Freitag, 19. April 2024

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Hochwasserschutz an Ahr und Erft
Nach der Flut ist vor der Flut

Wie kann ein Hochwasserereignis in Zukunft verhindert werden, noch dazu, wenn sich Wetterextreme weiter verstärken? Ein Jahr nach der Katastrophe gibt es viele Konzepte. Neue Schäden sind aber programmiert, denn viele Häuser wurden dort wiederaufgebaut, wo sie vorher standen - in der Gefahrenzone.

Von Volker Mrasek | 10.07.2022
Absperrungen und Baumaschinen im flutverwüsteten Ortskern des Eifelortes Bad Münstereifel, 20.04.2022
Die Beseitigung der Schäden und der Wiederaufbau in den vom "Jahrhunderthochwasser" verwüsteten Orten an Erft und Ahr werden noch lange dauern - und die nächste Flut kommt bestimmt (imago/Eibner)
„Es hat ja in erster Linie in dem oberen Einzugsgebiet der Ahr extremst geregnet.“ Genau dort befindet sich Rainer Bell in diesem Moment, Geograph und Risikoforscher von der Universität Bonn. In einem Nadelwald am Rande des kleines Ortes Müsch.
„Es hat über 150 Millimeter in drei Tagen gebracht, das meiste innerhalb von einem Tag.“ Ein absolutes Wetterextrem. „Und dann kam eine große Flutwelle das Haupttal runter. Mehr als das Doppelte als das alte hundertjährige Hochwasserereignis von 2016, gemessen am Pegel Altenahr.“

Gefahren lauern noch immer. Bells Arbeitsgruppe überprüft die Stabilität einer alten Hangrutschung: „Ungefähr hundert Meter breit und zweihundert Meter den Hang hoch. Schon was Größeres.“
„Ganz viele Kabel, die wir hier haben.“ „Ich schließ‘ das jetzt gerade mal an.“ „O.k. wir brauchen jetzt quasi 23 Geophone.“ „Die können den Untergrund quasi aufnehmen und auch ganz kleine Bewegungen, ja, hören.“ „Jetzt hauen wir dreimal mit ‘nem Hammer auf unsere Schlagplatte. Und dann nimmt der Computer gleich das Signal auf.“ „Wenn ich das Signal bekomme, dass ich hauen darf. Agostina?“ „Shot!“ „Nächster Schlag ist dann zwischen den Geophonen Nummer 6 und 7.“
Die Ahr hat sich in seinen Fuß gefressen, Bäume entwurzelt und große Erdmassen abgetragen. Der Abhang könnte wieder ins Rutschen geraten. Deshalb belauscht ihn Bells Team: „Die Ahr ist wahrscheinlich von hier maximal hundert Meter einfach den Hang runter. Im Moment gibt’s hier keinerlei Anzeichen, dass sich irgendwas in Bewegung setzt. Wobei jetzt die Arbeiten im Ahrtal, die sind nicht nur auf die Rutschungen beschränkt, sondern auf das Flutereignis. Warum es dazu kam, warum so viele Menschen sterben mussten.“

Wiederaufbau mit wissenschaftlicher Begleitung

Ein Jahr nach der Katastrophe vom 14. und 15. Juli 2021. Wissenschaftler und Ingenieure sind weiterhin vor Ort, sondieren das Gelände, suchen nach Lösungen auch in den anderen schwer getroffenen Gebieten im Westen Deutschlands.
„Das, was 2021 passiert ist, soll sich nicht wiederholen.“ Holger Schüttrumpf, Professor für Wasserbau an der RWTH Aachen, spricht allen aus der Seele. Und warnt zugleich: „Das Hochwasser, was wir jetzt hatten, das wird wiederkommen. Und wenn wir jetzt an den Klimawandel denken, dann wissen wir, dass das in Zukunft vielleicht häufiger auftreten wird.“
Schüttrumpf ist einer der Leiter von „KAHR“. Das Kürzel steht für „Klimaanpassung, Hochwasser und Resilienz“. Ein Projekt, das den Wiederaufbau wissenschaftlich begleitet und Konzepte für einen wirkungsvolleren Hochwasserschutz entwickelt. Wie könnte das gelingen?
„Das funktioniert nur, indem wir dem Fluss wieder den Raum geben, den er braucht. Indem wir Wasser zurückhalten. Und indem wir Objekte schützen. Das sind die drei typischen Möglichkeiten, die wir haben.“
Überschwemmungen und Erdrutsch in Erftstadt-Blessem.
Schockierende Bilder nach den Überschwemmungen in Erftstadt-Blessem - der Krater am Ortsrand klafft nach wie vor (Rhein-Erft-Kreis)

Die Aue von früher kommt zurück

„Ein gigantischer Krater im nordrhein-westfälischen Erftstadt.“ „Da sind Häuser einfach reingerutscht, die Reithalle ist da reingerutscht.“

Dramatisch damals auch die Lage an der Erft. Der Fluss strömt in eine Kiesgrube. Erst rutschen ihre Böschungen ab, dann das umliegende Land - ein riesiger Krater entsteht. Bundeswehr-Hubschrauber setzen nonstop Kiessäcke aus der Luft ab. Nach Tagen schaffen sie es, die Erft wieder in ihr Bett zu bugsieren. Wie durch ein Wunder kommt niemand in dem Ort zu Tode.
Der riesige Krater klafft noch immer am Ortsrand von Erftstadt-Blessem bei Köln. Eine ganze Wohnsiedlung mit mehrstöckigen Häusern würde vermutlich hineinpassen. Zwei, drei Jahre könnte es dauern, das Erdloch wieder aufzufüllen. Aber es hat sich schon etwas verändert:
„Wir haben uns hier eines Grundprinzips der Gewässerplanung bedient.“ Dietmar Jansen hält gebührlichen Abstand zum Kraterrand. Rund um den Wasserbau-Ingenieur vom Erftverband Berge angehäufter Erde. Schritt für Schritt entsteht aus der wilden Hügellandschaft eine „Sekundär-Aue“, wie Jansen sagt: ein neuer Überschwemmungsfächer für die Erft. Hier war einst Aue. Jetzt kommt sie wieder. Deswegen „Sekundär-Aue“: „Jetzt gehen wir die Böschung runter. Vorsichtig bitte!“
Der erste Auenabschnitt ist schon fertig, die tiefbraune Erde ausgebaggert. Das Gelände hier wird abgesenkt und über einen Meter tiefer liegen als früher. So passt im Ernstfall noch mehr Wasser in die Aue.

Ende des Kohleabbaus schafft Chancen

Auch in anderen Abschnitten der Erft sollen neue Auen entstehen, die größte bei Bergheim. Dort, wo heute noch Braunkohle gefördert wird und wo man das Gewässer in ein schnurgerades Korsett aus hohen Wällen gezwungen hat. Doch mit dem Kohleabbau ist bald Schluss. Die Chance, um die Begradigung des Flusses aufzuheben, freut sich Christian Gattke, Geograph und Hydrologe beim Erftverband:
„Wir können hier so 33 Hektar Überschwemmungsgebiet zurückgewinnen. An anderen Stellen sind wir da auch unterwegs. Wir kaufen da Flächen auf. Teilweise sind die schon in der öffentlichen Hand. Und wir haben da die Möglichkeit, dort auch Maßnahmen zu machen.“
Den Überschwemmungsraum ihrer Flüsse zu vergrößern - das planen jetzt viele flutgeschädigte Städte und Kommunen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Allerdings sind die Flächen meist überschaubar. Wird das neue Hochwasserwellen ausreichend dämpfen? Dietmar Jansen: „Solche Maßnahmen helfen selbstverständlich, Spitzen wegzunehmen, weil das Wasser einfach dann in die Breite geht, verlangsamt wird. Und das hilft auf jeden Fall.“
Staumauer am Regenrückhaltebecken des Erftverbandes in der Nähe von Kerpen-Mödrath am am Samstag, 14. April 2012. Das Hochwasser-Rückhaltebecken Mödrath nutzt eine Geländemulde im ehemaligen Tagebau Frechen rund um den Boisdorfer See als Rückhalteraum. Sobald die Aue kein Wasser mehr aufnehmen kann, gelangt das Wasser über ein Schütz in das Regenrückhaltebecken dahinter, das 1,7 Millionen Kubikmeter Wasser aufnehmen kann.
Zu den vorhandenen 23 Rückhaltebecken des Erftverbandes könnten 50 neue hinzukommen (imago/Manngold)

Rückhaltebecken waren unterdimensioniert

Es gibt aber ein noch viel mächtigeres Instrument, um Hochwasserspitzen zu kappen. „Wir befinden uns jetzt in dem Raum mit der Elektrotechnik. Wir haben hier vier Steuerschränke, Schaltschränke. Die werden komplett ausgetauscht und es kommen neue Schränke mit neuer Technik hier rein.“
Timo Schneider hat die Handwerker im Haus. Oder genauer: in der Steuerwarte des Hochwasser-Rückhaltebeckens in Weilerswist. Der Wasserwirtschaftsingenieur vom Erftverband ist für die Anlage zuständig. Man stelle sich einen 800-Meter-Erddamm quer durch eine Wiesenlandschaft vor. Die Erft fließt an einer Stelle hindurch. Das kann sie, weil die beiden großen Stauwehre weit offen stehen.
„Wir stehen über dem Durchlassbauwerk, ungefähr drei Meter über der Erft.“ Bei Hochwasser macht man die Schotten dicht, und aus dem Fluss, der dann nicht weiter kann, entsteht ein See: „Im Einstaubereich des Beckens ist einfach nur Wiese, keine Wohnbebauung und auch keine richtigen Ackerflächen. Kann gefahrlos überschwemmt werden und läuft dann nach der Hochwasserwelle leer.“
Im Juli 2021 kam es allerdings anders als geplant. Die Erft führte so viel Wasser, dass selbst die riesige Freiland-Wanne am Ende überlief: „Vor dem Hochwasser im letzten Jahr wurde ein 100jährliches Hochwasser mit 45 Kubikmeter pro Sekunde an Abfluss definiert. Beim Hochwasser lag der Spitzenwert über 300 Kubikmeter pro Sekunde. Das ist weit über dem, was man sich vorstellen konnte hier an dieser Stelle, auch beim Bau des Beckens.“

Neubauten sollen Stauvolumen verdreifachen

Wenn das Stauvolumen nicht mehr ausreicht, ist es naheliegend, weitere Becken zu bauen. Genau das wird im südlichen Einzugsgebiet der Erft geschehen, und zwar massiv. Christian Gattke:
„Aktuell betreibt der Erftverband 23 Hochwasser-Rückhaltebecken mit einem Gesamt-Rückhaltevolumen von ungefähr siebeneinhalb Millionen Kubikmetern. Wir untersuchen weitere 50 Standorte, die weitere 14 Millionen Kubikmeter technischen, steuerbaren Rückhalteraum zur Verfügung stellen würden. Das heißt, wir wollen da deutlich aufrüsten. Das könnte man vergleichen mit in Summe einer größeren Talsperre vielleicht im Eifel-Rur-Bereich.“
Der bisherige Stauraum soll also verdreifacht werden. „Es kommt relativ viel Hochwasser aus Zuflüssen. Und wir gehen davon aus, dass wir wirklich in die seitlichen Zuflüsse reinmüssen und nicht an der Erft weiterbauen. Es ist eigentlich kaum noch Platz an der Erft vorhanden. Und wir müssen jetzt gucken, dass von den seitlichen Zuflüssen nicht zu viel Wasser mit in die Erft reinkommt.“
Schwere Hochwasserschäden in Mayschoß. Die Hauptstraße ist verwüstet.
Im Ahrtal selbst fehlt der Platz für neue Rückhaltebecken - diese müssten schon an den Zuflüssen entstehen (imago / Christoph Reichwein )

Rückhaltebecken schon an den Nebenflüssen

An der Ahr ist die Situation ganz ähnlich: Auch dort trugen die Nebenflüsse am Oberlauf entscheidend zum Hochwasser bei. Und am Hauptstrom fehlen ausreichend große Flächen für neue Rückhalte- oder „Retentionsbecken“, wie man sie auch nennt.
Michael Dietze aus dem Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam: „Im Haupttal selbst kann man das nicht machen. Viel einfacher wäre das in den oberen Einzugsgebieten, die sowieso meistens ungefähr 60 bis 80 Prozent des Einzugsgebietes ausmachen.“
Der Geomorphologe kennt die Verhältnisse vor Ort inzwischen gut: „Die oberen Einzugsgebiete, das ist alles noch oberhalb der steilen Hänge. Also, da reden wir über diese Grünlandbereiche, mit Wald bestandene Gebiete, die relativ flach sind und in denen sich das machen lässt. Also, wenn ich praktisch verteilt direkt in der Nähe der Wasserscheiden solche Retentionsbecken schaffe, dann ist es viel effektiver, als wenn ich erst warten muss, bis sich das alles zu einer großen Flutwelle im Haupttal aufbaut, und dann mühsam schauen muss, wo ich in diesem dicht bebauten, engen Haupttal Retentionsflächen schaffen kann.“
Anfang März haben fünf Ingenieur-Büros den Auftrag erhalten, Sanierungskonzepte für die Ahr und ihre Zuflüsse auszuarbeiten. Sie sollen auch den Hochwasserschutz erhöhen. Welche Maßnahmen empfohlen werden und wo genau, muss man abwarten.
Mehrere Autos stecken nach Starkregen auf einer überfluteten Straße in Stolberg fest.
Stolberg und das benachbarte Eschweiler wurden von den Wasserfluten hart getroffen (dpa-Bildfunk / dmp Press / Ralf Roeger)

Masterplan für Flüsse Vicht und Inde

„Wir sind in Stolberg, oberhalb der Altstadt von Stolberg.“ „Das ist die Vicht, die hier fließt, die auch im Hochwasser 2021 extrem viel Wasser und zu enormen Schäden geführt hat.“ Von der Ahr in ein anderes Katastrophengebiet. Carmen Braun und Martin Kaleß treffen sich in Stolberg östlich von Aachen. Unter ihnen die Vicht, hinter ihnen dichte Bäume und Fachwerkhäuser.
„Hier waren eigentlich - da, wo jetzt die Bauzäune stehen – Ufermauern. Die sind weggebrochen. Und, ja, hier hatten wir ungefähr zwei Meter Wasserstand. Und einen reißenden Strom.“
Stolberg und das benachbarte Eschweiler wurden hart getroffen. Doch die Gemeinden reagierten rasch. Schon kurz nach der Katastrophe berief man Expertenrunden ein. Es entstand ein „Masterplan für die hochwasserresiliente Entwicklung“ der beiden Städte.
Kaleß koordinierte das Projekt für den Wasserverband-Eifel-Rur, Gebietsingenieurin Carmen Braun war ebenfalls beteiligt: „Hochwasser-Resilienz bedeutet ja Widerstandskraft gegen Hochwasser. Und da sind viele Maßnahmen und Projekte erarbeitet worden durch die Mitarbeit von Fachexperten, um dieses Ziel zu erreichen.“ Auch an der Vicht und an der nicht weit entfernten Inde sind nun neue Hochwasser-Rückhaltebecken geplant.
Aber mehr noch: „Es wurden auch andere Bereiche identifiziert, wo Wasserrückhalt praktiziert werden kann. Bis hin zu stillgelegten Bergwerken, die einen großen Retentionsraum zur Verfügung stellen. Hier müssen noch Machbarkeitsprüfungen stattfinden. Wenn ich auf das Einzugsgebiet von Inde und Vicht schaue, dann gibt es natürlich auch den Tagebau Inden. Wenn die Gewinnung von Braunkohle dort dann zum Ende gekommen sein wird, dann muss natürlich eine Folgenutzung für den Tagebau her. Und, ja, da könnte man natürlich dann auch Hochwasserschutz-Gedanken miteinfließen lassen.”

Kosten im Vergleich zu Schäden moderat

Rückhalteräume können Pegelstände bei Hochwasser am stärksten verringern. Doch wie lange wird es dauern, neue zu bauen? Und sind sie auch bezahlbar?
Christian Gattkes Perspektive für die vielen Zusatzbecken im Bereich der Erft: „Das wird ein Programm sein, was wahrscheinlich zehn, zwanzig Jahre in Anspruch nimmt, die alle zu planen und zu errichten. Das ist quasi unser Ad-hoc-Plan. Notfallmäßig kann man so ein Hochwasser-Rückhaltebecken nicht bauen.“
Und die Kosten? „Da landen wir so bei einhundert Millionen Euro insgesamt, wenn wir wirklich 50 Becken bauen. Da gehen wir schon von aus, dass das finanzierbar ist und dass es auch eine entsprechende Förderung durch das Land Nordrhein-Westfalen geben wird.“
Die Summe fällt noch viel höher aus, rechnet man die Kosten für Rückhaltebecken an den anderen Flüssen hinzu. Und für alle sonstigen Hochwasserschutzmaßnahmen. Doch das sind immer noch moderate Investitionen verglichen mit den Schäden durch die Überschwemmungen vor einem Jahr. Sie werden mit über 30 Milliarden Euro veranschlagt. Und haben wir überhaupt eine Wahl? Oder wollen wir weiter so katastrophale Folgen in Kauf nehmen?

Treibgutfänger sollen Holz und Geröll aufhalten

„Jetzt sind wir genau in Neuhof. Direkt an der B 258, Einmündung Aulbach zur Ahr.“ Thomas Hansen muss sich anstrengen, den Verkehr auf der Bundesstraße zu übertönen. Kaum 20 Meter von ihr entfernt quert ein Wanderweg den Aulbach. Im Grunde nur drei klobige Felsblöcke. Daher wohl das Geländer mitten in seinem Bett! Schräg versetzt zur Fließrichtung und über sechs Meter lang.
„Das ist reines Eichenholz, naturbelassen. Das ist sogar ein Baum, der ist von der Flut angeschwemmt gewesen. Und dann habe ich ihn mitgenommen und habe ihn bei mir im Sägewerk halt verarbeitet zu einem vernünftigen Projekt.“
Der Eindruck täuscht; die Eichenstreben sind nicht bloß Geländer, sondern zugleich Treibgut-Fänger. Bei Hochwasser sollen sie Schwemmholz und Geröll zurückhalten, das der Bach mit sich führt. Der Sägewerksbesitzer hat viele Aufträge in diesen Tagen. Nicht nur an den kleinen Nebenflüssen:
„Wir werden in den nächsten Wochen einen sehr großen errichten in der Ahr. Der soll vor die Ortschaft Ahrhütte, ich sag mal so circa 15 Meter breit. Von den kleinen haben wir im Moment 14 errichtet. Und ich denke, dass wir auf 60 bis hundert kommen.“
Durch das Hochwasser zerstörte Ahr-Brücke zwischen Rech und Mayschoß.
Wenn sich Treibgut an den Brücken verfängt, steigt der Wasserdruck auf das Bauwerk und kann es zum Einsturz bringen (dpa / Geisler-Fotopress / Christoph Hardt)

"Verklausung" brachte Brücken zum Einsturz

„Holzstämme, Bäume, Öltanks, Container.“ „Da kamen, da kamen Autos geschwommen.“ „Alles Mögliche, was eben schwimmen kann und beweglich war.“ „Da kamen ganze Campingwagen.“
Der Potsdamer Geoforscher Michael Dietze kann es heute noch nicht fassen, welche Geröllmengen damals mit der Flut die Ahr hinunterströmten. 62 von 75 Brücken wurden zerstört: „Die meisten wurden letztendlich in Mitleidenschaft gezogen durch das mobilisierte Totholz.“
Fachleute wie Martin Kaleß vom Wasserverband Eifel-Rur sprechen von „Verklausung“. Das Treibgut verfängt sich in der Brücke, häuft sich immer mehr an und kann das Bauwerk schließlich zum Einsturz bringen. Und es passiert noch etwas: „Wenn Brücken als Treibgut-Fallen dienen, was sie ja nicht sollen, dann stauen sie das Hochwasser zurück. Und der Wasserstand steigt nochmal mehr, als wäre das Treibgut nicht enthalten.“
Holz-und Geröllfallen oberhalb von Ortschaften sind ein probates Mittel, um dieses Risiko zu verringern. Am besten gestaltet man die Rechen so, dass sie das Treibgut bei Hochwasser nicht bloß auffangen, sondern zusätzlich vom Fluss weglenken. So ist es auch östlich von Aachen geplant, an Inde und Vicht: „So dass das Schadensausmaß des Hochwassers dann geringer wird. Da sind wir auf jeden Fall schon dran.“

Umgehungsstraße wird zum Hochwasser-Bypass

Jetzt aber sitzt Martin Kaleß neben seiner Kollegin Carmen Braun im Dienstfahrzeug: „Auf den Europatunnel fahren wir jetzt zu.“ „Quasi die Umgehungsstraße von der Stolberger Innenstadt, von der Altstadt.“ „Beim Hochwasser ist der Tunnel komplett geflutet worden, das Wasser ist durch den Tunnel geströmt.“ „An der Stelle sieht man: Hinten geht die Straße wieder hoch. Und das Wasser ist dann nicht mehr an der Stelle weitergeflossen, sondern hier über die Straßenbegrenzung runtergeflossen in die Innenstadt hinein …“ „… und hat dann sozusagen nochmal von hinten die Anwohner erwischt.“
Kaum jemand in der 50.000-Einwohner-Stadt Stolberg hat mit diesem zusätzlichen, enormen Hochwasser-Schwall gerechnet. Doch jetzt überlegt man, aus der Not von damals eine Tugend zu machen! Die Vicht darf den Europatunnel ruhig wieder fluten. Sie soll es sogar! Aber dann weiter um Stolberg herumgeleitet werden - so wie der Autoverkehr auf der Umgehungsstraße: „Genau! Das wäre eine gezielte Maßnahme, Hochwasser zu lenken.“
Im Moment ist der Tunnel noch ein Trog - das ganze Wasser läuft in ihm zusammen. Man könnte aber die angrenzende Europastraße absenken. Die Flutwelle könnte ihr dann weiter folgen: „Es müsste dann auch im ganzen Verlauf geschaut werden: Wo müsste man vielleicht Dämme oder Mauern oder Deiche bauen? Es wird also so eine Art Kanal werden.“ „Das sind natürlich immense Eingriffe, die man erstmal rechnerisch überprüfen muss. Aber wenn sich das als realistisch erweist, dann hat man natürlich ein sehr gutes Projekt in der Hand, um das Hochwasser, das Extremwasser, an Stolberg vorbeizuführen und dann gezielt der Vicht hinter der Stadt wieder zuzuführen.“
Eine Umgehungsstraße als schützender Bypass für das Herz einer von Hochwasser bedrohten Stadt – vielleicht die exotischste Idee aus dem Masterplan für Eschweiler und Stolberg. Die Umsetzung wäre sicher kostspielig.

Schutzmaßnahmen nach dem Baukastenprinzip

Andere Schutzmaßnahmen dagegen sind leichter umzusetzen. Man könnte zum Beispiel Parkplätze tiefer legen und so mehr regulierbaren Überflutungsraum schaffen. Man kann Straßen zurückbauen und ihre zweiten Fahrspuren Bächen und Flüssen überlassen. Masterplan-Koordinator Kaleß spricht von einer Blaupause: „Denn es ist nicht nur für Stolberg und Eschweiler spezifisch einzusetzen, sondern auch für andere Regionen, so dass man einen Katalog von Maßnahmen hat, die zum Hochwasserschutz beitragen können.“
Der Aachener Hochschullehrer Holger Schüttrumpf lobt das praktische Baukastenprinzip: „Es geht im Wesentlichen darum, wirklich so viele Maßnahmen wie möglich auch zu realisieren, die dann so wirksam sein sollen in der Kombination, dass wir eben keine große Gefährdung mehr in den Kommunen haben. Das muss das Ziel sein.“
Doch lässt sich dieses Ziel wirklich erreichen? Im Ahrtal wurden vor einem Jahr nach offiziellen Angaben fast 9.000 Gebäude beschädigt oder zerstört. Dort gilt im Besonderen, was Martin Kaleß bei der Aufarbeitung der Katastrophe feststellte: „Es gibt Objekte, die stehen – da muss man einfach ehrlich sein – absolut ungünstig aus Sicht der Hochwasserbrille.“
Entfeuchter stehen in einem vom Hochwasser betroffenen Gebäude in Bad Münstereifel, 20.04.2022
Der Wiederaufbau des Ortskerns von Bad Münstereifel ist quasi alternativlos - aber mit Blick auf das nächste Hochwasser auch riskant (imago/Eibner)

Wiederaufbau am alten, gefährdeten Standort

Umso mehr staunt man über die neuen Gefahrenkarten der rheinland-pfälzischen Wasserwirtschaftsverwaltung. Bekannte Weinorte wie Dernau oder Walporzheim wurden meterhoch und fast vollständig überschwemmt. Doch in den überarbeiteten Karten ist der gelb schraffierte „besondere Gefährdungsbereich“ oft nur ein schmaler Saum entlang der Ahr. Und lediglich 34 Häuser, die dort standen, dürfen nicht wiederaufgebaut werden. 34 von fast 9.000 beschädigten oder zerstörten.
Der Aachener Wasserbau-Professor Holger Schüttrumpf hätte etwas anderes für sinnvoller gehalten. „Dass wir insbesondere in den Bereichen, die wirklich massiv betroffen sind, eigentlich diese Bereiche auch räumen. An der Ahr würde das bedeuten, dass man insbesondere die Gebäude, die zerstört worden sind – dass man denjenigen die Möglichkeit und auch die finanzielle Unterstützung gibt, um eben in Bereichen wiederaufzubauen, die halt nicht vom Hochwasser betroffen sind.“
Es gibt Geschädigte, die das wollten: raus aus dem Tal oder wenigstens in höhere Hanglagen. Und doch sanieren sie jetzt ihre überflutete Ruine – weil die Versicherung nicht zahlt für einen Hausbau an anderer Stelle. Auch staatliche Gelder wurden allzu schnell für den Wiederaufbau am selben Standort gewährt – weiterhin gefährlich nah am Fluss: „Man lässt einige Bereiche schon frei, aber ich würde mir da wünschen, dass man eben doch noch mehr freilässt.“
Den Flüssen wieder mehr Überschwemmungsraum geben - in begrenztem Maße geschieht das an Ahr und Erft. Aber es wird dauern. „Dazu braucht man unter Umständen wirklich Jahre und Jahrzehnte, bis das alles vollständig umgesetzt ist.“

Gefährdungskarten waren nicht korrekt

Rückhalteflächen an den Zuflüssen, mehr Auen, umgestaltete Flusstrecken – wird all das dann ausreichen, um bei künftigen Flutereignissen die Schäden in dem dichtbebauten Tal zu begrenzen? Sicher nicht vollständig.
„Sie werden halt wiederkommen. Es reicht ja auch schon ein Hochwasser, was halb so stark ist.“ Deshalb ist für den Potsdamer Geographen Michael Dietze auch noch etwas anderes wichtig: „Dann geht’s genau um das, was während des letzten Jahres nicht so gut funktioniert hat - wie kann ich die Bevölkerung informieren? Wie kann ich dafür sorgen, dass eine sensibilisierte Bevölkerung möglichst, bevor das Hochwasser kommt, weiß, was zu tun ist?“
85 Prozent der Menschen in den Katastrophengebieten rechneten trotz der Warnungen nicht mit einer verheerenden Flut. Fast die Hälfte wusste nicht, was sie tun sollte. Das kam bei einer Befragung durch das Institut für Umweltwissenschaften der Universität Potsdam heraus.
An der Ahr sei die Gefahr auch deshalb unterschätzt worden, weil die Hochwasser-Gefährdungskarten nicht stimmten, bemängelt Heiko Apel aus dem Deutschen Geoforschungszentrum: „Die sind vorberechnet. Die müssen auch vorliegen für drei verschiedene Hochwasserstärken.“
Lagen sie auch; nur waren die drohenden Pegelstände in den Karten zu niedrig angegeben: „Es lief letztlich so ab, dass die Leute gemerkt haben: Mmh, da könnte was auf uns zukommen! Und haben dann die Gefährdungskarten angeguckt und gesehen: Ach, Bad Neuenahr-Ahrweiler zum Beispiel wird ja irgendwie gar nicht überflutet.“

Neue Vorhersagemodelle

Solche folgenschweren Fehleinschätzungen will der Geoökologe in Zukunft verhindern. Dafür müsse man die hydrologischen Vorhersagemodelle der Hochwasserzentralen gewissermaßen aufbohren. Die lieferten bloß zu erwartende Abflussmengen und Pegel in Bächen und Flüssen. Apels Arbeitsgruppe hat sie um Modelle erweitert, die auch das Gelände der Umgebung simulieren, die Art der Landnutzung und die Verteilung der Häuser.
Das Ergebnis ist eine Vorhersage der Hochwasser-Auswirkungen: „Das schließt ein die überfluteten Flächen, die Überflutungstiefen, Fließgeschwindigkeiten, Auswirkungen auf Gebäude, Gefährdung der Leute, die eventuell in dem Wasser ertrinken können, weil die Fließgeschwindigkeiten zu hoch sind. Oder Autos, die anfangen zu treiben und dadurch eine Gefährdung darstellen.“
Das sind genau die Informationen, die man sich wünscht im Vorfeld einer Extremflut. Mit einem Probelauf des Modells für die Ahr ist Heiko Apel zufrieden: eine nachträgliche Simulation der Katastrophe im Bereich von Altenahr bis zur Mündung bei Sinzig. Das Modell habe Ausbreitung und Höhe der Überschwemmungen ziemlich treffend dargestellt. Und das, obwohl es mit den zu niedrigen Ahr-Pegelständen aus der Hochwasserprognose gefüttert worden sei:
„Wir arbeiten jetzt auch dran, das auszudehnen auf den Teil oberhalb von Altenahr. In unserem KAHR-Projekt wird das jetzt gemacht. Ich würde sagen, wenn man das wirklich will und setzt dann entsprechend Leute ran, könnte man rein technisch die Modelle erstellen bis Ende des Jahres für ganz Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz.“
Um sie zu betreiben, bräuchten die Hochwasserzentralen dann allerdings größere Rechenkapazitäten. Aber das ist die Sache doch sicher wert? Heiko Apel: „Man sollte das sofort machen. Ich glaube auch, dass sich das durchsetzen wird, weil man einfach an dem Ereignis letztes Jahr gesehen hat, dass so was nötig ist. Vorhersagen mit einem Modell wie unserem hätten eine ganz andere Reaktion im Ahrtal hervorgerufen, und es wären weitaus weniger Leute gestorben.“

Funknetz soll Kommunikations-Blackout verhindern

„Tausende Einsatzkräfte suchen in den zerstörten Ortschaften weiter nach Vermissten.“ „Helfer und Opfer finden nur schwer zueinander.“ „Das Telefonnetz ist zusammengebrochen.“ „Keinen Handyempfang.“ „Selbst der Digitalfunk funktionierte nicht mehr. Das war eine noch nie dagewesene Situation.“
Theo Waerder erinnert sich noch gut an das Blackout im Ahrtal. Der Versorgungsingenieur leitet das Wasserwerk der beiden Gemeinden Adenau und Altenahr und hatte selbst mit den Ausfällen zu kämpfen. „Durch die Zerstörung der Mobilfunkmasten, der Stromversorgung, auch von Glasfaser-Anbindungen gab’s praktisch in Teilen in den ersten Tagen gar keine Kommunikationsmöglichkeit. Gleiches traf natürlich zu für die ganzen Feuerwehr- und Hilfskräfte und Ordnungsdienste.“
Waerder ist aber auch Geschäftsführer der „Versorger-Allianz 450“. Und die will solche Blackouts bald verhindern. Dafür baut sie ein neues Funknetz mit einer alten Frequenz auf: 450 Megahertz - das ist die des früheren C-Mobilfunknetzes. 60 deutsche Wasser- und Stromversorger stehen hinter dem Projekt. 1.600 Funkmasten wollen sie bundesweit hochziehen. Sender und Empfänger werden mit Batteriepuffern ausgestattet.
„Dieses Netz wird 23/24 fertig sein und dann ermöglichen, dass wir alle relevanten Daten und auch Sprache 72 Stunden auch bei Stromausfall übertragen können.“ Besonders am Herzen liegt Waerder der Aufbau des Systems an der Ahr. Denn auch dort kommen Funkmasten hin: vier Stück, jeder 40 Meter hoch, im Gebiet von Altenahr und Adenau. Um zu verhindern, dass es dort noch einmal ein Katastrophenmanagement ohne jede Kommunikation wie im Vorjahr gibt: „Die Idee ist dann eben, die Rettungskräfte auch mit entsprechenden Geräten auszustatten für so eine Situation.“
Denn vor einem Jahr brach sogar der Digitalfunk des Bundes zusammen. Mit dem 450-Megahertz-Netz wäre das nicht passiert, ist der Ingenieur überzeugt. Und vielleicht hätte sogar manches der über 130 Flutopfer an der Ahr gerettet werden können: „Für Menschen, die in Not sind, da hätten wir doch sehr, sehr viel mehr leisten können. Und weniger Zeit verloren. Ich glaube, dass wär doch wesentlich besser gelaufen.“

Klimaschutz wäre der beste Hochwasserschutz

Niemand kann sagen, wann genau, doch der nächste Schlag kommt bestimmt. Wen wird es treffen? Michael Dietze: „Das Ahrtal ist ja nur eines von vielen hundert Tälern, die ganz, ganz ähnliche Voraussetzungen haben. Die ähnlich tief eingeschnitten sind, die ähnlich dicht besiedelt sind.“ Das Risiko steigt noch: „Wenn man Klimamodellen glaubt und wenn man da mit gesundem Menschenverstand rangeht, dann wissen wir, dass solche langanhaltenden Starkniederschläge in Zukunft häufiger auftreten werden.“
Christian Gattke: „Wir haben mehr diese stehenden Wetterlagen. Das war ja auch das Problem am 14. Juli. Eine Flutkatastrophe außerhalb der menschlichen Erfahrung. Aber trotzdem kann man nicht ausschließen, dass es nächstes Jahr wieder passiert.“ Natürlich nicht. Martin Kaleß: „Wir wollen, dass ein künftiges Hochwasserereignis zu deutlich weniger Schäden führt.“ Das wollen wir alle - nur: Wunder darf niemand erwarten! „Dass man ein Hochwasser komplett verhindern kann, das wird nicht gelingen.“
Erst recht nicht bei so extremen Niederschlägen wie im letzten Sommer. Christian Gattke: „Meiner Meinung nach muss man sich von dem Gedanken verabschieden, dass der Mensch solche Naturkatastrophen auf irgendeine Art und Weise technisch in den Griff kriegen kann.“ Dietmar Jansen: „Vor einem solchen Ereignis können wir uns nicht komplett schützen. Das ist einfach, das ist einfach unmöglich.“
Wir siedeln dicht bebaut in Ufernähe. Wir versiegeln den Boden mit Beton und Asphalt. Wir heizen das Klima auf und begünstigen so Starkregen. Und wir verleugnen die Gefahren. Holger Schüttrumpf: „Das Hochwasserereignis ist ein natürliches Ereignis. Und die Hochwasserkatastrophe ist durch den Menschen gemacht.“
Was, wenn wir früher angefangen hätten? Die Chance bestand, die Warnungen waren da! Klimaschutz ist auch Hochwasserschutz! Doch kein Land betreibt ihn so konsequent wie nötig, nicht einmal Deutschland. Auch dafür zahlen wir jetzt den Preis.
Redaktioneller Hinweis: Wir haben den Namen der Einheit korrigiert.