Samstag, 18. Mai 2024

Fußball und Zwangsarbeit
Selbstbehauptung auf dem Rasen

Noch immer gibt es Themen, die in der Erinnerungsarbeit im Hintergrund stehen: So haben die Nationalsozialsten über 26 Millionen Männer, Frauen und Kinder als Zwangsarbeiter eingesetzt. Was wenig bekannt ist: Einige dieser Arbeiter durften auch Fußball spielen.

Von Ronny Blaschke | 05.05.2024
Bram Apppel geht im Zweikampf an einem Gegenspieler vorbei.
Der Niederländer Bram Appel spielte in Deutschland als Zwangsarbeiter für Hertha BSC und nach dem Krieg in den Niederlanden unter anderem für Fortuna Sittard (hier gegen Willem II) und in der Nationalmannschaft. (IMAGO / piemags / IMAGO)
Am 14. Juni 1943 findet im Volkspark Hasenheide in Berlin ein Fußballspiel statt. Zwangsarbeiter spielen gegen Zwangsarbeiter. Ein Foto aus jener Zeit zeigt, wie die Mannschaften den Rasen betreten. Im Hintergrund auf der Tribüne sieht man hunderte Zuschauer. Auch sie sind mehrheitlich Zwangsarbeiter.
„Das kann man, sehr böse, unter dem Motto Brot und Spiele zusammenfassen“, sagt Daniela Geppert, Mitarbeiterin im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide. „Es ging schon darum, dass man Menschen, die eben unter Zwang hier waren, die nicht einfach wieder weg gehen konnten und ein wenig selbstbestimmtes Leben führen konnten, ein Angebot gemacht hat, Freizeit zu gestalten. Eine Idee wäre zu fragen, ob man die Leute damit ein Stück weit ruhiggestellt hat.“

Hertha BSC verpflichtet Zwangsarbeiter

Die Nationalsozialisten verschleppen mehr als acht Millionen Menschen aus den besetzten Gebieten Europas ins Deutsche Reich. Gegen ihren Willen müssen sie in allen Bereichen der Gesellschaft arbeiten, in Firmen, Fabriken oder Privathaushalten. Nur wenige Zwangsarbeiter dürfen ihre Freizeit selbst gestalten. Beim erwähnten Fußballspiel 1943 im Volkspark Hasenheide kommen vor allem Arbeiter aus den Niederlanden zum Einsatz.
Geppert und Röleke sitzen an einem Tisch und sehen sich historische Fotos an.
Daniela Geppert (links) und Juliane Röleke (rechts) im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin. (Dlf/Blaschke)
Einige dieser Spieler, zum Beispiel Bram Appel, wecken das Interesse lokaler Klubs, erinnert die Historikerin Daniela Geppert: „Hertha hat ein großes Problem. Die deutschen Männer waren im Krieg an der Front, die brauchten Nachwuchs. Und haben sich dann bei Zwangsarbeitenden umgesehen. Und so haben sie Bram Appel ,gewonnen‘, in Anführungszeichen, als Teammitglied für die erste Mannschaft von Hertha. Und er ist ein echter Goalgetter gewesen. Und hat Hertha zur Gau-Meisterschaft geschossen, also damals war es die Gau-Meisterschaft.“

Jubelszenen in der Innenstadt

Als Fußballer kann Bram Appel seine Lebensbedingungen verbessern. Er erhält höhere Essensrationen, bezieht eine Privatwohnung und wechselt von der Fabrikarbeit in einen Bürojob. Einige Zeitungen heben seinen zweiten Vornamen Leo hervor, denn das klingt weniger jüdisch.
„Letztlich hat Bram Appel zusammen mit deutschen Spielern bei der ersten Mannschaft von Hertha gespielt“, sagt Daniela Geppert. „Und mit denen ist er, soweit das überliefert ist und ich es zur Kenntnis genommen habe, ganz gut klargekommen. Das waren Kumpels und Kameraden. Zugleich haben die Deutschen ja sein Land besetzt.“
Während des Nationalsozialismus kommt es auch zu inoffiziellen „Länderspielen“, etwa zwischen niederländischen und französischen Zwangsarbeitern. Ein Buch über Bram Appel, das in den Niederlanden erschienen ist, beschreibt Szenen nach einem solchen Spiel: So ziehen niederländische Zwangsarbeiter ausgelassen durch die Berliner Innenstadt und stimmen ihre Nationalhymne an. Am Alexanderplatz springen sie auf eine Straßenbahn.
Solche Szenen sind damals selten, aber nicht einmalig, sagt die Historikerin Juliane Röleke, die sich seit langem mit Fußball und Erinnerungsarbeit beschäftigt: „Wir haben auch einen anderen Bericht aus Potsdam, wo so etwas vorgekommen ist scheinbar. Und was ich wichtig daran finde, ist, dass das auch ein Akt ist von Raumnahme, von einem Raum, der Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen nicht zustand. Von einer Selbstbehauptung, von ja, sich sichtbar machen, auch in der Stadt. Und ja, sich vielleicht auch ein Stück weit Lebensmut zurückzuholen.“

Eine Ausstellung während der EM

Allein im Berliner Stadtgebiet befinden sich damals rund 3.000 Lager für Zwangsarbeiter. Es gibt eine Hierarchie: Arbeiter aus Osteuropa, etwa aus Polen oder der Sowjetunion, leiden unter schlechteren Lebensbedingungen, sagt Juliane Röleke: „So wie wir es bislang wissen, waren die zum Beispiel von diesen Nationalmannschaftsspielen ausgeschlossen und trotzdem haben wir Fotos, zum Beispiel von einem Tadeusz Brzeski, einem polnischen Zwangsarbeiter, der in Hamburg eine Fußballmannschaft mit anderen polnischen Zwangsarbeitern auf die Beine gestellt hat. Was unseres Wissens erstmal nicht regelkonform war. Das ist auch eine Form von Selbstbehauptung.“
Im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide gibt Juliane Röleke Führungen, die den Fußball zum Thema haben. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auch auf aktuelle Bundesliga-Sponsoren, die einst von Zwangsarbeit profitiert haben. Und sie spricht über Sportstätten in Berlin, zum Beispiel über die so genannte „Plumpe“, das frühere Stadion von Hertha BSC im Stadtteil Gesundbrunnen:
„Da habe ich einfach mal nur grob recherchiert - und allein im unmittelbaren Umfeld der Plumpe drei Zwangsarbeitslager gefunden. Und das stellt natürlich nochmal die Frage der Sichtbarkeit von Zwangsarbeit für Fußballfans oder für Sporttreibende auf dem Weg zum Stadion, zu den Trainingsstätten. Genauso wissen wir, dass manche Fußballplätze umfunktioniert worden sind in Zwangsarbeitslager. Also da gibt es ganz viele verschiedene Zugänge.“
In wenigen Wochen soll im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit eine Ausstellung zum Thema Fußball eröffnen, rechtzeitig vor der Fußball-Europameisterschaft, die ab dem 14. Juni in Deutschland stattfinden wird. Daniela Geppert und Juliane Röleke bieten auch ein Begleitprogramm an. Sie werben für weitere Forschungen. Denn noch steht das Thema Zwangsarbeit im Fußball relativ am Anfang.