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Fußball-EM 2016
Public Viewing ohne Barrieren

Wer als behinderter Mensch beim Public Viewing dabei sein möchte, für den ist das Vergnügen meistens eingeschränkt. Damit auch Blinde, Gehörlose und Rollstuhlfahrer mit Tausenden anderer Fans mitfiebern können, gibt es erstmals in Hamburg, Düsseldorf und München ein barrierefreies Public Viewing.

Von Jessica Sturmberg | 16.06.2016
    Kübra Sekin beim Public Viewing in Düsseldorf.
    Kübra Sekin beim Public Viewing in Düsseldorf. (Deutschlandradio - Jessica Sturmberg)
    Es ist Sonntagnachmittag, in der Düsseldorfer Altstadt haben viele Kneipiers und Restaurantbesitzer Fernseher aufgestellt, Eingänge und Terrassen mit Fahnen geschmückt. Markisen sind ausgefahren, um die Gäste vor Regenschauern zu schützen. Der zentrale Marktplatz direkt am Rathaus ist für das Public Viewing mit blickdichten Zäunen abgetrennt. Drängelgitter sind aufgestellt für die Sicherheitskontrollen und die Kassen.
    Im abgesperrten Bereich ist links neben der Großleinwand eine Bühne für einen DJ, zwei Blindenreporter und zwei Gebärdendolmetscher. Sie alle richten sich ein für den abendlichen Einsatz, bei dem sie sich später abwechseln werden.
    Ein guter Ton ist für die beiden wichtig, schließlich geht es darum, sämtliche Hintergrundinformationen und Einordnungen der Fernsehkommentatoren für die Gehörlosen zu übersetzen.
    "Die Spieler haben alle eigene Gebärdennamen, zum Beispiel der Müller, der lacht immer so viel. Und dann ist es so, mit Zeigefinger und Daumen ein Lächeln unter dem Kinn nach oben."
    Erzählt Dolmetscherin Monika Hellweg.
    "Hummels ist wie eine kleine dicke Hummel, die von Blume zu Blume fliegt. Also Zeigefinger und Daumen zusammen und dann drei Mal nach vorne hoppen."
    Zahlreiche Fans verfolgen am 12.06.2016 beim Public Viewing auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg das Fußballspiel Deutschland gegen die Ukraine.
    EURO 2016 - Public Viewing Hamburg (picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt)
    Andrej Myrokis packt währenddessen einen Gerätekoffer aus, der auch in Bundesligastadien für Blindenreportagen zum Einsatz kommt. Darin: Zwei Sender und 20 Empfangsgeräte mit Kopfhörern. Es können also 20 Blinde parallel zuhören. Der 31-Jährige macht das seit Jahren ehrenamtlich bei Fortuna Düsseldorf.
    "Wir sind in jeder Sekunde auf Ballhöhe. Das ist so unser Anspruch und das heißt, wir machen keinen Unterschied, wenn sich zwei Innenverteidiger den Ball hin- und herschieben, dann sind wir genauso auf Ballhöhe wie wenn es gerade brenzlig im Strafraum wird. Unser Nutzer soll am Ende selber entscheiden, ober er jetzt gerade zuhören möchte, ob ihn das Spiel langweilt. Aber wir treffen nicht die Entscheidung, was relevant ist und was nicht."
    Sebastian Wahl ist einer seiner Nutzer, hat selbst drei Jahre in der Blinden-Fußball-Nationalmannschaft gespielt. Er freut sich auf den Abend, dass er nicht wie sonst nur die Hälfte mitbekommt.
    "Man kriegt eben mit, wenn eine Chance ist oder wenn ein Tor gefallen ist, fragt natürlich nach, wer war's oder was ist passiert? Aber kriegt den Aufbau nicht mit. Man bekommt nicht mit, was genau passiert ist."
    Blindenreporter beim Public Viewing
    Blindenreporter beim Public Viewing ist eine Premiere. Ebenso wie Gebärdendolmetscher. Für Rollstuhlfahrer wurde darauf geachtet, dass es keine Stufen gibt, eine behindertengerechte Toilette und gute Sicht auf die Leinwand.
    Vor allem das hat Heilpädagogik-Studentin Kübra Sekin bisher oft den Spaß am Public Viewing verdorben. Die 25-Jährige hat Glasknochen und sitzt im Rollstuhl.
    "Das habe ich bei den anderen Veranstaltungen bisher noch nicht so erlebt. Das macht auch viel mehr Spaß dann natürlich, wenn ich nicht die ganze Zeit jemanden Großen vor mir stehen habe und das Spiel nur halb verfolgen kann. Hier ist das aber sehr gut gelöst auf jeden Fall."
    Die Initiative geht von der Aktion Mensch aus. Sie hat sich darum gekümmert, dass bei den drei Public-Viewing-Veranstaltern im Düsseldorfer Zentrum, auf dem Hamburger Heiligengeistfeld und im Münchner Olympiapark alles barrierefrei ist. Das Angebot gibt es erst einmal nur für die drei Gruppenspiele der deutschen Mannschaft. Nicht die K. O.-Runde, erklärt Pressesprecher Sascha Decker:
    "Das würde uns echt überfordern, weil das ist viel Aufwand. Das sind im Grunde drei mal drei Großveranstaltungen, wo wir auch mit eigenem Personal da sind. Weil wir auch gesagt haben, wir wollen als kleines Serviceteam noch mal ansprechbar sein. Und wenn die deutsche Mannschaft tatsächlich ins Finale kommen sollte, dann werden wir auch noch mal an den drei Standorten das Finale zugänglich machen."
    Alle können das Spiel gut verfolgen
    Vier Stunden und einige Regengüsse später hat sich der Düsseldorfer Marktplatz gefüllt. Es sind bei dem ungemütlichen Wetter nicht viele gekommen. Für 4.000 Zuschauer hat der Veranstalter die Genehmigung, es sind vielleicht 400 da, nur wenige mit Behinderung. Zumindest können alle das Spiel gut verfolgen. Blindenreporter Andrej Myrokis beginnt mit seiner Beschreibung:
    Michael Wahl kann alles gut verstehen, trotz jubelnder Fans um ihn herum. Emotionaler Höhepunkt des Abends ganz klar, das Tor von Bastian Schweinsteiger in der Nachspielzeit. Michael Wahl hat nichts verpasst, auch Boatengs artistische Einlage nicht:
    "Ich habe das Spiel ganz toll und ganz nah erlebt, es gab ziemlich viele kuriose Szenen. Und ich habe beide Tore so miterlebt, wie es vielleicht jemand erlebt, der richtig sehen könnte – es war schön!"
    Alle gemeinsam feiern noch den 2:0-Sieg. Viele wollen beim nächsten Spiel wiederkommen. In der Hoffnung, dass mehr Zuschauer dabei sind und es nicht wieder regnet.