Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel wirft dem russischen Präsidenten in Bezug auf die Ukraine Ahnungslosigkeit und Wirklichkeitsentfremdung vor. Schlögel sagte im Interview der Woche des Deutschlandfunks, Putin habe keine Kenntnis von der postsowjetischen Entwicklung in der Ukraine. Der russische Präsident verstehe nicht, dass sich die Ukraine seit Jahren neu aufstelle. Dort sei eine Generation herangewachsen, die Europa und die Welt aus eigener Anschauung kenne. Putin aber wisse nicht, wie das Land ticke – trotz seiner Beziehungen zu Viktor Medwedtschuk, einem ukrainischen Oligarchen und Chef einer pro-russischen Partei.
Kritik an Begriff der „De-Nazifizierung“
Schlögel ist emeritierter Professor der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder sowie Publizist und Autor zahlreicher Bücher. Er ging im Interview auch darauf ein, dass Putin als Begründung für den Einmarsch in das Land unter anderem eine notwendige Entnazifierung der Ukraine anführe. Er sei fassungslos, so Schlögel.
Schließlich gehe es um eine Regierung mit einem Präsidenten, der russischsprachig aufgewachsen sei und aus einer jüdischen Familie stamme. Insofern bedeute Denazifizierung in Putins Augen, einen jüdischen Präsidenten abzusetzen, zu stürzen oder gar zu verhaften. Der Kreml verbreitet seit Jahren die unbewiesene Behauptung, dass 2014 aus dem Ausland gesteuerte „Faschisten“ einen Staatsstreich in der Ukraine herbeigeführt hätten.
Putin klammert sich an russisches Imperium
Schlögel führte weiter aus, dass Putin sich an das russische ebenso wie an das frühere sowjetische Imperium klammere. Die Bildung von Nationalstaaten setze der russische Präsident mit Nationalismus gleich. Für Putin sei es ein Grundübel, „dass es einen Prozess der Entfaltung der nationalen Kulturen und der Herausbildung von nationaler Staatlichkeit und Souveränität gegeben habe“.
Der russische Präsident hatte am Donnerstag den Angriff auf das Nachbarland Ukraine befohlen. Das russische Militär griff in der Folge von mehreren Seiten an. Der Einmarsch wird international von vielen Ländern als eklatanter Bruch des Völkerrechts verurteilt. Die USA, die EU und andere Staaten haben bereits weitreichende Sanktionen gegen Russland auf den Weg gebracht.
Das Interview im Wortlaut:
Sabine Adler: Herr Schlögel, das Ungeheure ist in dieser Woche geschehen. Nämlich, dass ein Angriffskrieg eines Landes auf ein Nachbarland in Europa geschehen ist, wo wir geglaubt haben, dass die Nachkriegsordnung von 1945 ein so stabiles Gerüst ist, dass das nicht mehr passieren kann. Präsident Putins Luftangriffe auf ukrainische Großstädte wurden begleitet von Bodenoffensiven aus drei Richtungen – von Norden, von Belarus, vom Osten, aus Russland, und vom Süden, von der Krim aus. Putin führt diesen Krieg mit dem – Zitat – Ziel, „er möchte die Nazi-Junta absetzen, er möchte eine Entnazifizierung der Ukraine“. Bewegt sich der russische Präsident in einer anderen Realität als der Rest der Gesellschaft?
Karl Schlögel: Na ja, man ist ja fassungslos, zumal er von Denazifizierung spricht gegen eine Regierung, an deren Spitze ein Präsident steht, der russischsprachig aufgewachsen ist, in der Ukraine, der aus einer jüdischen Familie stammt. Also, Denazifizierung der Ukraine soll, von Putins Augen aus gesehen, mit der Absetzung, dem Sturz oder gar der Verhaftung eines jüdischen Präsidenten passieren.
Also, ich war nicht darauf gefasst, auf diese prägnante und generalstabsmäßig und überlegene Blitzkriegstrategie. Und das besagt einfach, dass selbst eine erfahrene und geschulte Fantasie zurückblickt hinter dem, was von Putin in Gang gesetzt worden ist. Was man dazu sagen soll? Man war innerlich darauf eingestellt, dass etwas passieren würde, aber dass es dann auf diese massive, chirurgisch präzise Weise stattfinden wird, darauf war ich nicht gefasst. Ich hatte am Vorabend noch mit Juri Durkot telefoniert.
Adler: Vielleicht noch ganz kurz als Einschub, Juri Durkot ist ein ukrainischer Übersetzer, ist ein Journalist und Autor, also ein Kollege von Ihnen.
Schlögel: Ja, wir hatten gesprochen über die Möglichkeit, eine Delegation von europäischen Schriftstellern aus allen möglichen Hauptstädten nach Kiew zu schicken und zusammenzubringen und eine wenigstens symbolische Geste des Dabeiseins und der Unterstützung zu organisieren. Am nächsten Morgen war das vorbei. Man traute sich das eigentlich nicht sich einzugestehen, vor allem dann, wenn man alle diese Orte kannte. Und ich bin selber ja viel unterwegs gewesen, ich habe damals die Besetzung von Donezk mitbekommen und darüber ein Stück verfasst, das ich „Urbizid“ genannt habe. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das Wirklichkeit werden würde, oder über Charkiw. Dann kamen Bilder, dass die Charkiwer in der U-Bahn Zuflucht gesucht haben. Das Stück hieß damals – also vor sieben, acht Jahren – „Schaut auf diese Stadt“. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendwann es notwendig sein würde, mit einem gewissen Pathos zu sagen: „Ja, schaut auf diese Stadt“.
„Ahnungslosigkeit und Wirklichkeitsentfremdung“
Adler: Sie haben 2015 nochmal sich ganz ausführlich mit der Ukraine befasst in Ihrem Buch „Entscheidung in Kiew“. Sie waren dafür auch lange im Land dafür unterwegs. Ausgelöst, das Ganze, von der Maidan-Protestbewegung 2013. Wir kennen das – wir haben uns damals auf dem Maidan getroffen –, wir kennen diese Mähr von den Faschisten, von den angeblichen Faschisten in der Ukraine, von den Faschisten auf dem Maidan, aus dieser Zeit. Warum hält Putin eigentlich an diesem Narrativ so fest?
Schlögel: Ja, das ist eine gute Frage. Einmal ist es so, dass dieser Mann von dem, was die Ukraine jetzt ist und geworden ist in den nach-sowjetischen Zeiten, er hat einfach keine Ahnung. Er weiß gar nicht, wie dieses Land tickt, trotz seiner familiären Beziehungen zu Medwedtschuk, also diesem Oligarchen und Chef einer pro-russischen Partei, und vielen Beziehungen, die er natürlich hat. Er versteht nicht, was da vor sich geht und dass das ein Land ist, das seit Jahren sich neu aufstellt, wo eine Generation herangewachsen ist, die in Europa herumgeschwirrt ist und Ahnung hat, wie die Welt draußen tickt. Also, es ist eine Ahnungslosigkeit und Wirklichkeitsentfremdung.
Aber Ihre Frage, das ist tatsächlich die Frage, woher kommt eigentlich diese Schärfe, das Obsessive, dieses Narrativ, von dem er selbst offensichtlich überzeugt ist und dass er seinen Landsleuten beibringen will. Und ich fand diese Rede, es ist ein ungeheures Dokument und mir kam es fast so vor, als sei in dieser einen Stunde seines Vortragens eigentlich der ganze Putin enthalten. Und ich meine nicht nur, was er da gesagt hat – dazu will ich gleich etwas sagen –, sondern wie er gesprochen hat.
Also, diese Kombination von Vorspringen, Zurückgehen, sich zurücklehnen, immer wieder diese Seufzer und das Stöhnen und die Ausbrüche, die man geradezu als Hatespeech, also als Hassreden, verstehen muss. Man hatte den Eindruck, dass er total erfüllt ist von einer bestimmten Vorstellung, und die bestimmte Vorstellung ist – das ist mein Reim, den ich mir darauf mache –, dass für ihn der Gang der Geschichte, der mit dem Zerfall und dem Ende der Imperien eben einhergeht und aus dem in der modernen Zeit Nationalstaaten entstanden sind, dass er das einfach nicht wahrhaben will, negiert, sich dagegen stemmt, es verurteilt und für den Ursprung alles Bösen hält.
Das, was in Europa spätestens mit dem 19. Jahrhundert und dem Ersten Weltkrieg deutlich wurde, dass aus diesen großen Imperien – ob das Habsburg, ob das das Russische Reich, ob das das Osmanische Reich ist – eigenständige Staaten hervorgegangen sind, das versteht er nicht. Dass es einen Prozess der Entfaltung der nationalen Kulturen und der Herausbildung von nationaler Staatlichkeit und Souveränität gegeben hat, das ist für ihn das Grundübel. Er hat keine Vorstellung überhaupt von nationaler Eigenständigkeit und einer freien nationalen Selbstbestimmung.
Und deswegen klammert er sich – das ist eigentlich vordringlich – an das Imperium, und zwar das russische Imperium, aber auch dann das von Stalin neu geschaffene sowjetische Imperium. Und die kurze Zwischenzeit, also nach dem Sturz des Zarismus und der Revolution, wo es tatsächlich so etwas gegeben hat, wie ein Jahrzehnt der nationalen Vielfalt, des Aufblühens nationaler Kulturen in den Zwanzigerjahren, das ist für ihn des Teufels. Und die Wiederherstellung der imperialen Ordnung und die Konstruktion und die gewaltsame Verfertigung des Sowjetvolkes, das eben nicht nur das russische Volk umfasst, das Sowjetvolk, das ist für ihn, das preist er an Stalin. Er preist eigentlich sozusagen die Verfertigung eines zentralen, zentralisierten Staates.
Adler: Sie erinnern an die Rede, die Putin am Montag (21. Februar) gehalten hat, also, es geht um diese lange Rede – über eine Stunde –, in der sich Putin lang und breit ausgelassen hat über die Geschichte. Er qualifiziert Unabhängigkeitsstreben und Eigenständigkeit im Grunde genommen als Nationalismus ab. Und einer der Kriegsbegründungen von Putin hat ja auch gelautet, die Ukraine sei kein eigener Staat, erst Lenin habe die Ukraine dazu gemacht.
Und bevor Sie antworten, Karl Schlögel, möchte ich ganz kurz einen Witz erzählen. Ich habe ihn von einer ukrainischen Freundin aus Kiew und der geht so: Kiew fordert von Moskau, dass der Kreml die Leiche von Lenin aus dem Mausoleum holt und in die Ukraine bringen lässt. Denn wenn schon die Staatsgründung – wie Putin meint – durch den Revolutionsführer erfolgt ist, dann soll Lenin wenigstens in Kiew sein. Also, wie steht es tatsächlich darum, dass Lenin der Staatsgründer der Ukraine gewesen sein soll? Das Narrativ, das Putin in dieser Rede verbreitet hat.
Schlögel: Ja, das ist die These, dass Lenin die Auflösung des russischen Imperiums betrieben hat. Und das ist ja zunächst richtig. Lenin hat die Erklärung der Unabhängigkeit ganz im Zuge der Zeit, genauso wie der amerikanische Präsident Wilson, der seine 14 Punkte über die Selbstbestimmung der Nationen in Europa proklamiert hat, er – Lenin – hat die Proklamation der Unabhängigkeit der Völker benutzt, um das Imperium in die Knie zu zwingen und die Zerstörung dieser Macht zu betreiben. Und dass er selber letztlich nicht für die nationale Unabhängigkeit war, sondern immer für das Vorrecht und den Vorrang der proletarischen Diktatur über die nationale Unabhängigkeit war, das ist völlig klar und das zeigt auch die ganze Entwicklung, die Eroberung der Ukraine durch die Rote Armee.
Man muss wissen, dass in der Zeit nach 1917, nach der Autonomie und Unabhängigkeit, hat die Regierung in Kiew ungefähr 19-mal gewechselt – das ist in „Die weiße Garde“ von Michail Bulgakow ja ausführlich beschrieben. Das heißt, es fand auf ukrainischem Territorium der Kampf statt, der hin und her wogte zwischen der Roten Armee, zwischen den Weißen, zwischen den Grünen, also den Anarchisten, den Bauernaufständischen und mit schrecklichen Ereignissen. Also es gab damals die fürchterlichsten Judenpogrome, und zwar auf beiden Seiten, sowohl der Weißen, aber auch der Roten. Dass Lenin die Auflösung des Imperiums betrieben hat, indem er die nationale Karte gezogen hat, ist vollständig richtig. Aber Lenin war auch für die Reetablierung des Reiches.
Die Gründung der Sowjetunion ist im Grunde ja eine Modernisierung des Russischen Reiches und die Behauptung der Macht der Kommunistischen Partei, der Diktatur des Proletariats und die Durchsetzung. Und Stalin hat nach dieser Übergangszeit der 20er Jahre damit ernst gemacht. Und es ging ja los mit dieser ungeheuren gegen die Hauptkraft der Ukraine gerichteten Klasse, nämlich die Bauern. Die großen Kulakendeportationen, die Erzeugung eines künstlichen Hungers in der Ukraine. Das kommt in dieser Rede von Putin natürlich überhaupt nicht vor, dass es ein großes Massaker an der herausgebildeten ukrainischen kulturellen Elite gegeben hat, schon vor den Säuberungen 1937. Dass es Deportationen gegeben hat und auch nach dem Anschluss der Westukraine nach dem Abkommen Hitler und Stalin oder Ribbentrop und Molotow. Es hat systematische Deportationen aus diesen sogenannten Grenzgebieten gegeben also mit zehntausenden Deportierten aus der Westukraine.
Das ganze Narrativ ist dominiert von der Vorstellung, dass es eigentlich Russland nur als Imperium geben kann und dass die Behauptung einer eigenständigen Ukraine es eigentlich gar nicht geben kann. Die Ukraine gibt es als eigenständiges Subjekt gar nicht. Und in der Rede weiter versucht er ja zu charakterisieren, wie die Ukraine aussieht. Das ist ja ganz fantastisch, dass er sagt, dort gibt es Oligarchen, ja, als gäbe es keine Oligarchen in Russland. Dass es wahnsinnige Korruption gibt, als gäbe es keine Korruption in Russland.
Adler: Karl Schlögel, eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte Russland ist derzeit ja überhaupt nicht möglich, das Geschichtsbild selbst ist ja reglementiert. Das soll vermutlich auch verhindern, dass andere Fragen gestellt werden – zum Beispiel die, ob ein Imperium überhaupt demokratisch sein kann. Also, jetzt der Krieg gegen die Ukraine, die Russland genauso wenig bedroht, wie die NATO oder die USA Russland bedrohen, ist dieser Krieg also ein großes Ablenkungsmanöver, um nicht allzu genau nach innen schauen zu müssen?
Schlögel: Also, die Möglichkeit Russlands, herauszufinden aus der imperialen Existenz, eine Nation zu werden jenseits des Imperiums, sozusagen postimperial und postkolonial, den hat er ja versperrt. Und deswegen ist es die Beseitigung eines politischen und öffentlichen Raums, in dem sich Russland über sich selbst verständigt, in dem es klar kommt mit seiner eigenen Geschichte. Er versperrt den Weg heraus aus einem imperialen Selbstverständnis. Er behindert Russland, den Weg hinaus in eine moderne postimperiale Nation zu finden.
Adler: Es gibt diese häufig anzutreffende Rücksichtnahme mit dem Verweis auf die
Geschichte, auf die deutsche Geschichte, auf die Geschichte Nazi-Deutschlands und der Verbrechen, die eben ja nicht nur gegen das heutige Russland geschehen sind, sondern gegen Belarus und die Ukraine. Eine – wie ich finde – deutsche Ignoranz der ukrainischen und belarussischen Opfer. Aber das geht ja noch weiter. Ist es nicht auch so, dass der permanente jahrzehntelange Kauf von Gas und Öl von Russland, die russische Aufrüstung, die Modernisierung der Armee unter Putin erst möglich gemacht hat und was heißt das eigentlich jetzt für uns heute?
Schlögel: Ja, das ist ganz bestimmt so. Das ist auch der Irrtum oder die falsche Richtung der ganzen Diskussion, die immer sagt, Russland und die Putin-Politik sei nur eine Reaktion auf die äußeren Entscheidungen. Und was immer daran wahr ist an Kränkungserfahrungen, also diese berühmte und berüchtigte Formulierung von Obama, der einfach auch ahnungslos und kenntnislos und taktlos war, über die Regionalmacht, das ist alles wahr. Aber die Aktion und die Bewegung einer so großen Macht, eines so großen Landes, wie es Russland ist, ist nicht dadurch bestimmt und sie lässt sich auch nicht mit therapeutischen Rücksichtnahmen und Behandlungsweisen abstellen.
„Wir sind erst am Anfang von etwas, was auszumalen mir die Fantasie fehlt“
Adler: Der lettische Präsident hat prophezeit, dass dieser Krieg möglicherweise das Ende von Putin sein könnte. Würden Sie sich dem anschließen?
Schlögel: Also, ich habe gelernt in den letzten 30 Jahren, dass Dinge immer passieren, ohne dass man wirklich darauf vorbereitet ist. Die Beispiele sind immer bekannt. Niemand konnte sich die brennenden Türme in New York vorstellen. Niemand konnte sich den Kollaps in 2008 vorstellen. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass Russland 2014 die Krim okkupiert, obwohl es alle möglichen Anzeichen dafür gab. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass Helikopter und Raketen über dem Höhenkloster in Kiew auftauchen werden und dass Charkiw mit Bomben beschossen wird und dass Odessa beschossen wird. Das sind Dinge, die man nicht auf dem Radar hat.
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Also, ich würde keine Prognosen oder so etwas wagen, aber es ist immer so gewesen, dass es eigentlich nebensächlich erscheinende Ereignisse, Vorgänge waren, die Erschütterungen ausgelöst haben, für die längst die Kräfte vorher sich schon angesammelt hatten. Und in der russischen Geschichte sind die Kriege ein sehr bedeutendes Moment immer gewesen. Ob das natürlich der Krimkrieg gewesen ist, ob das der russisch-japanische Krieg war, natürlich der Erste Weltkrieg, also, das waren richtige Zäsuren, die plötzlich die ganze Szenerie und die Kräfteverhältnisse verschoben haben.
Und ich glaube nicht, dass Putin aus dieser Geschichte herauskommt – wie immer er das jetzt noch eingrenzen und unter Kontrolle behalten will. Er hat ja in dieser zweiten Rede, in der Nacht vor dem Angriff eine ungeheure Ausführung gemacht, also diese Ausführung: „Wer immer sich jetzt in der Ukraine einmischt oder sich irgendwie beteiligt, dem werden wir etwas zeigen, was die Welt noch nie gesehen hat.“ Und ich bin der Überzeugung, dass er weitergehen wird. Also, dass man sich darauf gefasst machen muss, dass noch andere Dinge passieren werden.
Und ich möchte nur sagen, dass der Kampf on the ground stattfindet, wo es jetzt bereits Dutzende und Hunderte von Toten und schwere Zerstörung gibt, dass dieser Krieg nicht sozusagen nur als Blitzkrieg, wie er sich den gedacht hat, mit chirurgischen Zugriffen erledigen lässt, sondern dass die Ukraine – das muss man sagen – den Kampf führen wird, in dem sie alleingelassen sind von den Europäern. Deswegen wird diese Rechnung nicht so aufgehen und wir müssen uns auf schreckliche Dinge gefasst machen. Ich wage nicht zu sagen, was passieren wird, wenn sich der russische Einsatz, weil sie eben nicht vorrankommen, radikalisiert.
Und was das bedeutet, das haben wir in Syrien gesehen, wenn Städte bombardiert, wenn Krankenhäuser angegriffen werden, wenn die Infrastruktur, Kraftwerke und so weiter, getroffen werden. Wir sind jetzt überhaupt erst am Anfang von etwas, was auszumalen mir die Fantasie und die Erfahrung fehlt.
Adler: Herr Schlögel, wenn wir uns diese ganze Entwicklung anschauen, dass Putin gegen ein souveränes, unabhängiges Nachbarland vorgeht, wie sehr muss man diese Aktion als Warnung an andere Ex-Sowjetrepubliken verstehen? Müssen die jeweiligen Führungen, die Regierungen Angst und Sorge haben, zum Beispiel in Kasachstan oder in Belarus, dass das Gleiche passiert?
Schlögel: Das müssen sie ganz bestimmt. Die Frage ist nur, in welche Richtung das geht. Und soweit ich die Politik von Putin bisher verstehe, er geht ja immer an der Stelle vor, wo er die besten Erfolgsaussichten hat, wo er den schwächsten Punkt trifft. Im Übrigen Belarus ist mehr oder weniger schon angegliedert und Putin ist dort Herr der Sache.
Adler: Der russische Präsident beschäftigt sich seit Jahren ja schon immer intensiver mit Geschichte. Und man hat den Eindruck, dass das nochmal zugenommen hat seit der Isolation in der Corona-Pandemie, da hat man ihn ja eine ganze Zeit lang kaum in der Öffentlichkeit gesehen. Und die russische Jugend, die spottete schon vom alten Mann im Bunker. Was sagen Sie eigentlich als Historiker, wenn Autokraten wie Putin sich plötzlich anfangen für Geschichte zu interessieren?
Schlögel: Ja, das ist natürlich schon ein bedeutendes Indiz. Weil man kennt das ja, dass Potentaten, Despoten, sich für Geschichte interessieren. Nicht nur für Geschichte – von Stalin wusste man ja, dass er sich plötzlich zum Experten für Wirtschaftsfragen, für Planwirtschaft, für Genetik, für Sprachwissenschaften interessierte. Und es ist ja auch nicht schlecht, wenn ein Politiker sich für Geschichte interessiert. Der Punkt ist nur, dass er diktieren kann, um welche Interpretation es sich handelt. Und in Russland haben wir eine Situation, wo bestimmte Ansichten, überhaupt eine kritische Auseinandersetzung mit Geschichte, kriminalisiert wird, wie überhaupt die ganze Arbeit, die Memorial macht.
Adler: Auffällig ist in Deutschland die mangelnde Empathie und Solidarität für die Ukrainer und Ukrainerinnen. Bis zu dieser Woche, bis zu diesem Tag, am 24. Februar, hat es eigentlich gedauert, obwohl acht Jahre lang schon Krieg in der Ostukraine herrscht, aber jetzt erst regt sich in Deutschland Mitgefühl. Hier geht man eher – so hat man manchmal den Eindruck – für das Klima auf die Straße, aber nicht für einen Nachbarn, der in die EU möchte, sich für Demokratie entschieden hat und vom Krieg bedroht ist beziehungsweise gerade im Krieg steht. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Schlögel: Was jetzt passiert ist, ist dass der Krieg mit seinen Bildern und seinen Nachrichten plötzlich eingebrochen ist in diesen Horizont. Und der Krieg und seine Bilder sind sogar stärker als die Pandemie. Und es ist ja eigentlich verrückt, dass der Aufbau der Spannung, der dann in den Krieg eingemündet ist – das geht ja nun schon ein ganzes Jahr –, dass man darüber überhaupt nicht gesprochen hat. Und ich glaube, es kommt ein ganzer Komplex da zusammen, dass man immer noch nicht wahrgenommen hat, dass die Ukraine ein großes, das größte Land Europas ist, das immer noch nicht aus dem Schatten Russland herausgetreten ist. Aber es kommen noch andere Gründe dazu. Die Deutschen hätten einen wirklich guten Grund, sich mit der Ukraine zu beschäftigen, besonders, wenn sie sich immer auf die Geschichte beziehen. Die Deutschen haben die Ukraine verwüstet und zugrunde gerichtet – neben Belarus –, wie kein anderes Land. Das hat sich immer noch nicht sozusagen wie selbstverständlich in den Köpfen festgesetzt.
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