Samstag, 27. April 2024

Hamas
Die Geschichte einer Radikalisierung

Seit Ende der 80er-Jahre ist die Hamas politische Partei, soziale Bewegung und Terrororganisation zugleich. Seit 2006 beherrscht sie den Gazastreifen. Wo liegen ihre Wurzeln und wie geeint ist die Hamas?

15.03.2024
    Ein maskierter Hamas-Anhänger schwenkt die Hamas-Flagge. Er nimmt an einer Kundgebung zum 34. Jahrestag der Gründung der islamistischen Bewegung Hamas im Flüchtlingslager Jabalya im nördlichen Gazastreifen teil.
    Mit karitativer Hilfe und Gewalt: Die Hamas ist in Teilen der palästinensischen Bevölkerung fest verankert. (picture alliance / ZUMAPRESS.com / Ahmed Zakot)
    Circa 1.200 Menschen haben die Hamas-Kämpfer getötet, als sie am frühen Morgen des 7. Oktobers 2023 israelisches Gebiet überfielen. Seit dem brutalen Terrorangriff ist die Hamas wieder in aller Munde. Israel hat daraufhin den Gazastreifen mit dem erklärten Ziel angegriffen, die Hamas zu vernichten.

    Inhalt

    Die Bedeutung der Muslimbrüder in Ägypten

    Gegründet wurde die Hamas 1987. Doch ihre Entstehung reicht weiter zurück als das Gründungsdatum und es ist auch die Geschichte einer Radikalisierung.
    Die heutige Hamas ist aus den ägyptischen Muslimbrüdern hervorgegangen. Diese wurde 1928 von dem damals noch jungen Grundschullehrer Hasan Al-Banna gegründet.
    Anfangs seien die Muslimbrüder vor allem eine moderne Frömmigkeitsbewegung gewesen, sagt die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer. "Aus dieser Bewegung hat sich im Laufe der 1930er-Jahre eine stärker politisch orientierte Bewegung herausgebildet, die sich in ganz Ägypten ausbreitete."

    Politisierung durch Konflikt um Palästina

    Im Kern ging es den Muslimbrüdern neben gesellschaftlichen Reformen im Sinne des Islam auch gegen die Fremdbestimmung jeglicher Art. Die richtete sich vor allem gegen die Briten, die in Ägypten sehr präsent waren. Aber auch der Konflikt um Palästina sei wichtig im Politisierungsprozess der Muslimbrüder gewesen, sagt Krämer.
    Antisemitisch haben sich die Muslimbrüder anfangs nicht geäußert. Hasan Al-Banna habe sich explizit gegen jeden Rassismus gewandt.
    "Aber in die Propaganda gegen den Zionismus und gegen den Staat Israel sind auch heftige antijüdische Elemente eingeflossen", so Krämer. Während des ersten arabisch-israelischen Krieges von 1947 bis 1949 haben die Muslimbrüder jüdische Firmen in Ägypten angegriffen. Sie wurden beschuldigt, Agenten der Zionisten zu seien.

    Der lange Arm der Muslimbrüderin den Gazastreifen

    1949 wurde Hasan Al-Banna von einem Unbekannten ermordet. Die Muslimbrüder waren erstmals orientierungslos. Beim ägyptischen Militärputsch 1952 unterstützen sie die Putschisten. Die Allianz hielt aber nicht lange, schließlich wurden die Muslimbrüder sogar kurzfristig von den Putschisten verboten.
    Während der ägyptischen Herrschaft über den Gazastreifen von 1948 bis 1967 waren die Muslimbrüder dort tonangebend. Unter israelischer Besatzung seit 1967 entfalteten ihre Vertreter in Gaza zunehmend Aktivitäten und kümmerten sich in erster Linie um die sozialen Probleme und Bedürfnisse der palästinensischen Bevölkerung. 

    Die Gründung der Hamas 1987

    Anfang Dezember 1987 begehrten die Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland auf. Es war der Beginn der ersten Intifada, des Aufstands der Palästinenser gegen Israel.
    Der Führer der radikal-islamischen Palästinenserorganisation Hamas, Ismail Hanija (l), und Jihia al-Sinwar (r), der Chef der Gaza-Hamas, winken am 14.12.2017 in Gaza bei einer Demonstration, die anlässlich der Gründung der Bewegung vor 30 Jahren stattfindet.
    Feiern zum 30-jährigen Bestehen der Hamas im Jahr 2017. Ismail Hanija (l), und Jihia al-Sinwar (r) - die wichtigsten Führer der Hamas (picture alliance / Wissam Nassar / dpa / Wissam Nassar)
    Am 14. Dezember gründete sich die Hamas als Ableger der Muslimbrüder. Der Name Hamas steht als Abkürzung für "Organisation des islamischen Widerstands", sie bedeutet auf Arabisch aber auch Eifer oder Kampfgeist.
    Die Organisation hat seitdem einen karitativen Zweig und betreibt Schulen, Waisenhäuser und Krankenhäuser. Sie ist aber auch politische Partei und hat mit den Qassam-Brigaden auch einen militärischen Zweig.

    Hamas-Charta: Militanz als Profil

    Für die damals noch kleine Hamas sei die Intifada eine Chance gewesen, Profil zu zeigen und sich von der deutlich größeren Partei Fatah abzugrenzen, sagt Gudrun Krämer, die bis zu ihrer Emeritierung das Institut für Islamwissenschaften an der Freien Universität Berlin geleitet hat.

    Um sich gegen Fatah zu profilieren, hat sich Hamas zu früher Stunde sehr militant positioniert und mit ihrer berüchtigten Charta von 1988 nicht nur eine antiisraelische und antijüdische, sondern durchaus auch eine antisemitische Agenda proklamiert.

    Gudrun Krämer, Islamwissenschaftlerin
    Die Gründungscharta von 1988 nimmt die Grundüberzeugung von Hassan Al-Banna mit auf. Dort heißt es: “Gott ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung."
    Das Bild zeigt die Ruinen eines Hauses - darin hängen Fahnen der Hamas
    Von Israelis zerstört: Die Ruine eines Hauses eines Hamas-Führers im Westjordanland (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Majdi Mohammed)
    Die Hamas-Charta propagiert darüber hinaus auch den Heiligen Krieg und Märtyrertod: "Der Dschihad ist unser Weg. Der Tod für Gott ist unser nobelster Wunsch", heißt es weiter.
    Auch die Vernichtung der Juden sei in die Charta eingeflossen, sagt Krämer. "Die Muslimbruderschaft in Gaza war unter israelischer Besatzung toleriert.“ Als sich dann aber die Hamas als politische Organisation mit ihrem radikalen Programm gezeigt habe, „war das auf israelischer Seite natürlich eine andere Linie. Sie wurde dann von den israelischen Behörden verboten, hat sich aber dennoch weiter entwickelt." 

    Die Wahlen in den palästinensischen Autonomiegebieten von 2006

    Im Jahre 2004 starb der Anführer der palästinensischen Befreiungsbewegung, Yassir Arafat. Damit verlor die Bewegung ihren charismatischen Anführer. Das bot der Hamas die Chance, ihren Einfluss zu stärken. Bei der Parlamentswahl zum Palästinensischen Legislativrat Anfang 2006 siegte die Hamas gegen die Fatah mit 56 Prozent der Stimmen. 
    Fatah-Chef Mahmoud Abbas und Hamas-Führer Ismail Hanija sitzen auf Stühlen und sprechen über den innerpalästinensischen Konflikt
    Schlechte Stimmung: Fatah-Chef Mahmoud Abbas und Hamas-Führer Ismail Hanija reden über innerpalästinensischen Konflikt (picture-alliance / dpa / epa Palestinian Authority)
    Doch die Regierung unter dem Hamas-Premierminister Ismail Hanija wurde international nicht anerkannt. Die neue Autonomiebehörde geriet in eine Finanzkrise. Als der Kampf zwischen Fatah und Hamas im sogenannten "Bruderkampf" um die innenpolitische Herrschaft offen ausbrach, teilte die Autonomiebehörde ihr Machtmonopol: Die Fatah-Regierung ging nach Ramallah im Westjordanland. Die Hamas-Regierung installierte sich in Gaza-Stadt und ist dort seitdem ununterbrochen an der Macht.

    De-facto-Regierung im Gazastreifen

    Manche sprechen inzwischen von einer islamistischen Diktatur, denn für die rund 2,2 Millionen Einwohner des Gazastreifens hat es seit 2006 keine Wahlen mehr gegeben. Der Gazastreifen ist ein Küstenabschnitt am Mittelmeer, zwischen sechs und 14 Kilometer breit und rund 45 Kilometer lang.
    Die Karte zeigt die Lage und Größe des Gazastreifens
    Die Karte zeigt die Lage und Größe des Gazastreifens (picture-alliance / dpa-infografik / Deutschlandradio)
    Der Korrespondent Benjamin Hammer war zuletzt 2022 im Gazastreifen: „Es sah alles deutlich professioneller aus und hat für mich auch noch mal verdeutlicht, wie sich die Hamas im Gazastreifen eingerichtet hat, stabilisiert hat und immer mehr eigene Regierungsstrukturen aufgebaut hat. Die Hamas ist an der Stelle eben die De-facto-Regierung im Gazastreifen.“
    Nach ihrer Machtergreifung hat die Hamas die Ministerien und Behörden, die sie aufbaute, mit ihrem schon bestehenden breiten Moscheen-Netz verknüpft, sagt der Nahostexperte Joseph Croitoru. "Die Moscheen", so Croitoru weiter, "dienten auch als Basis für die Indoktrinierung der Bevölkerung im Sinne der Hamas." So sei alles immer mehr verzahnt worden, so dass die Hamas großen Einfluss auf die Bevölkerung im Gazastreifen erlangen konnte.

    Die Hamas und die Zweistaatenlösung

    In den 1990er-Jahren gab es Friedensverhandlungen zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) unter Leitung von Yassir Arafat. In den Oslo-Verträgen haben sich beide Seiten offiziell anerkannt. Vieles deutete auf einen geordneten Übergang in Richtung einer Zweistaatenlösung.
    Die Hamas stand der Anerkennung und den Zugeständnissen gegenüber Israel stets kritisch bis feindlich gegenüber. Mit der PLO lieferte sie sich einen blutigen Machtkampf. Es gab Anschläge der Hamas gegen Israel, auch um den Friedensprozess zu hintergehen.
    Nach der Wahl 2006 sagte der frischgewählte Ministerpräsident Ismael Hanija: „Bewaffneter Widerstand und bewaffneter Kampf sind unsere Strategie und unser Weg, um das Land Palästina zu befreien – vom Mittelmeer bis an den Jordan.“
    Der englische Slogan „from the river to the sea“ (vom Fluss bis ans Meer) stammt zwar nicht von der Hamas, wird ihr aber seitdem zugerechnet und als antisemitisch bewertet. So hat Bayern den Slogan unter Strafe gestellt, weil er dazu aufrufe, Israel zu vernichten und stattdessen einen palästinensischen Staat vom Jordan bis zum Mittelmeer zu errichten - also auf dem Gebiet, auf dem auch Israel liegt. 

    "Sprachakrobatik" um die Zweistaatenlösung

    Laut der Islamwissenschaftlerin Krämer gab es innerhalb der Hamas ab 2006 auch andere Stimmen. Diese Stimmen seien in einem Zusatzdokument zur Charta von 88 deutlich geworden, das 2017 veröffentlicht wurde. Darin wird die vorläufige Anerkennung eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 thematisiert.
    Doch sei in dem Zusatzdokument eine gewisse „Sprachakrobatik“ zu erkennen, findet Benjamin Hammer, ehemaliger Korrespondent in Tel Aviv. Bemerkenswert sei die Anerkennung der Grenzen von 1967: „Das ist die internationale Position - zwei Staaten mit einem Staat Palästina im Westjordanland, im Gazastreifen und in Ostjerusalem. Das hat die Hamas so halb anerkannt, ohne Israel anzuerkennen und ohne Abstand zu nehmen von ihren Vernichtungsfantasien gegen Israel.“
    Dass sich diese Vernichtungsfantasien am 7. Oktober durchgesetzt haben, könnte innerpalästinensische Gründe haben, so Hammer: „Es gibt Hinweise, dass in größeren Teilen der palästinensischen Bevölkerung die Hamas für ihre Taten nicht verurteilt, sondern auch gefeiert wird, sie sich also als politische Bewegung gegenüber der Fatah Bewegung behaupten kann.“

    nm