Der Angriff der radikalislamischen Hamas vom 7. Oktober 2023 auf Israel bedeutet den Beginn eines weiteren Kriegs im Nahen Osten. Israel hat als Reaktion auf die überraschende Terrorattacke eine massive Militäroperation gegen den von der Hamas kontrollierten Gazastreifen begonnen.
Der Terror der Hamas richtete sich während des Angriffs gegen die israelische Zivilbevölkerung, auch Kinder und alte Menschen wurden ermordet. Nach israelischen Regierungsangaben sind bei dem Terrorangriff und an den folgenden Tagen mehr als 1.400 Menschen getötet worden. Mindestens 240 Menschen seien zudem von der Hamas in den Gazastreifen verschleppt worden, darunter auch deutsche Staatsbürger. Durch Israels Vergeltungsschläge im Gazastreifen wurden nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums bis zur Einstellung der Zählung am 10. November mehr als 11.000 Menschen getötet. Die Zahlen sind von unabhängiger Seite nicht überprüfbar, gelten aber international als plausibel.
Die Geschichte des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern ist lang und blutig, mit vielen Kriegen und Krisen. Der Staat Israel wurde vor 75 Jahren gegründet – drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit dem Mord an sechs Millionen europäischen Juden durch Nazi-Deutschland. Seit dem Tag seiner Gründung muss sich Israel gegen seine Feinde militärisch verteidigen.
Der Großangriff durch die Hamas wird auch als Israels „9/11“ bezeichnet - ein Vergleich mit den islamistischen Terrorattacken auf die USA am 11. September 2001. Der Historiker Moshe Zimmermann sprach im Deutschlandfunk von einem „Pogrom“. Laut Israels Präsident Izchak Herzog wurden seit dem Holocaust nicht mehr so viele Juden an einem Tag getötet wie bei der Hamas-Attacke.
Was will die Hamas mit dem Angriff erreichen?
Experten sehen mehrere Motive für den Angriff auf Israel: So wolle die Hamas den Friedensprozess Israels mit Saudi-Arabien torpedieren und sich als führende Kraft im Kampf der Palästinenser profilieren, heißt es. Zudem könne der Großangriff als Versuch gewertet werden, die innenpolitische Polarisierung in Israel wegen der hochumstrittenen Justizreform der weit rechts stehenden Koalition von Premierminister Benjamin Netanjahu auszunutzen. Das Timing des Angriffs bezog sich offenbar auf den 50. Jahrestag des Beginns des Jom-Kippur-Kriegs im Oktober 1973.
Ziel der Hamas sei die Zerstörung Israels, sagt Kobi Michael vom Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS) in Tel Aviv. „Sie glauben seit Jahren, dass sie die Erlösung durch bewaffneten Kampf herbeiführen können. Ihr Ziel ist es, größte Angst unter der Bevölkerung und Misstrauen zwischen Zivilgesellschaft und Militär zu säen.“
Die Hamas wurde 1987 gegründet. Der Name steht für "Organisation des islamischen Widerstands", bedeutet auf Arabisch aber auch "Eifer" oder "Kampfgeist". Die Hamas ging aus dem palästinensischen Zweig der fundamentalistischen Muslimbruderschaft hervor. Die Gruppe entstand in Opposition zu der kompromissbereiteren Fatah-Partei des langjährigen Palästinenser-Führers Jassir Arafat.
In ihrer Gründungsurkunde nennt die Hamas die Eroberung Israels und einen islamischen Staat Palästina an dessen Stelle als Ziel. Dazu bedient sie sich antisemitischer Klischees von einer jüdisch-zionistischen Weltverschwörung. Neben ihrem militärischen Arm, den Kassam-Brigaden, besteht die Hamas aus einem sozialen Hilfswerk und einer politischen Partei.
Die Hamas wird von der EU, USA und Israel als Terrororganisation eingestuft. 2006 wurde sie stärkste Kraft bei den Wahlen in den palästinensischen Gebieten. 2007 übernahm die Organisation nach Konflikten mit der Fatah-Partei die Kontrolle über den Gazastreifen.
Welche Rolle spielt der Iran in dem Konflikt?
Der Sicherheitsexperte Peter Neumann vom Londoner King’s College hält Iran für einen "wichtigen Unterstützer" israelfeindlicher Terrorgruppen. Direkt angegriffen hat Iran Israel bisher nicht. Eine solche offene Auseinandersetzung wäre für den Iran selbst ein großes Risiko, meint der Experte.
Der Historiker Michael Wolffsohn spricht von einem „strukturellen Konflikt um die Dominanz im Nahen Osten“ und verweist auf die Abhängigkeit Europas vom dortigen Öl und Erdgas: „Wenn, wie es sich momentan abzeichnet, der Iran die dominante Macht wird, dann gucken auch wir in Deutschland und Europa etwas seltsam aus der Wäsche. Mit anderen Worten: Hier geht es um sehr viel mehr als um die Gegenaktion zu diesem schrecklichen Überfall.“ Der Iran sei der „eigentliche Regisseur“ des Hamas-Angriffs.
Offiziell wäscht das diktatorische Mullah-Regime seine Hände in Unschuld, lobt aber zugleich den Hamas-Angriff. Das geistliche Oberhaupt des Iran, Ajatollah Ali Chamenei, wies eine Beteiligung seines Landes an der Attacke auf Israel zurück. Die von manchen in Israel und von seinen Unterstützern verbreiteten "Gerüchte", wonach der Iran hinter der Attacke stecke, seien "falsch", sagte Chamenei. "Natürlich verteidigen wir Palästina, wir verteidigen die Kämpfe", sagte er aber auch - und rief "die ganze islamische Welt" auf, "die Palästinenser zu unterstützen".
Zugleich warnte das Regime in Teheran, dass bei einem weiteren Vorgehen Israels gegen die Palästinenser eine Ausweitung des Konflikts drohe. "Wenn die zionistischen Aggressionen nicht aufhören, haben alle Parteien in der Region die Finger am Abzug", zitierte die Nachrichtenagentur Fars rund eine Woche nach dem Beginn des neuerlichen Kriegs den iranischen Außenminister Hossein Amirabdollahian.
Der iranische Präsident Ebrahim Raissi forderte Frankreich in einem Telefonat mit Präsident Emmanuel Macron am 15. Oktober auf, dabei zu helfen, "die Unterdrückung" der Palästinenser zu verhindern. Die Lage werde noch komplizierter, wenn "Israel seine Verbrechen" nicht beende, sagte Raissi staatlichen iranischen Medien zufolge in dem Gespräch.
Welche Gefahr droht Israel durch die Hisbollah?
Israel hat viele Feinde in der Region, das Land muss unter anderem die Waffen der 1982 gegründeten Hisbollah („Partei Gottes“) aus dem Libanon fürchten. Das Waffenarsenal der Hisbollah gilt als militärisch deutlich gefährlicher als das, was die Hamas im Gazastreifen aufzubieten hat. Es kam bereits zum Beschuss israelischer Stellungen aus dem Libanon. Die Hisbollah verkaufte dies als Solidaritätsbekundungen mit der Hamas.
Die sunnitische, palästinensische Hamas und die schiitischen Hisbollah-Milizen im Libanon hätten in den vergangenen Jahren „eine engere Beziehung“ aufgebaut, sagte der Terrorismusforscher Peter Neumann. Der „Hauptsponsor“ beider Gruppen sei das Regime im Iran, das ganz offensichtlich auch die Hamas in den vergangenen Jahren systematisch mit Waffenlieferungen und finanziell unterstützt habe.
„Von daher würde es Sinn machen, dass man so eine Attacke koordiniert“, so der Forscher. Ein gleichzeitiger Beschuss aus dem Norden durch die Hisbollah und im Süden durch Hamas sei „nicht ganz unrealistisch“ und wäre ein „Albtraum-Szenario“ für Israel. Als Reaktion auf die jüngsten Attacken hat das israelische Militär unter anderem seine Truppenpräsenz im Norden des Landes verstärkt und die Grenze zum Libanon abgeriegelt.
Über die gemeinsame Feindschaft zu Israel seien sich Hisbollah und Hamas nähergekommen. „Die Hisbollah ist eine Gruppe, die im Prinzip von den iranischen Revolutionären Garden in den 1980er-Jahren gegründet, ausgebildet und ausgestattet wurde. In Teilen des Libanon ist Hisbollah nicht nur eine Miliz, sondern im Prinzip quasi eine Armee - also sehr gut ausgestattet, sehr gut trainiert“, sagt Neumann.
Die Gefechte an der libanesisch-israelischen Grenze intensivierten sich in den vergangenen Wochen. Mit Blick auf diese Gefechte sagte Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah laut einer Rede von Anfang November, seine Organisation sei bereits im Krieg mit Israel. Eine weitergehende Rolle als Kriegspartei sprach er jedoch nicht an. Ob das tatsächlich nicht geplant ist, sei letztlich nicht zu beurteilen, erklärt Peter Lintl, Nahost-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Zudem könnten etwa eine fehlgeleitete Rakete und darauf folgende israelische Gegenschläge die Hisbollah in den Krieg ziehen.
Wie stehen andere Länder in der Region zu Israel?
Die Reaktionen auf den Hamas-Angriff fielen in den Staaten des Nahen Ostens sehr unterschiedlich aus. Auf politischer Ebene gab es einige Länder wie Katar, Irak und Syrien, die sich klar hinter die Hamas und die Palästinenser stellten und den Israelis die Schuld zuwiesen. Im Jemen fanden auch öffentliche Solidaritätskundgebungen mit der Hamas statt.
Andere Länder reagierten zurückhaltender und diplomatischer - wie beispielsweise Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate. Dies könnte auch an dem jüngsten Annäherungsprozess mehrerer Länder mit Israel liegen.
Doch wenn man nicht auf die offizielle Regierungsebene, sondern auf die Bevölkerungen der Länder schaut, sieht die Lage anders aus. Ägypten hat zum Beispiel schon lange einen Friedensvertrag mit Israel, doch viele Ägypter applaudieren der Hamas und verurteilen Israel.
„Was wir gesehen haben in den letzten Jahren ist tatsächlich eine Aussöhnung, eine Annäherung, Friedensabkommen zwischen Israel und mehreren seiner arabischen Nachbarn“, sagt der Sicherheitsexperte Peter Neumann und spricht von einem „historischen Prozess“. Staaten, die jahrzehntelang Israel bekämpft hätten, normalisierten jetzt ihr Verhältnis zu dem Land. Da entstehe möglicherweise sogar eine „Art antiiranische Allianz“.
Israel hatte in den vergangenen Jahren politische und wirtschaftliche Beziehungen zu Marokko, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Sudan aufgenommen. Auch ein Friedensabkommen zwischen Israel und Saudi-Arabien habe kurz vor dem Abschluss gestanden, so Neumann. Ein solches Abkommen hätte als Domino-Effekt in der Region wirken können.
„Das haben die Iraner, wenn sie hinter diesem Angriff stecken – direkt oder indirekt - natürlich erst einmal torpediert“, sagt der Sicherheitsexperte. Denn es werde jetzt dauern, bis man wieder über Frieden sprechen könne.
US-Außenminister Antony Blinken betonte nach Besuchen in Jordanien, Bahrain, Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien und Ägypten, alle diese Länder seien entschlossen, eine Ausweitung des Konflikts zu stoppen. Dafür müsse alles getan werden.
Wie reagieren die USA und der Westen?
US-Präsident Joe Biden verurteilte in einer ersten Reaktion den Hamas-Terrorangriff aufs Schärfste. Er sicherte Israel die "felsenfeste und unumstößliche" Unterstützung der Vereinigten Staaten zu und warnte die Feinde Israels eindringlich davor, die jetzige Lage auszunutzen.
Das Pentagon entsendete eine Flugzeugträgerkampfgruppe ins östliche Mittelmeer. Die „USS Gerald R. Ford“ mit rund 5.000 Matrosen sowie Kampfjets an Bord soll von Kreuzern, Zerstörern und weiteren Schiffen und Flugzeugen begleitet werden. Zudem werden Waffen an Israel geliefert.
Zugleich warnte Biden Israel knapp eine Woche nach dem Großangriff der Hamas Israel vor einer erneuten Besetzung des Gazastreifens: "Ich denke, das wäre ein großer Fehler", sagte Biden in einem am 15. Oktober ausgestrahlten Interview mit dem Sender CBS. Die extremen Elemente der Hamas würden nicht das gesamte palästinensische Volk repräsentieren. Es sei jedoch eine Notwendigkeit, "die Extremisten auszuschalten".
Auch die Staats- und Regierungschefs von Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien sicherten Israel unmittelbar nach dem Terrorangriff der Hamas ihre volle Solidarität zu. Zugleich verurteilten sie die "entsetzlichen Terrorakte" der Hamas und kündigten ein vereintes und koordiniertes Vorgehen an.
Am 15. Oktober veröffentlichen die 27 EU-Staaten eine gemeinsame Erklärung, in der sie ebenfalls den brutalen Angriff der Hamas auf Israel verurteilten und das Recht Israels auf Selbstverteidigung betonten. "Es gibt keine Rechtfertigung für Terror", heißt es in der Erklärung des EU-Rats der Staats- und Regierungschefs. Israel müsse sich verteidigen. Wichtig sei aber auch, das Leben von Zivilisten zu schützen.
Am 15. November einigte sich der UN-Sicherheitsrat erstmals auf eine Resolution zu Gaza, die völkerrechtlich bindend ist. Der Weltsicherheitsrat, das mächtigste Gremium der Vereinten Nationen, forderte eine Feuerpause, die Einrichtung von Fluchtkorridoren im Gazastreifen und die sofortige Freilassung aller von der Hamas entführten Geiseln. Nun liegt es an den UN-Mitgliedsstaaten, ihrer Verpflichtung nachzukommen und sich dafür einzusetzen, dass die Forderungen erfüllt werden.
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