Dienstag, 23. April 2024

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Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission
"Wenn der Populismus wächst, wird er Europa zerstören"

Der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, betrachtet mit Sorge, dass EU-Skepsis und nationaler Populismus in vielen Mitgliedstaaten wachsen. "Wenn es nicht gelingt, Europa wieder in die Herzen der Leute zu bekommen, dann wird es scheitern", sagte er im DLF. In Bezug auf das umstrittene Flüchtlingsabkommen mit der Türkei forderte er mehr Fairness gegenüber Ankara.

Frans Timmermans im Gespräch mit Annette Riedel | 01.05.2016
    Der stellvertretende Vorsitzende der EU-Kommission, Frans Timmermans, redet im Europäischen Parlament in Brüssel.
    Der stellvertretende Vorsitzende der EU-Kommission, Frans Timmermans, im Europäischen Parlament in Brüssel. (dpa / Laurent Dubrule)
    Annette Riedel: Herr Timmermans, als diese EU-Kommission vor noch nicht ganz zwei Jahren ihre Geschäfte aufnahm, da sagte EU-Kommissionspräsident Juncker – der Sie schon als rechte und linke Hand von sich selbst bezeichnet hat –, dass das die Kommission der letzten Chance sei, angesichts des wachsenden Euroskeptizismus unter den EU-Bürgern. Wenn man sich den Zustand der EU heute anguckt, ist man ein bisschen erinnert an den ironischen Spruch: Wir haben keine Chance, lass sie uns nutzen. Wie würden Sie den Zustand der Union heute qualifizieren? Wie nutzt sie ihre Chancen?
    Frans Timmermans: Ich glaube, wenn man so sieht, was wir gemacht haben seit November 2014, dann sind wir von Krise zu Krise gegangen. Wir haben nur Krisen gehabt. Also, wir müssen versuchen, in dieser sehr schwierigen Lage – zuerst die Wirtschaftskrise und Griechenland und jetzt die Flüchtlingskrise, Terrorismus und so weiter –, in dieser Lage müssen wir versuchen, die Europäer zusammen zu halten.
    Riedel: Sie haben schon verschiedene Punkte angesprochen. Der "Spalt-Pilz" sozusagen, hockt an verschiedenen Stellen. Einmal die Flüchtlingskrise – klar –, auch mit den Folgen für die Bewegungsfreiheit von Bürgern und für den Zusammenhalt zwischen den EU-Staaten. Wir haben die Wirtschaftskrise, die nicht überstanden ist; Griechenland schrammt gerade zum x-ten Mal am Staatsbankrott vorbei: Wir haben einen möglichen Brexit – also den Austritt eines wichtigen EU-Landes aus der EU. Die Anti-EU-Ressentiments wachsen weiter, zum Teil bis in die Regierungen hinein – siehe Präsidentenwahlen in Österreich vor ein paar Tagen. War es vielleicht vor diesem Hintergrund fast fahrlässig, so eine Art "Endgame" bis 2019 zu beschwören und zu sagen: 'Letzte Chance, now oder gar nicht mehr'?
    "Wir müssen gemeinsame Lösungen finden für gemeinsame Probleme"
    Timmermans: Wir müssen zeigen, dass die Vorschläge, die die Kommission macht, dazu dienen, dass wir gemeinsame Lösungen finden für gemeinsame Probleme – so einfach ist es eigentlich. Und ich würde sagen, dass bei den ganz großen Fragen der Welt, die Europäische Union besser als eine Organisation auftreten kann und nicht diese Illusion, dass man das national alles lösen kann. Ich habe noch keine Beweise dafür gesehen, dass das auch stimmt.
    Riedel: Und trotzdem ist der Eindruck, der nach außen entsteht, offenbar so desolat, dass selbst der amerikanische Präsident Obama, der im Übrigen ja nicht als der große Liebhaber der EU bekannt geworden ist, sich genötigt gefühlt hat, jetzt in Europa zu sagen: 'Passt auf, dass ihr euer schönes Projekt nicht kaputtspielt'.
    Timmermans: Schön, dass er das gemacht hat, aber eigentlich schade, dass es notwendig war, dass ein amerikanischer Präsident das sagt. Ich meine aber, dass es auch viele wichtige Politiker gibt in Europa, die sich deutlich zu Europa bekennen. So wie auch die Bundeskanzlerin, so wie auch der französische Staatspräsident und natürlich auch – interessanterweise – der englische Premierminister, der sich auch zu Europa bekennt.
    Riedel: Aber gerade wenn man sich die Bundeskanzlerin anschaut und auch den französischen Präsidenten, die "europäischen Bekenner" sozusagen - die sind ja alle beide nicht unbedingt gerade in der mächtigsten Position mehr innerhalb der EU und zu Hause schon gar nicht, also, die haben ja an Einfluss und Zustimmung verloren.
    "Merkel hat den Mut, auch langfristig nachzudenken"
    Timmermans: Es ist natürlich so, dass in allen Mitgliedstaaten in ganz Europa die Leute sehen: Dieses Europa muss dazu bereit sein, diese vierte industrielle Revolution auch mitzumachen. Und das führt dazu, dass wir vieles ändern müssen. Und Leute haben nicht das Gefühl, dass das, was sich ändert, auch zu einer Verbesserung führt. Bei dieser Arbeitslosigkeit, insbesondere Jugendarbeitslosigkeit und so weiter, haben die Leute das Gefühl: 'Leute, habt ihr eigentlich noch im Griff, was da alles passiert?' Und wir müssen zeigen, mit Resultanten, dass wir im Stande sind, auch Antworten zu finden.
    Riedel: Würden Sie der Analyse zustimmen, dass die beiden wichtigen Führungsfiguren – die deutsche Kanzlerin, der französische Präsident – an Einfluss verloren haben?
    Timmermans: Ich glaube nicht. Ich glaube, dass die Herausforderungen zu Hause für jeden, der jetzt Regierungen führt, sehr, sehr groß sind – das ist in allen Mitgliedstaaten so. Ich muss sagen, die Kanzlerin, die hat den Mut, auch langfristig nachzudenken. Und ich glaube, wir als Europäische Kommission sind davon doch begeistert, dass sie diesen Mut hat und dass sie damit auch ganz Europa auf eine Spur setzen kann, die für unsere Zukunft sehr wichtig ist.
    Riedel: Nun hat sich die Europäische Kommission bisher ganz gut aus der Affäre ziehen können in diesen Krisen, indem sie – da, wo sie zuständig ist – eine Menge Dinge vorgelegt hat, wofür sie auch den Applaus zumindest des Europäischen Parlamentes bekommen hat, wo sie auch sagen kann: 'Wir handeln' – und doch ist viel von dem, was angestoßen oder beschlossen worden ist, nicht umgesetzt. Da drängt sich einem das Gefühl auf, dass irgendwas in dem Zusammenspiel der Institutionen in der Europäischen Union nicht funktioniert?
    "Die Bürger wollen Resultate sehen"
    Timmermans: Es wäre leicht für mich zu sagen: 'Aber unsere Vorschläge waren so gut, der Rat hätte diese Vorschläge übernehmen müssen' und so weiter.
    Riedel: Das tut die Kommission schon auch gerne.
    Timmermans: Was habe ich davon? Wenn es nicht klappt, scheitern wir doch alle. Ich scheitere dann doch auch als Kommission, wenn es uns nicht gelingt, das auch in der Tat umzusetzen. Bürgerinnen und Bürger macht es doch nichts aus, ob etwas vorgeschlagen ist oder nicht. Die wollen Resultate sehen. Und wenn es uns nicht gelingt, dann ist Europa schuld daran, dass es uns nicht gelingt und warum sollte ich dann sagen: 'Das ist die Schuld der Mitgliedstaaten'? Damit kann eine Bürgerin oder ein Bürger doch nichts anfangen.
    Riedel: Das nächste dicke Brett, was Sie bohren werden – das nächste Gesetzesvorhaben der EU-Kommission soll in den nächsten Tagen auf den Tisch kommen – betritt die Reform des Asylrechts.
    Timmermans: Ja.
    Riedel: Es geht um die Reform des Dublin-Systems, wonach bisher ja die Zuständigkeiten für einen Asylbewerber immer da liegen, wo er zuerst europäischen Boden betritt.
    "Dublin hat gut funktioniert in den alten Verhältnissen"
    Timmermans: Ja.
    Riedel: Jetzt hat die EU-Kommission vor ein paar Wochen, sozusagen als Denkanstoß, schon mal ein paar Ideen eingespeist, will die Reaktion im endgültigen Gesetzentwurf mit einpreisen. Zwei Optionen haben Sie zur Diskussion gestellt. Die eine, es bleibt im Grunde, wie es war – ein bisschen mehr Kontrolle, ein bisschen mehr Hilfe für die Belasteten, plus einem "Fairness-Mechanismus", wenn ein Land besonders stark belastet ist. Die zweite Option würde sehr viel weiter gehen, ginge mehr in Richtung Harmonisierung des Asylrechts und hätte einen ständigen Verteilungsmechanismus. Worauf hat sich die EU-Kommission jetzt eingelassen, auf welche der Optionen? Was werden Sie vorschlagen?
    Timmermans: Darüber müssen wir noch reden bis Mittwoch. Aber was ich schon sagen kann ist: Wissen Sie, Dublin hat gut funktioniert in alten Verhältnissen, aber in dieser Lage, wo es einzelne Mitgliedstaaten gibt, die dann überfordert werden, weil so viele gleichzeitig ankommen, dann brauchen wir ein System der Solidarität, wir brauchen eine Umverteilung über die Mitgliedstaaten. Ich glaube, logischerweise, würde man sagen: Es muss ein ganz integriertes Asyl-System sein. Ob uns das auch politisch gelingt, das hängt davon ab, wie viel Unterstützung wir von den Mitgliedstaaten bekommen. Ich habe lieber etwas, das sich tatsächlich ändert, obwohl ich eine andere Lösung besser finde, als dass ich mit meiner perfekten Lösung komme, die dann aber nicht umgesetzt wird.
    Riedel: Also lassen Sie mich raten: Es wird die kleine Lösung werden, es wird Dublin plus werden und ...
    "Wir werden ein System finden, das automatisch zur Solidarität führt"
    Timmermans: Nein, das würde ich so nicht sagen. Ich glaube, wir werden ein System finden, das doch mehr oder weniger automatisch zur Solidarität führt. Und ich sagen "mehr oder weniger" – darüber müssen wir jetzt noch reden in den nächsten Tagen.
    Riedel: Auf alle Fälle, ob nun die größere, stärker in Harmonisierung gehende Lösung auf den Tisch kommt oder die kleinere Dublin Plus auf den Tisch kommt – es wird wieder dieses Element "Verteilung" auftauchen.
    Timmermans: Ja.
    Riedel: Und da hakt es ja schon bei den aktuellen Beschlüssen massiv. Also, wenn Sie sagen: "Wir wollen politisch etwas erreichen", dann haben Sie genau das, was aus Ihrer Sicht – soweit man sie kennt – ein Kernpunkt ist – Fairness, Solidarität und so weiter ...
    Timmermans: Ja, aber Sie müssen auch wissen, dass die Länder, die da nicht mitmischen wollten, die haben sich immer darüber beschwert, dass wir nicht gut genug unsere Außengrenze verteidigen und schützen. Wenn es aber auch Vorschläge gibt, die dazu führen, dass wir tatsächlich unsere Außengrenze gut schützen, dann glaube ich, wird es auch eine andere Haltung der Länder geben, die sich bis jetzt gegen eine Umverteilung gewehrt haben. Ich habe zum Beispiel gesehen, dass der ungarische Ministerpräsident Orbán wieder mal nach einem besseren Außengrenzschutz gefragt hat. Und ich glaube, wir müssen dafür sorgen, dass er diesen Schutz auch bekommt.
    Riedel: Ja, aber er hat in seinem Zehn-Punkte-Plan – wenn Sie ihn schon ansprechen, den ungarischen Ministerpräsidenten – auch gesagt: Erstens, Asylverfahren außerhalb der EU, im Zweifel in der Region oder in den Regionen, in Transitländer/Herkunftsländer abwickeln und egal, was ihr mit denen dann macht – wenn sie kommen: Zu uns nicht!
    "Wir müssten dafür sorgen, dass diese Leute dort bleiben, wo sie herkommen"
    Timmermans: Na, wir müssen mal sehen, ob das auch so bleibt. Wenn wir in der Lage sind, auch unsere Grenzen gut zu schützen, dann muss auch diese Umverteilung eine Möglichkeit sei. Und ich glaube, es gelingt uns, alle Mitgliedstaaten davon zu überzeugen.
    Riedel: Nicht nur Orbán, sondern auch der italienische Regierungschef Renzi, mit seinem komplexen Plan für die Migrationspolitik ...
    Timmermans: Sieht aber gut aus, dieser Plan.
    Riedel: "Der sieht gut aus" – okay, Sie finden ihn gut ...
    Timmermans: Ja.
    Riedel: Er hat ein Element, was dann wieder letztendlich zu Orbáns Ideen passen würde, nämlich, dass man sehr viel mehr außerhalb der Europäischen Union machen sollte.
    Timmermans: Ja, aus italienischer Sicht verstehe ich das auch. Die haben viele Migranten, die kommen an aus Afrika, aus aller Welt. Das sind im Prinzip keine Asylanten, aber die kommen doch. Das heißt, dass wir dafür sorgen müssten, dass diese Leute lieber dort bleiben, wo sie herkommen, dass sie dort eine Zukunft aufbauen können. Dazu brauchen wir Entwicklung; dazu brauchen wir Abkommen mit diesen Drittstaaten.
    Riedel: Brauchen wir dann auch Schutzzonen in Syrien oder ‚Hotspots‘, also Aufnahmezentren, in Nigeria, im Sudan, perspektivisch in Libyen?
    "Wir werden noch viele, viele Schwierigkeiten haben"
    Timmermans: Wir werden mit all diesen Ländern zusammenarbeiten müssen. Eines müssen wir verstehen: Dieses Problem geht nicht weg, dieses Problem geht auch nicht weg mit einem Abkommen mit der Türkei. Dieses Problem ist ein globales Problem. Wir werden noch viele, viele Schwierigkeiten mit diesen Fragen haben. Unserem Interesse ist damit gedient, dass wir dafür sorgen, dass es Entwicklung gibt in den Ländern, wo die Leute jetzt herkommen, dass es dort keinen Krieg gibt, dass es dort Möglichkeiten gibt. Es sind Länder mit sehr, sehr vielen jungen Leuten, die wollen eine bessere Zukunft. Und wir müssen dafür sorgen, dass diese Zukunft in diesen Regionen besser wird und nicht nur, dass die Leute denken: "Wir können nur überleben, wenn wir nach Europa ziehen."
    Riedel: Nun ist Zukunft nicht etwas, was man bestellen kann und dann findet das in eineinhalb Tagen statt.
    Timmermans: Nein. Genau.
    Riedel: Das sind also langfristige Dinge, Entwicklung beispielsweise. Kurzfristig geht es ja der Europäischen Union nicht nur aus humanitären Gründen, sondern um des Selbsterhaltens willen darum, dass nicht so viele mehr nach Europa kommen. Und dann wird es schwierig, wenn man sagt: Wir wollen mit anderen Ländern zusammenarbeiten, auch mit den nicht so freundlichen, netten dieser Welt – mit Sudan, Eritrea, perspektivisch Libyen.
    Timmermans: Ja, das ist immer schwierig. Geopolitik kann man nicht immer hundertprozentig mit unseren moralischen Vorstellungen zusammenbringen, da muss man auch ganz ehrlich sein. Und ich finde trotzdem, dass wir versuchen müssen, mit all diesen Ländern auch zu vernünftigen Regelungen zu kommen.
    Riedel: Aber wie viel Prozent Moral brauchen wir? Nehmen wir das Beispiel Libyen.
    "Ohne Abkommen mit anderen Ländern würden wir das nicht schaffen"
    Timmermans: Sie glauben, wir können das mathematisch ausrechnen? Das geht leider nicht.
    Riedel: Nein, aber man kann schon, glaube ich, sich dem annähern, was man wirklich erwarten können muss.
    Timmermans: Ja, genau.
    Riedel: Die Bundeskanzlerin hat in Bezug auf Libyen beispielsweise gesagt, tendenziell würde sie sich Ähnliches, Maßgeschneidertes vorstellen können wie mit der Türkei.
    Timmermans: Ja.
    Riedel: Jetzt sagen wir mal, es gibt diese Einheitsregierung irgendwann in Libyen und sagen wir, die sagt beispielsweise: Ja, wir hätten gerne eure "Operation Sophia" – die Aktion der EU im Mittelmeer, um Flüchtlinge zu retten, aber auch um robust die Schleuser zu bekämpfen –, wir hätten euch gerne bis an unsere Küsten heran. Sollte die EU darauf eingehen, wenn doch zu den 100 Prozent nicht nur eine funktionierende Regierung, sondern auch ein funktionierender Rechtsstaat, ein ordentliches Justizsystem, was dann Schleuser beispielsweise vor Gericht stellen könnte – im Lande selbst – und auch eine gesicherte Wiederaufnahme der Menschen bedeuten würde?
    Timmermans: Wenn es zwischen zwei Grenzen Wasser gibt, dann muss man einfach zu Absprachen kommen mit Ländern auf beiden Seiten dieser Grenze. Die einzige Alternative ist, dass Leute ertrinken. Und was wir gesehen haben ist, seit dem Abkommen mit der Türkei ertrinken keine Leute mehr in der Ägäis, oder fast nicht mehr. Es kommen auch fast keine Leute mehr über Schlepper nach Griechenland. Da kann man sagen: "Ja, aber ihr dürft kein Abkommen mit der Türkei haben, ihr müsst ja aufpassen". Das stimmt ja alles, aber gleichzeitig muss ich sagen: Ohne Abkommen mit anderen Ländern würden wir das nicht schaffen.
    Riedel: Sie hören den Deutschlandfunk mit dem Interview der Woche. Heute mit EU-Vizekommissionspräsident, Frans Timmermans. Apropos "Türkei-Deal" – wie wohl ist Ihnen bei der Tatsache, dass wir mit dieser Türkei zusammenarbeiten müssen, so wie sie sich jetzt darstellt?
    "Jedes Land, das einen Hebel hat, wird den Hebel benutzen"
    Timmermans: Wissen Sie, auch wenn wir keine Flüchtlingsfrage hätten heute - was haben uns diese Jahre gebracht, dass wir überhaupt nicht mit den Türken geredet haben, dass wir gesagt haben: "Es stimmt dort nicht?" Hat das die Lage in der Türkei verbessert oder verschlechtert? Ich würde sagen: Verschlechtert. In einem Land, wo die Leute dort sagen: "Die Europäische Union ist unser strategischer Partner", da würde ich sagen: Dann reden wir mal mit denen. Damit wir sagen: "Ihr müsst besser auf Pressefreiheit schauen." Damit wir sagen: "Ihr müsst Unabhängigkeit von Richtern garantieren." Damit wir sagen: "Die Menschenrechte stehen nicht gut da, das muss besser werden." Wenn die Türken wirklich Annäherungen an Europa wollen, dann müssen sie sich auch in diesen Bereichen verbessern, und das können wir dann auch sagen. Wenn wir einfach sagen: "Ihr gehört nicht dazu, ihr seid zu schlimm", dann wird sich nichts ändern.
    Riedel: Einverstanden, aber man hat schon den Eindruck, wenn man sich die letzten Wochen anguckt, dass die Türkei die Tatsache, dass die EU sie für die Flüchtlingsfrage, für die Bewältigung, den Umgang damit braucht, als Hebel nutzt, und zwar als Hebel, um sehr dezidiert ihre Interessen umzusetzen. Da geht es um Journalisten, die zurückgepfiffen werden oder ausgebremst werden. Da geht es eben sogar um Kulturprogramme, wenn sie sich mit dem falschen Thema – nämlich in diesem Fall mit dem Massenmord an den Armeniern – befassen, wo die Türkei versucht, Einfluss zu nehmen. Die Kurdenpolitik ist robuster denn je, weil sie im Moment davon ausgehen kann, dass man vielleicht nicht zu laut schreit vonseiten der EU. Also, das ist ja schon eine Situation, die Ihnen nicht gefallen kann?
    Timmermans: Jedes Land, wenn es einen Hebel hat, wird den Hebel benutzen. Das macht nicht nur die Türkei, das machen alle Staaten. Jetzt sieht die Türkei, in der Lage, in der sie jetzt ist, ziemlich isoliert in der Region, eine Möglichkeit zur besseren Zusammenarbeit mit uns, sieht auch, dass wir ein Interesse daran haben wegen der Flüchtlingsfrage, fragt, dass wir diese Beziehung beschleunigen, fragt aber nicht, dass wir die Kriterien ändern. "Ja, wenn ihr wollt, können wir das beschleunigen, aber wir lassen uns nicht erpressen." Und gleichzeitig: "Die Kriterien sind die Kriterien, die sind objektiv, die sind deutlich und damit müssen wir arbeiten." Dass der Eindruck dann entsteht, auch wegen der Äußerungen von Präsident Erdoğan und so weiter, als ob wir erpresst werden, das verstehe ich, in der Öffentlichkeit. Aber tatsächlich ist es so, dass die Türkei uns mehr braucht als wir die Türkei.
    Riedel: Hoffentlich weiß die Türkei das auch. Das scheint tatsächlich ...
    "Die Türkei ist ein Land mit einer ganz, ganz großen, großen Geschichte"
    Timmermans: Nein, aber hören Sie mal, man muss auch deutlich sagen, das ist ein Land mit einer ganz, ganz großen, großen Geschichte, mit einem ganz großen Ehrgefühl. Türken werden nie sagen: "Ach bitte, bitte, tut mal was für uns." Das würden die nie sagen. Die werden immer mit diesem Stolz operieren. Das ist auch ein kultureller Unterschied, den wir haben. Wir können auch sehr oft nicht verstehen: "Wieso ist denn dieser Präsident beleidigt, das ist doch nur Satire", wo nicht nur der Präsident beleidigt ist, aber viele Millionen von Türken sich auch beleidigt fühlen.
    Riedel: Sie haben es angesprochen: Visa-Liberalisierung bis Ende April. Jetzt wollte die EU-Kommission entscheiden, ob alle 72 Kriterien – die sie nicht verändern, Sie haben es schon gesagt – erfüllt sind, damit die Visa-Liberalisierung vorgezogen wird.
    Timmermans: Ja.
    Riedel: Das Ergebnis ist da – ist es erfüllt?
    Timmermans: Ich kann das noch nicht ganz bestätigen heute. Es ist in den letzten Wochen wohl sehr, sehr viel Positives geschaffen worden. Also, ich hoffe, dass wir in den nächsten Tagen unsere Schlussfolgerungen ziehen können. Wie das ausgeht, kann ich heute leider noch nicht sagen.
    Riedel: Wie gehen Sie damit um, dass in einigen Ländern – Deutschland, Frankreich – das Unwohlsein sehr deutlich ist und auch formuliert wird mit dieser Visa-Liberalisierung? Ist es denkbar, dass man da etwas macht, was man noch nie gemacht hat – nicht mit der Ukraine, nicht mit Georgien beispielsweise – dass man eine – wie heißt es? – Suspendierungsklausel einbaut? Also, dass man sagt: "Ja, aber wir können das auch zurücknehmen."
    "Wenn ein Land nicht allen Regeln folgt, kann man es suspendieren"
    Timmermans: Unsere Mitgliedstaaten, die müssen das selber entscheiden. Wir als Kommission haben seit dem Anfang deutliche Kriterien auf den Tisch gelegt. Das haben wir mit allen Ländern gemacht, die gerne Visa-Liberalisierung wollen. Wir werden natürlich nicht diese Regeln ändern im Endspiel. Das wäre nicht fair den Türken oder den Ukrainern oder den Georgiern gegenüber. Also, wir haben unsere Regeln. Was die Mitgliedstaaten damit machen, das müssen wir abwarten. Dazu möchte ich noch sagen, es gibt jetzt schon die Möglichkeit, wenn ein Land nicht allen Regeln folgt, dass man es suspendiert, das können wir jetzt, bei den hiesigen Regeln, auch schon machen.
    Riedel: Damit dieser "Türkei-Deal" nachhaltig funktioniert, der ja darauf abhebt, dass alle, fast alle zurückgeschickt werden, die von der Türkei auf die griechischen Inseln kommen und im Gegenzug werden der Türkei jedenfalls Syrer, 1:1 im Verhältnis, abgenommen und es sollen ihnen auch noch weitere Syrer abgenommen werden möglicherweise, im Laufe der nächsten Monate. So. Es muss aber praktisch funktionieren! Und da stellt sich mir schon die große Frage und vielleicht können Sie sie mir beantworten: Warum sind die EU-Länder so zögerlich, Griechenland, das ja sozusagen den Deal abwickelt auf der EU-Seite, die nötige Unterstützung, die sie brauchen, zu schicken? Wir haben nicht die Übersetzer – nicht annähernd –, die es braucht. Wir haben nicht die Asylfachleute – nicht annähernd –, die es braucht, denn es könnten ja auch wieder mehr Flüchtlinge kommen. Warum tun die das nicht, wenn sie an den Türkei-Deal glauben?
    Timmermans: Die Frage kann ich schwierig beantworten, denn wir haben uns darauf festgelegt, der Europäische Rat hat sich darauf festgelegt und dann gibt es nur ein paar Länder, die das dann tatsächlich tun. Wir haben jetzt ungefähr tausend Leute, zusätzliche Leute, die arbeiten in Griechenland – das ist viel zu wenig. Es wäre doch an der Zeit, dass alle Mitgliedstaaten machen, was sie versprochen haben und Griechenland helfen. Das Land braucht diese Hilfe, verdient es auch, ehrlich gesagt.
    Riedel: Und sich bereit erklären, dann eben 1:1 und plus darüber hinaus, tatsächlich auch ganz konkret zu sagen: "Wir nehmen soundso viele in dem Zeitraum X." Das ist noch nicht einmal Thema gewesen bei dem letzten Innenministerrat. Also, auch da hakt es an dem Punkt wieder.
    "Europa muss aufhören, immer wieder neue Grenzen aufzustellen"
    Timmermans: Ja, genau. Was mich ärgert ist, dass in dem Augenblick, wo keine Flüchtlinge mehr kommen, zu viele Länder sagen: "Na ja, das Problem ist gelöst. Ich habe kein Problem mehr, es kommen keine mehr." Das ist nicht nachhaltig. Wenn das so geht, dann wird auch dieses Abkommen mit der Türkei nicht dauerhaft bestehen. Denn wir müssen zeigen, dass Europa noch immer dazu bereit ist, Leute, die recht haben auf Schutz, dass Europa bereit ist, diese Leute aufzunehmen. Wir müssen Syrer aus der Türkei, aber auch aus Jordanien und Libanon nach Europa übernehmen. Das ist wichtig, damit wir zeigen, dass wir nicht die Türkei, Libanon und Jordanien mit diesen Problemen alleine lassen. Das ist von Anfang an von den Türken gesagt worden und sie haben völlig recht: "Wir werden nicht alleine alle Leute aufnehmen können."
    Riedel: Noch mal Stichwort "Griechenland". Nicht zuletzt wegen der schwerwiegenden Mängel bei der Kontrolle der Außengrenzen haben ja dann EU-Staaten, Schengen-Staaten, europäische Staaten nördlich von Griechenland angefangen, ihre Grenzen zumindest zu kontrollieren, wenn sie sie nicht dicht gemacht haben.
    Timmermans: Ja.
    Riedel: Sind denn diese entscheidenden Mängel aus Sicht der EU-Kommission mittlerweile behoben – das werden Sie in den nächsten Tagen sagen müssen – oder nicht? Dann würde es dazu führen, dass die EU-Kommission die Empfehlung gibt, die vorhandenen temporären Kontrollen an Binnengrenzen, die ja schon stattfinden, für, sagen wir, zwei Jahre weiterführen zu dürfen – was aber schon eine herbe Auszeit, wenn nicht sogar ein Anfang vom Ende für Schengen wäre.
    Timmermans: Wir müssen dafür sorgen, dass wir Griechenland helfen. Und wenn das funktioniert, müssen wir dafür sorgen, dass Europa aufhört, immer wieder neue Grenzen einzustellen. Ich habe auch gesehen, was der Matteo Renzi zum Brenner gesagt hat.
    Riedel: Er findet es schamlos, dass die Österreicher dabei sind, Kontrollen aufzubauen.
    "Die wirklichen Entscheidungen werden auf Weltebene getroffen"
    Timmermans: Wenn wir unser Europa aufrechterhalten wollen, müssen wir aufhören, immer wieder neue Grenzen einzustellen. Und ich finde, dass wir das auch von Österreich verlangen können.
    Riedel: Nichts desto trotz – wird die Empfehlung der EU-Kommission in die Richtung gehen müssen? Wir haben nur noch wenige Tage, da wird sich nicht mehr allzu viel ändern.
    Timmermans: Ja, aber diese Empfehlung wird kommen, wenn sie fertig ist und die werde ich nicht jetzt schon ankündigen können.
    Riedel: Vielleicht noch mal kurz zurück zu der Frage, wie es um die EU steht. In Österreich, in den Niederlanden ist auch nicht alles sehr EU-freundlich, selbst in Deutschland nicht, Frankreich nicht, Polen, Ungarn sowieso, in mehreren anderen osteuropäischen Staaten. Und die Brexit-Befürworter werden stärker im Moment - es ist also völlig im Bereich des Möglichen, dass Großbritannien austritt. Die haben übrigens ein Credo angebracht, die Brexit-Befürworter, sie sagen, "Europa von der EU befreien". Was macht das, wenn Sie so etwas hören, mit einem so Europa-Überzeugten, wie Ihnen? Und was können Sie dem entgegensetzen, außer wunderbare Worte in fünf Sprachen?
    Timmermans: Welches Problem können diese Länder alleine lösen? Welches Problem mit den Flüchtlingen? Welches Problem in der Wirtschaft? Welches Problem beim Klimawandel? Welches Problem bei den internationalen Problemen, die wir haben, mit Russland oder die Herausforderungen aus China und so weiter? Welches Problem können diese Leute noch glauben, allein mit einem Land lösen zu können? Die wirklichen Entscheidungen auf Weltebene werden von Spielern getroffen, die eine kontinentale Größe haben: Die Amerikaner, die Chinesen. Auf dieser Ebene muss Europa mitmischen. Das kann Großbritannien nicht allein, das kann Deutschland nicht allein, das kann Frankreich nicht allein. Aber zusammen können wir das, sonst werden andere über unser Schicksal entscheiden.
    "Dieses europäische Projekt kann uns noch viel bringen"
    Riedel: Ihr Wort in den Ohren derjenigen, die das am 23. Juni in Großbritannien zu entscheiden haben werden und die sicherlich nicht denken, sondern fühlen, wenn sie ihr Häkchen oder ihr Kreuzchen machen.
    Timmermans: Aber das Problem, das wir haben als Europa-Befürworter, ist, dass wir viel zu lang rationell mit dieser Frage umgegangen sind. Als es Kritik gab an Europa, dann hatten wir immer wieder Statistiken, die gezeigt haben, dass es gut mit uns geht. Aber die Leute entscheiden nicht mit Statistiken, die entscheiden mit Herzen. Und wenn es uns nicht gelingt, Europa wieder in die Herzen der Leute zu bekommen, dann wird dieses Europa scheitern. Wissen Sie, der Populismus wird nicht Länder zerstören – die Länder werden bleiben. Aber der Populismus, wenn er wächst, dann wird er Europa zerstören. Und ich finde das schade. Dieses europäische Projekt hat uns viel gebracht, kann uns noch immer viel bringen. Es würde wirklich schade sein, wenn es kaputtgeht.
    Riedel: Herr Timmermans, herzlichen Dank für das Gespräch.
    Timmermans: Gerne geschehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.