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Großbritannien und der Brexit
Austrittsparagraf Artikel 50 wird aktiviert

Frieden und wirtschaftlicher Aufschwung – mit diesen Hoffnungen trat Großbritannien 1973 in die EWG ein. Nun beginnt die Scheidung Großbritanniens von der EU: Premierministerin Theresa May hat Artikel 50 des Lissaboner Vertrags aktiviert. Dabei war der Austrittsparagraf unter den Mitgliedsländern von Anfang an umstritten.

Von Friedbert Meurer und Peter Sawicki |
    Die EU hat sie nicht erreicht: die Brexit-Befürworter wollten die Trennung von Brüssel. Die Konsequenzen sind noch nicht ganz abzusehen.
    Die EU hat sie nicht erreicht: die Brexit-Befürworter wollten die Trennung von Brüssel. Die Konsequenzen sind noch nicht ganz abzusehen. (imago/Bettina Strenske)
    An einem hektischen Februartag ist für den Europapolitiker David Martin die Welt in Ordnung. Leicht schimmernd erhellt die untergehende Straßburger Sonne die langen Parlamentsflure, während der Schotte zu einem Meeting eilt.
    Eben stimmte Martin noch für CETA, das geplante Freihandelsabkommen der EU mit Kanada. Gleich steht ein Ausschusstreffen mit dem kanadischen Handelsminister an.
    Seit 1984 gehört der Labour-Politiker dem EU-Parlament an, so lange wie kein anderer Brite. Seinen Aufgaben geht er gewissenhaft nach. Dabei ist er nur noch Parlamentarier auf Abruf – seit Großbritannien im vergangenen Juni entschied, die Europäische Union zu verlassen.
    An diesem Mittwoch nun will Premierministerin Theresa May die Austrittserklärung in Brüssel einreichen, danach beginnen die auf zwei Jahre angelegten Gespräche über die Modalitäten des EU-Austritts Großbritanniens.
    Verbitterung wegen des Brexit
    Radikal geändert hat sich David Martins Alltag bisher zwar nicht. Dennoch zerfällt der Einfluss britischer Abgeordneter schleichend, hat er beobachtet:
    "Meinen Posten als Sprecher der Sozialisten für Handelsfragen habe ich Anfang Januar freiwillig abgegeben. Es schien mir falsch, weiter über Maßnahmen zu entscheiden, die Großbritannien bald ohnehin nicht mehr betreffen werden. Ich merke es auch innerhalb unserer Labour-Gruppe. Die meisten Beschlüsse der Fraktion segnen wir mittlerweile ab und denken uns: Wenn die Mehrheit das so will, warum sollen wir es noch blockieren? Letztes Jahr wäre das noch anders gewesen."
    Emotional hat das Brexit-Referendum tiefe Spuren hinterlassen – bei ihm und den meisten anderen britischen Europaabgeordneten, erzählt Martin:
    "Viele meiner Kollegen – ohne Namen zu nennen – sind verärgert und verbittert und schimpfen auf David Cameron. Ein paar andere sind pragmatisch und machen ihren Job so gut es geht weiter. Ich selbst begeistere mich immer noch für Europa."
    Gegen alle Widerstände: der EWG-Beitritt 1973
    Rückblick:
    "Großbritannien ist jetzt Mitglied des gemeinsamen Markts", der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Das verkündeten die Nachrichten der BBC am 1. Januar 1973. An dem Tag trat Großbritannien der EWG bei, dem Vorläufer der EU – und die Radiosendung "Today" begrüßte ihre Hörerinnen und Hörer mit der französischen Nationalhymne.
    Charles de Gaulle hatte als französischer Staatspräsident eine Mitgliedschaft Großbritanniens in der EWG immer abgelehnt. Unter seinem Nachfolger Georges Pompidou war der Weg frei. Alle großen Parteien in Großbritannien, Konservative, Labour und Liberale, waren 1972 für den Beitritt, die meisten Medien auch und die Wirtschaft.
    Es sollte nie wieder Krieg sein
    Der damalige konservative Premierminister Edward Heath rief die beiden Kammern des Parlaments dazu auf, dem Beitrittsgesetz zuzustimmen:
    "Im Herbst wird das Parlament gefragt, ob Großbritannien der Europäischen Gemeinschaft beitreten soll. Das ist eine bedeutende Entscheidung, die weit über die Alltagspolitik herausragt. Es wird fundamental für uns sein, ob wir beitreten oder außen vor bleiben."
    Beide Kammern des Parlaments stimmten zu. Kenneth Baker war damals Staatssekretär in der konservativen Regierung von Edward Heath.
    "Dass Edward Heath so sehr für den EWG-Beitritt war, lag daran, dass er am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatte. Diese Generation wollte, dass wir nie wieder Krieg gegeneinander führen. Eine der großen Erfolge des gemeinsamen Markts ist, dass man sich das nicht mehr vorstellen kann."
    Großbritannien war "der kranke Mann Europas"
    Es gab neben den Kriegserfahrungen noch einen weiteren wichtigen Grund für den britischen Beitritt. Dem Land ging es ökonomisch nicht gut Anfang der 70er-Jahre. Ex-Staatssekretär Kenneth Baker:
    "Wir waren in den 70er Jahren der kranke Mann in Europa. Es gab reihenweise Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften. 1971 gab es den ersten Streik der Bergarbeiter. Man fragte sich, wer regiert eigentlich das Land? Kann es nicht besser regiert werden?"
    Die Streiks legten das halbe Land lahm, es kam zu Energieengpässen. Der gemeinsame Markt der EWG galt als Versprechen, dass es wirtschaftlich aufwärtsgehen könnte:
    Skeptiker beklagen Zahlungen an Brüssel
    Ökonomisch schwache Länder suchen auch heute noch eher den Schutz der EU als prosperierende – wie Norwegen, Island oder die Schweiz. Dann wurde Maggie Thatcher 1979 Premierministerin. Sie bekämpfte die Bergarbeiterstreiks mit allen Mitteln, bändigte die Gewerkschaften, legte das Fundament für die Stellung Londons als globaler Finanzplatz. 1975 hatten in einer nachträglichen Volksabstimmung zwei Drittel der Briten für den Verbleib in der EWG gestimmt.
    Margaret Thatcher 1983, als sie britische Premierministerin wurde, und Ehemann Denis.
    Margaret Thatcher 1983, als sie britische Premierministerin wurde, und Ehemann Denis. (dpa / picture alliance / EMPICS)
    Jetzt unter Thatcher begann sich das Blatt zu wenden: Die Landwirte fühlten sich zunehmend unter Druck gesetzt. Die meisten Agrarsubventionen gingen nach Frankreich und nicht auf die Insel. Die Fischer machten die EWG für den Niedergang der britischen Fischindustrie verantwortlich. Die Fangquoten seien ungerecht verteilt. Und es ging um die britischen Zahlungen nach Brüssel:
    "Ich muss darauf beharren: Was Großbritannien an Beiträgen leisten soll, das ist ungerecht, unangemessen, inakzeptabel und völlig unfair gegenüber der britischen Bevölkerung."
    Thatcher erhält Briten-Rabatt
    "Eines der Probleme entstand dadurch, dass Großbritannien erhebliche Beiträge zahlen musste. Die Lage änderte sich, als Maggie Thatcher den Rabatt für die Briten forderte. Da entstand sehr stark ein euroskeptisches Element."
    Den sogenannten Briten-Rabatt bekam Thatcher 1984. Seitdem fließen 66 Prozent der Differenz zwischen ein- und ausgezahlten Beiträgen zurück in das Vereinigte Königreich. Während Großbritannien mit seinem Sonderrecht vorerst besänftigt war, wuchs bis 2007 die Zahl der EU-Mitglieder auf 27 an.
    Beim Gedanken "mehr Europa" ist nicht allen wohl
    Vertraglich passte sich die Europäische Union ihrer neuen Größe an. Im Dezember 2007 unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs feierlich das Lissabon-Abkommen. Ein portugiesischer Kinderchor begleitete die Zeremonie. Der damalige Kommissionspräsident José Manuel Barroso war angetan vom neuen Europa:
    "Das war ein großer, ein bewegender Tag. Das erste Mal, dass 27 Staaten einen Vertrag unterzeichnen. Den sie auch noch selbst ausgehandelt hatten. Ein besseres Symbol eines vereinten, demokratischen Europas könnte es doch gar nicht geben."
    Von einer immer stärker integrierten Union träumte nicht nur Barroso. Schon die Vorgängertexte des Lissabon-Vertrags hatten eine enger werdende Zusammenarbeit vorgesehen. "Maastricht" hatte den Euro gebracht, mit "Lissabon" sollten die nächsten Schritte gegangen werden.
    Der Austritt wird denkbar
    Hinter den Kulissen war aber schon zu diesem Zeitpunkt nicht allen Beteiligten wohl beim Gedanken nach "mehr Europa". Es öffnete sich sogar die Tür für einen denkbaren Austritt aus der Union. Ein Gedanke, den es bis dahin so nicht gegeben hatte, sagt der Bonner Politologe Ludger Kühnhardt.
    "Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist gegründet worden auf Ewigkeit – ohne eine sie beendende Zielperspektive. Und sie ist auch gegründet worden, ohne die Möglichkeit auszutreten. Weil man an diese Variante überhaupt nicht gedacht hat."
    Artikel 50 - kleiner Passus mit großer Wirkung
    Das sollte sich ändern, ausgerechnet mit den Beratungen über eine europäische Verfassung. Diese wurde 2004 unterzeichnet und sollte ursprünglich auf die EU-Erweiterung reagieren. Franzosen und Niederländer lehnten die Verfassung aber in Referenden ab. Der Lissabon-Vertrag sollte 2007 schließlich retten, was zu retten war. Wortgleich enthalten blieb darin auch der sogenannte Artikel 50:
    "Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten."
    Heißt es seither im EU-Vertrag. 2007, als Europa sein Lissabon-Abkommen feierte, achtete kaum jemand auf dieses Detail.
    Karte, die eigentlich nicht gezogen werden sollte
    Entworfen worden war die Verfassung durch den sogenannten Europäischen Konvent. Gut 100 Politiker gehörten dem Gremium an, darunter Vertreter der EU-Kommission, des Parlaments und der Mitgliedsstaaten.
    Der Abgeordnete Elmar Brok war damals als Chef der Fraktion der europäischen Konservativen, EVP, mit dabei. Der Austrittsartikel 50, erinnert er sich, habe sich aus längeren Diskussionen heraus entwickelt:
    "Man kann das nicht so sagen, dass die Briten den Artikel 50 erfunden haben. Es war eine Mischung von Dingen gewesen – wo gehen wir vorwärts, und wo können wir vielleicht ein Ventil schaffen, damit wir weiter vorangehen können? Es kam dann auch mehr von den Vertretern der Regierungen als von den Parlamentsvertretern. Weil sie sagten, damit können sie das Resultat besser zu Hause verkaufen."
    Deutschland wollte "unsolidarische Austrittsklausel" verhindern
    Öffentliche Protokolle offenbaren die Skepsis einiger Teilnehmer des Konvents hinsichtlich einer tieferen Integration. In einem Kommentar heißt es:
    "Die Verfassung stellt eine große Herausforderung für die Mitgliedsstaaten dar, für manche vielleicht eine zu große. Deshalb ist ein solcher Artikel sinnvoll."
    Dieser Ansicht waren nicht nur Vertreter Großbritanniens, sondern auch einzelne Politiker aus Italien, Luxemburg oder Zypern. Dagegen wollten etwa Deutschland, Österreich und die Niederlande den Artikel 50 unbedingt verhindern.
    Juristisch gesehen wäre es auch nicht notwendig gewesen, den Austritt aus der EU explizit zu definieren, bemerkt der Politologe Ludger Kühnhardt:
    "Völkerrechtlich war eine solche Möglichkeit des Austritts aus einer internationalen Organisation immer schon vorhanden. Wer mag, kann auch aus der UNO wieder austreten."
    Warnzeichen wurden verdrängt
    Der EVP-Politiker Elmar Brok meint, so recht habe damals niemand daran geglaubt, dass ein EU-Mitglied eines Tages die Austrittskarte ziehen würde – bei aller Europa-Skepsis. Und doch wäre schon da Vorsicht geboten gewesen:
    "Es war bei niemandem die Vorstellung da, dass dieser Artikel benutzt würde. Aber ich hatte davor gewarnt, weil etwas, was im Augenblick völlig unschuldig aussieht, im Laufe der Zeiten – weil auch politische Meinungen sich ändern – zur Gefahr wird."
    Brok fügt aber hinzu, dass die damalige britische Regierung nie gedroht habe, den Artikel auch verwenden zu wollen.
    "Das ist erst die große Leistung von David Cameron gewesen, wenn ich das hier ironisch sagen darf."
    Wende zurück zur nationalen Denkweise
    In den Diskussionen um den Artikel 50 habe sich gezeigt, wie uneins sich die EU schon damals war, meint Politologe Kühnhardt. Im Rückblick sei dies ein Indiz dafür, dass…
    "…zum ersten Mal die Richtung des Windes sich drehte. Hin zu einer Situation, wo jeder anfing, Europa sozusagen von ihren Grenzen her zu definieren. Wie können wir verhindern, dass noch mehr Integration kommt? Wie können wir sicherstellen, dass die Kompetenzausweitung nicht übergreift auf noch mehr Bereiche der nationalen Politik? Auf einmal drehte sich das Blatt."
    Die EU-Gegner in Großbritannien erstarken nach 1992
    Auch in Großbritannien verschafften sich die Gegner der EU immer mehr Gehör. Neben der Konservativen Partei wurde eine neue Gruppierung immer erfolgreicher, die "United Kingdom Independence Party". Ein 28 Jahre junger Mann hatte nach dem Vertrag von Maastricht 1992 unter Protest die Konservativen verlassen und sich UKIP angeschlossen: Nigel Farage.
    "Es begann als Gemurmel in den Pubs und Clubs und wo immer Menschen hier in diesem Land zusammenkommen. Es wird jetzt zum rauschenden Crescendo. Die Leute fordern: Holt Großbritannien aus der EU heraus!"
    EU-Gegner: UKIP und Teile der Presse feindselig im Ton
    Die Erfolge der Partei waren am Anfang bescheiden, ein paar Prozent wurden bei Europawahlen erzielt. Das Unterhaus blieb für sie wegen des Mehrheitswahlrechts, nach dem alle Stimmen bis auf die des Gewinners verfallen, aber bis heute praktisch unerreichbar. UKIP setzte vor allem die Tories unter Druck. Manche Konservative fühlten sich gedrängt, kritischer gegenüber der EU zu werden – umso mehr als auch Teile der Presse einen immer feindseligeren Ton anschlugen. Robert Oulds ist Direktor der konservativen und von Maggie Thatcher gegründeten Denkfabrik "The Bruges Group".
    "UKIP war sehr klein am Anfang und eine Randpartei. Es waren keine Extremisten, sondern am Anfang mehr Libertäre, die Freiheit und Demokratie forderten. Ohne den Vertrag von Maastricht gäbe es UKIP nicht. Ohne Maastricht würden wir jetzt wahrscheinlich nicht aus der EU austreten."
    Camerons Angebot: EU-Referendum bei Wahlgewinn
    2010 kamen nach langer Pause die Konservativen wieder an die Macht. Ihr Premierminister David Cameron entschied sich - der EU-kritischen Stimmung in Partei und im Land folgend – wenig später zu einem folgenschweren Befreiungsschlag: 2013 versprach er ein EU-Referendum, sollte er 2015 die Unterhauswahl gewinnen.
    Gute Miene: David Cameron verlässt an seinem letzten Tag als Premierminister die Downing Street Nummer 10.
    Gute Miene: David Cameron verlässt an seinem letzten Tag als Premierminister die Downing Street Nummer 10. (imago / Matrix)
    Für Robert Oulds von der "Bruge Group" war Cameron letztlich ein Getriebener. Überhaupt hätten nicht Politiker an der Spitze die Entwicklung vorangetrieben, die Kritik an der EU sei von unten gewachsen und immer lauter geworden:
    "Es ist ein großartiges Beispiel dafür, wie Druck an der Basis und unter Hinterbänklern entsteht. Sie sorgten Schritt für Schritt für eine Wechselstimmung. Es ist ein politischer Aufstand, mit dem sie letztlich offene Türen einrannten."
    Farage: "Ein Sieg für alle anständigen Menschen"
    Am Morgen des 24. Juni 2016, dem Tag nach dem EU-Referendum, sprachen nicht wenige von einer Revolution in Großbritannien. Nigel Farage war an seinem Ziel angekommen.
    "Der Tag ist gekommen, an dem das Vereinigte Königreich unabhängig wird. Es ist ein Sieg für die wirklichen Menschen, für die einfachen Leute, ein Sieg für alle anständigen Menschen."
    Nigel Farage, Vorsitzender der UK Independence Party, fühlt sich nach dem Referendum bestätigt.
    Nigel Farage, Vorsitzender der UK Independence Party, fühlt sich nach dem Referendum bestätigt. (picture alliance / dpa / Michael Kappeler)
    Fehlende Transparenz der EU-Institutionen sind ein Problem
    Welche Lehren muss Brüssel aus der gegenwärtigen Lage ziehen? EVP-Politiker Elmar Brok glaubt, dass europafeindliche Kräfte grundsätzlich auch wegen mangelnder Transparenz der EU-Institutionen an Auftrieb gewonnen haben. In dieser Hinsicht sei das Potenzial des Vertrags von Lissabon bisher längst nicht ausgeschöpft:
    "Der Ministerrat, der ja die zweite Kammer ist, vergleichbar zum Bundesrat, muss öffentlich tagen. Das ist ja eines unserer Grundprobleme, dass die Leute glauben: ‚Das machen die alle in Brüssel‘. Alle Gesetze sind aber auch von der Bundesregierung als Mitglied des Ministerrates beschlossen worden, und so geht das in allen Ländern."
    Aus dem Brexit lernen
    Die damalige Entscheidung, den Austrittsparagrafen einzuführen, dürfe die EU außerdem nicht daran hindern, sich weiterzuentwickeln:
    "Ich glaube, wir sollten nicht so viel über den Artikel reden. Man sollte aus dem Brexit lernen. Und ich glaube, die überzeugendste Politik ist, dass wir die notwendigen Entscheidungen hier treffen, damit die Bürger sehen, dass Europa Probleme löst."
    Probleme, die sich die EU nach Meinung des Juristen Pieter Cleppe vom Think Tank Open Europe selbst geschaffen hat. Und zwar weniger mit der Einführung der Austrittsklausel, sondern eher mit dem Vertrag von Maastricht und einer verfehlten Euro-Politik. Cleppe kritisiert aber auch den Vertrag von Lissabon:
    "Durch den Lissabon-Vertrag ist es schwieriger geworden, 'Nein' zu Entscheidungen aus Brüssel zu sagen. De facto ist es eine Machtübertragung. Die meisten Leute möchten aber, dass finanzielle Aspekte oder Migrationsfragen national geklärt werden. Was nicht heißt, dass sie gegen die EU sind. Das europäische Projekt ist immer noch beliebt, solange es vor allem Handelsschranken entfernt. So ist es übrigens auch den Briten verkauft worden. Hätte sich die EU darauf besinnt, würde es den Brexit nicht geben."
    Brexit-Unterstützer Anfang 2017 vor dem Parlament in London.
    Brexit-Unterstützer Anfang 2017 vor dem Parlament in London. (imago/Bettina Strenske)
    Brüsseler Entscheidungen nachvollziehbar machen
    Für die Europäische Union sei es noch nicht zu spät, sich neu zu erfinden, meint Pieter Cleppe, und lobt Kommissionspräsident Juncker für dessen Reformvorschläge. Es komme nun aber darauf an, klare Prioritäten zu setzen:
    "Die EU müsste den Fokus auf die Bereiche legen, in denen sie beliebt ist. Zum Beispiel wenn sie sicherstellt, dass Ryanair und Wizz Air günstige Flüge in ganz Europa anbieten können. Oder Schranken im Bereich E-Commerce abbaut. Wenn sich die EU darauf konzentriert, dann wird sie auch bestimmt wieder mehr Zustimmung erfahren."
    "Das EU-Parlament könnte den Brexit-Deal ablehnen"
    An allzu vielen Projekten wird der Schotte David Martin nicht mehr mitwirken können. In etwa zwei Jahren nach dem Brexit wird er nur noch mit darüber befinden, wie das künftige Verhältnis der EU zu seiner Heimat aussehen soll. Denn sind die Verhandlungen mit London erst einmal abgeschlossen, muss der Deal von einer qualifizierten Mehrheit der verbliebenen 27 EU-Staaten abgesegnet werden. Und auch das EU-Parlament muss mit einfacher Mehrheit zustimmen. Genau das bereitet David Martin allerdings Sorgen:
    "Ich versuche der britischen Regierung klarzumachen, dass das Europäische Parlament am Ende einer Legislaturperiode immer sehr streitbar ist. Mehrere Male hat es zum Beispiel schon Haushaltsentwürfe abgelehnt – vor allem, um ein politisches Zeichen zu setzen. Und ich befürchte, dass das Parlament deshalb auch den Brexit-Deal ablehnen könnte, unabhängig davon, was drin steht."
    Die Angst vor dem wirtschaftlichen Risiko des Alleingangs
    Großbritannien könnte also ohne ein Abkommen aus der EU ausscheiden, was für das Land größere wirtschaftliche Risiken bedeuten würde, erklärt Martin. Der Labour-Politiker hofft deshalb auf einen Kompromiss – und eine Vermittlerrolle britischer EU-Parlamentarier.
    "Wir stehen ja quasi mit jeweils einem Fuß in beiden Lagern. Und können deswegen beide Seiten beeinflussen. Einige meiner Kollegen werden alles tun, um Brücken zu bauen. Damit wir, so gut es geht, mit Europa verbunden bleiben, sei es in Sachen Erasmus oder dem Binnenmarkt. In all den Bereichen also, die neu verhandelt werden müssen."