Freitag, 03. Mai 2024

Krieg in Nahost
Wie die Zukunft des Gazastreifens aussehen könnte

Als Reaktion auf die Anschläge der Terrororganisation Hamas hat die israelische Regierung die Zerschlagung der palästinensischen Gruppierung angekündigt. Doch kann das gelingen? Und wer würde nach Kriegsende im Gazastreifen regieren? Ein Überblick.

26.11.2023
    Menschen auf der Straße im südlichen Gazastreifen während der Waffenruhe
    Die Straßen füllen sich: Menschen im südlichen Gazastreifen nutzen die Waffenruhe. (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Yomiuri Shimbun)
    Nach dem Terrorüberfall der militant-islamistischen Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel hat Premierminister Benjamin Netanjahu angekündigt, die terroristische Palästinenserorganisation zerschlagen und zerstören zu wollen. Laut israelischen Angaben wurden bei Luftangriffen und dem Einsatz von Bodentruppen im Gazastreifen inzwischen bereits ranghohe Mitglieder der Hamas getötet und Teile ihrer Tunnelsysteme zerstört.

    Inhalt

    Über ihre langfristigen Pläne nach einem Sieg über die Hamas hat sich die israelische Regierung bisher nur vage geäußert. In einer der ersten öffentlichen Äußerungen dazu sagte Netanjahu, Israel werde nach dem Krieg für unbestimmte Zeit die Sicherheitsverantwortung für den Gazastreifen übernehmen. Gleichwohl hieß es aus Regierungskreisen, Israel sei nicht daran interessiert, das Gebiet zu regieren. Verteidigungsminister Joaw Gallant betonte, nach dem Krieg würden weder Israel noch die Hamas den Gazastreifen regieren.
    Viele Expertinnen und Experten bezweifeln jedoch, dass eine Terrororganisation allein mit militärischen Mitteln besiegt werden kann. Zumal die Hamas - ähnlich wie die Hisbollah im Libanon - nicht nur eine militärisch-terroristische Organisation, sondern auch eine religiöse und soziale Bewegung ist.

    Kann die Hamas zerschlagen werden?

    Die Einschätzung von Expertinnen und Experten hängt davon ab, wer oder was zerschlagen werden soll. So hält der Islamwissenschaftler Guido Steinberg etwa eine Zerschlagung der militanten Terrororganisation durchaus für möglich. Diese umfasse etwa 15.000 bis 20.000 Mann. Das aktuelle Bild der Stärke der Hamas sei geprägt von den Ereignissen am 7. Oktober in Israel. Dabei habe die Terrororganisation aber von den "schweren Fehlern vor allem des israelischen Militärs profitiert" und konnte deswegen mehr als 1400 Menschen töten und viele weitere in den Gazastreifen entführen.

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    Eine Zerschlagung der Terrorstrukturen der Hamas sei jedoch nur möglich, wenn die israelische Armee den gesamten Gazastreifen durchkämme und die Stadt Gaza einnehme, so Steinberg. Dies bedeute hohe Verluste aufseiten der israelischen Armee und unter palästinensischen Zivilisten. Die israelische Regierung sei jedoch bereit, das in Kauf zu nehmen.

    Soziale Basis der Hamas

    Viel schwieriger hingegen, auch da sind sich viele Expertinnen und Experten einig, ist die Zerschlagung der Hamas als soziale Bewegung. Im Gegensatz zu Terrorgruppierungen wie El Kaida oder dem "Islamischen Staat" habe die Hamas eine soziale Basis mit "Zehntausenden, wahrscheinlich sogar Hunderttausenden Mitgliedern". Auf diese werde sich die Hamas wieder berufen können, so Steinbergs Einschätzung.
    Der "Zeit"-Journalist Yassin Musharbash sieht das ähnlich. Nach dem Krieg bestehe die reale Gefahr, dass im Gazastreifen neue Terroristen heranwachsen. Das größte Problem sei das Denken, die Ideologie, so Musharbash. "Eine Ideologie können Sie mit Bomben nicht zerstören, nur mit einem besseren Angebot."

    Besseres Leben als unter der Hamas

    Nach dem Ende der Kampfhandlungen müsse der Bevölkerung von Gaza deswegen sehr schnell eine bessere Zukunft aufgezeigt werden: "Ein Leben, das besser ist als unter der Hamas." Beispielsweise mit einer besseren medizinischen Versorgung, einer Verbesserung der ökonomischen Situation. Nur dann werde die Ideologie der Hamas nicht innerhalb von ein paar Jahren eine Folgeorganisation hervorbringen, "die sicher nicht friedlicher sein wird", so Musharbash.
    In der Bekämpfung der Ideologie der Hamas sieht der Publizist Michel Friedman die größte Herausforderung. Auch er hält die Zerstörung der Waffen und militärischen Infrastruktur der Terrorgruppe für realistisch, doch solange Menschen von Kindheit auf indoktriniert und zur Gewalt geführt würden, eine Hassfigur bekämen und ein Versprechen, dass, wenn sie sich sogar selbst umbringen, sie ins Paradies kämen, "dann ist es nicht schwer, andere dafür umzubringen", so Friedman.

    Wie sieht der Waffenstillstand aus?

    Israel und die Hamas haben sich auf eine viertägige Waffenruhe geeinigt, die am 24.11. in Kraft getreten ist. Die Hamas begann damit, täglich Gruppen von Geiseln freizulassen. Schrittweise sollten 50 der rund 240 Geiseln der Hamas freikommen – darunter 30 Frauen und 20 Kinder. Im Gegenzug begann Israel damit, 150 palästinensische Häftlinge, ebenfalls Frauen und Minderjährige, freizulassen.
    Außerdem sollen insgesamt 200 Lastwagen mit Hilfsgütern sowie vier Tanklaster die Grenze zum Gazastreifen überqueren.
    Die „Times of Israel“ berichtet unter Berufung auf den Beschluss des israelischen Kabinetts, dass die Feuerpause auf bis zu zehn Tage verlängert werden kann. Das gilt aber nur für den Fall, dass die Hamas weitere Geiseln freilässt. Aus Katar heißt es zudem, dass man hoffe, am vierten Tag der vereinbarten Waffenruhe ein Folgeabkommen über die Freilassung weiterer Geiseln zustande bringen zu können.
    Israels Premierminister Benjamin Netanjahu bekräftigte, dass der Krieg gegen die Hamas auch nach der Waffenruhe weitergehen werde – solange bis man alle Ziele erreicht und die militärische Schlagkraft der Terrororganisation zerstört habe. Das habe er auch Präsident Biden so mitgeteilt, erklärte Netanjahu.
    Die Einigung zwischen Israel und der Hamas auf eine mehrtägige Waffenruhe sowie die geplante Freilassung eines Teils der Geiseln war international begrüßt worden. US-Präsident Joe Biden hatte in Washington erklärt, nun sei es wichtig, dass alle Aspekte der Vereinbarung auch umgesetzt würden. Und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hatte von einem "Durchbruch" gesprochen.

    Viele Zivilisten unter den Opfern

    Der Ruf nach einer Waffenruhe war zuletzt immer stärker geworden. Israel habe das Recht und die Pflicht, seine Bevölkerung vor der Hamas zu schützen und gegen die Terroristen der Hamas vorzugehen, betonte "Zeit"-Journalist Yassin Musharbash. Bei der Art der Kriegsführung, die Israels Armee und die Regierung gewählt haben, würden aber zu viele zivile Opfer in Kauf genommen. Mindestens eine Feuerpause sei dringend geboten, damit humanitäre Abhilfe geleistet werden könne.
    Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hatte eine Feuerpause schon Mitte November gefordert. Das Ratsmitglied Malta brachte eine Resolution ein, in der unter anderem "dringende und ausgedehnte humanitäre Pausen und Korridore im gesamten Gazastreifen für eine ausreichende Anzahl von Tagen" gefordert werden, um im Einklang mit dem Völkerrecht humanitäre Hilfe zu gewährleisten. 12 der 15 Ratsmitglieder stimmten für den Text, über den lange gerungen worden war. Die USA, Russland und Großbritannien enthielten sich. Resolutionen des Sicherheitsrats sind völkerrechtlich bindend.

    Bereits in der Vergangenheit gab es Feuerpausen

    Israel hatte der Forderung nach längeren Feuerpausen bislang immer eine Absage erteilt, solange sich die Geiseln in der Gewalt der Hamas befänden. Weiter hieß es aus Israel, das Land erwarte vom UN-Sicherheitsrat, "die Hamas eindeutig zu verurteilen und sich zu der Notwendigkeit zu äußern, im Gazastreifen eine neue Sicherheitslage zu schaffen".
    Der israelische Regierungschef Netanjahu hatte zuvor erklärt, Israel sei grundsätzlich bereit, kurzzeitige Feuerpausen zu akzeptieren. Diese könnten dazu dienen, humanitäre Hilfsgüter in den Gazastreifen zu bringen. Es habe in der Vergangenheit bereits solche Pausen gegeben.

    Welche Perspektiven gibt es für Gaza nach dem Krieg?

    Auch wenn der Krieg zwischen Israel und der Hamas noch lange nicht beendet scheint, blickt US-Präsident Joe Biden bereits in die Zukunft und hat israelische und arabische Führungspersönlichkeiten aufgerufen, sich schon jetzt intensiv damit zu beschäftigen, wie es danach weitergehen soll: "Es gibt keinen Weg zurück zum Status quo, wie er am 6. Oktober war."
    Nach Bidens Auffassung muss es eine Zwei-Staaten-Lösung geben. Der Gazastreifen wäre in diesem Szenario vermutlich Teil eines unabhängigen palästinensischen Staates.

    Kleines Zeitfenster nach Zerschlagung der Hamas

    Der "Zeit"-Journalist Yassin Musharbash blickt aktuell auf Gespräche und Lösungen in der Region pessimistisch. Auf keiner Seite gebe es genug Vertrauen, um vernünftig zu reden. Noch dazu könne der Krieg Monate dauern und sich für Israel in einen Mehrfrontenkrieg entwickeln.
    Sollte die Hamas im Gazastreifen aber tatsächlich weitgehend zerschlagen werden, könnte sich zumindest ein kleines Fenster öffnen, das "unter internationaler Vermittlung und unter Beteiligung der arabischen Nachbarstaaten, der palästinensischen Autonomiebehörde durch eine Neustrukturierung die Gelegenheit gibt, mit einem Mandat und im Austausch für Zusagen im Friedensprozess, die Verwaltung von Gaza mit zu übernehmen", so Musharbash.
    Notwendig wäre dafür "ein diplomatisches Fingerspitzengefühl sondergleichen". Wer auch immer sich auf den "Trümmerhaufen" Gaza ohne Mandat oder Zusagen setze, werde im Gazastreifen keine 48 Stunden überleben. Denn er würde als Verräter betrachtet, so Musharbash.
    Der Islamwissenschaftler Steinberg glaubt, dass nach dem Krieg verschiedene Akteure im Gazastreifen aktiv sein werden. Zumindest kurzfristig werde Israel den Gazastreifen wieder besetzen müssen. Die israelische Regierung hatte 2005 alle Siedlungen räumen lassen und den Landstrich verlassen.

    Palästinenser sollen Gazastreifen übernehmen

    Es führe kein Weg daran vorbei, dass Palästinenser im Gazastreifen die Macht übernehmen, so Steinberg. Vor allem in Washington scheine das derzeit das bevorzugte Szenario zu sein, dass "palästinensische Technokraten die Macht übernehmen" und dann mit Israel ausgesöhnte arabische Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain oder Marokko ihre Polizei schickten.
    Die Entsendung internationaler Truppen hält Steinberg für unwahrscheinlich, des es gäbe keine internationale Gemeinschaft mehr: "Es übersteigt meine Fantasie, mir vorzustellen, wie sich die USA und Russland und vielleicht auch noch China im UN-Sicherheitsrat auf eine solche, vielleicht sogar internationale Truppe einigen können."

    nsh