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"Glücksfall Merkel"

Wie blicken unsere Nachbarn auf die Bundestagswahl am 22. September? Danach fragt "Europa heute" in einer fünfteiligen Serie. In Polen traf DLF- Korrespondentin Sabine Adler Deutschlandkenner mit überraschend konkreten Erwartungen.

Von Sabine Adler | 19.08.2013
    "ZDF - NPD, ZDF – NPD"

    Dass vor der deutschen Botschaft in Warschau demonstriert wird, geschehen Ende voriger Woche, klingt dramatischer als es ist, denn die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland sind so gut wie Jahrhunderte nicht mehr.

    "Angela Merkel gilt eindeutig als Glücksfall für Polen, weil sie das Land gut versteht. Sie hat auch in schwierigeren Zeiten, als es nicht einfach war, mit Polen Dialog zu führen, gezeigt, dass das für sie eine wirkliche Priorität ist."

    Wie Janusz Reiter, der ehemalige Botschafter in Deutschland, verfolgt auch Waldemar Czachur den Bundestagswahlkampf zwar interessiert, zugleich aber völlig entspannt.

    "Weil wir wissen, das da relativ kleine Unterschiede zwischen den Parteien sind, wie sie Europa sehen."

    Die Bilanz der Kanzlerin fällt auch für den Universitätsdozenten Czachur positiv aus, wenngleich mit Einschränkungen.

    "Jeder Kanzler war entschieden für Polen, weil er vieles gemacht hat und nicht gemacht hat. Bei Merkel ist es noch abzuwarten, sie hat ihr Spiel noch nicht abgeschlossen und sie handelt auch in völlig anderen Rahmenbedingungen. Sie hat sehr unklug aus polnischer Sicht mit den Vertriebenen gespielt. Aber das sind wirklich Kleinigkeiten."

    Deutschland ist für Polen die wichtigste Bezugsgröße, an dem oft ungeliebten Nachbarn arbeiteten sie sich mitunter regelrecht ab. Unverzeihlich finden sie deutsche Geschichtsvergessenheit, die Darstellung der polnischen Heimatarmee in dem ZDF-Film "Unsere Mütter, unsere Väter".

    "Diese Armee war militärisch unterlegen, aber sie war moralisch überlegen, wenn man das infrage stellt, nimmt man dieser Armee, was für sie entscheidend war."

    Der Deutschlandkenner Pjotr Jendroszczik von der Tageszeitung "Rzeczpospolita" glaubt, dass es in Polen die Zeit für eine differenziertere Aufarbeitung angebrochen ist, eigenes Unrecht nicht mehr mit Verweis auf die deutsche Täterschaft verschwiegen werden kann. An der Bundestagswahl interessiert ihn vor allem, ob Berlin danach mit einer SPD-Regierungsbeteiligung einen neuen Russland-Kurs einschlägt. Kanzler Schröders Schulterschluss mit Putin hatte mehr als nur Skepsis bei den Polen ausgelöst.

    "Die Warschauer Politiker und Publizisten haben immer gesagt, wir kennen Russland besser als ihr, wir wissen über das System Putin und Medwedjew mehr, wir haben unsere Erfahrungen."

    O-Ton Peer Steinbrück: "Ich war das erste Mal nach Polen, nach Warschau gekommen 1988."

    Der Warschauer Auftritt des SPD-Kanzlerkandidaten wurde registriert, aber niemand an der Weichsel stellt sich auf einen Kanzler Steinbrück ein, sagt Marek Krzakala von der polnisch-deutschen Parlamentariergruppe im Sejm.

    "Wenn ich die deutsche Bühne beobachte, denke ich, dass die Kanzlerin keinen Gegner hat, der in ihrer Liga spielt."
    Anders als früher muss eine Regierung ihr gutes Verhältnis zu Deutschland heute nicht mehr verstecken. Außenminister Radoslaw Sikorski forderte in seiner Berliner Europa-Rede 2011 sogar mehr Führung von Deutschland in der Europakrise. Ein Satz, mit dem sich jeder in Polen früher um Kopf und Kragen geredet hätte, ist Ex-Botschafter Reiter überzeugt.

    "Viele haben gedacht, nach dieser Rede würde es einen Eklat geben, die Opposition würde herfallen über die Regierung und die Bevölkerung würde sich auf die Seite der Opposition stellen."

    Dennoch findet der gediente Diplomat Sikorskis Forderung nach mehr deutscher Führung wenig geglückt.

    "In gewissem Sinne sind Spannungen unvermeidlich, nur man muss sie nicht noch verschärfen, in dem man mit falschen Begriffen falsche Eindrücke erweckt. Es wäre fatal, wenn Deutschland aus guten, ehrlichen Motiven heraus eine Rolle übernimmt, die so nicht von den Nachbarn akzeptiert wird und wo Deutschland dann statt Lob Kritik erntet, sich missverstanden fühlt und sich dann zurückzieht."

    Fatal deshalb, weil die Polen überzeugt ist, dass die Euro-Krise nur überwunden wird, wenn sich Deutschland engagiert und damit ihr Beitritt zur Eurozone von Deutschland abhängt.