuständigkeiten erhalten dann diese Gemeinschaften beziehungsweise Regionen in Zukunft und was bleibt dem Bundesstaat Belgien dann noch.

    Barenberg: Nun gibt es keine Einigung seit Monaten. Wie zuversichtlich sind Sie, dass es in nächster Zeit dann eine Einigung geben wird und also auch eine neue Regierung in Belgien?

    Schröder: Also nach 246 Tagen des stetigen Bemühens, eine neue Regierung auf die Beine zu bringen, ist bei mir der Optimismus, ist die Zuversicht deutlich zurückgegangen.

    Barenberg: Rudi Schröder, der Chefredakteur des Belgischen Rundfunks BRF im deutschsprachigen Landesteil, über die politische Dauerkrise in Belgien.