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Humanitäre Lage in Aleppo
"Luftbrücken sind die letzte Option"

Das Welternährungsprogramm der UNO fordert einen freien Zugang zur belagerten Stadt Aleppo. Alle beteiligten Konfliktparteien müssten sich an eine Waffenruhe halten, sagte der WFP-Landesdirektor Jakob Kern im DLF. Sollten die von Russland vorgeschlagenen Feuerpausen von 48 Stunden pro Woche umgesetzt werden, könnte die Stadt für einen Monat mit Lebensmitteln versorgt werden.

Jakob Kern im Gespräch mit Sarah Zerback |
    Eine Rauchwolke steht nach Luftangriffen über der syrischen Stadt Aleppo.
    Aleppo wird weiter von schweren Kämpfen erschüttert (AFP / George Ourfalian)
    Die humanitäre Situation in Aleppo sei im Osten der Stadt schlechter als im Westen, sagte Kern im Deutschlandfunk. Seit einem Monat habe das Welternährungsprogramm keine Hilfsgüter mehr in das Gebiet schicken können. Die Menschen lebten von den Reserven. "Zwei Familien teilen sich die Ration, die für eine vorgesehen ist". Die ganze Stadt leide unter der Bombardierung und dem Besschuss mit Grananten, "die auf beiden Seiten der Stadt einschlagen".
    Kern erinnerte daran, dass in anderen belagerten Gebieten Syriens bis zu 600.000 Menschen ebenfalls von Hilfslieferungen abgeschnitten seien. So hätten Hilfskräfte die Stadt Madaja nahe Damaskus zuletzt im April erreicht. Dort dürften zahlreiche Syrer vom Hungertod bedroht sein. "Es ist sehr schwierig in diese Regionen zu gelangen", erklärt Kern. "Wir befürchten, dass es wieder Szenen wie von Anfang des Jahres gibt, als Fotos von fast verhungerten Kindern um die Welt gingen".
    Die Errichtung von Luftbrücken - wie zuletzt von Bundesaußenminister Steinmeiner für Aleppo ins Gespräch gebracht - sei die letzte Option, meinte Kern. Ähnliches sei bereits im Nordosten Syriens geschehen, wo aus großer Höhe mit Fallschirmen versehene Hilfsgüter über vom IS belagerte Gebiete abgeworfen worden seien. "Über anderen Städten wie Aleppo oder Damaskus macht das wenig Sinn". Wenn sich ein Fallschirm über besiedelten Gebiet nicht öffne, schlage die tonnenschwere Last wie eine Bombe ein.

    Das Interview in voller Länge:
    Sarah Zerback: Seit über fünf Jahren sterben in Syrien Menschen, und der Rest der Welt schafft es nicht, das zu stoppen, schaut zu und sieht erschreckende und sehr berührende Bilder, wie die des kleinen Jungen, der gerettet wird und dann blutend, verstaubt und geschockt in einem Krankenwagen in Aleppo sitzt. Das Bild geht gerade um die Welt, kann aber wohl nicht mehr als ein Schlaglicht werfen auf die dramatische Situation in Aleppo, der belagerten Stadt, in der schätzungsweise eine Millionen Zivilisten eingeschlossen sind, abgeschnitten von fast allem, was es zum Leben braucht. Jakob Kern ist mit Szenen wie diesen jeden Tag konfrontiert, und er schaut nicht nur zu, er hilft. Er leitet das Welternährungsprogramm der UNO, die größte humanitäre Organisation der Welt also, die zum Ziel hat, den globalen Hunger zu bekämpfen, und ihn erreichen wir jetzt in Damaskus. Guten Morgen, Herr Kern!
    Jakob Kern: Guten Morgen!
    Zerback: Welchen Einfluss haben denn Bilder wie diese für Ihre Arbeit, um die Menschen auch zur Unterstützung zu motivieren vielleicht?
    Kern: Der Krieg in Syrien, den kann man ja nicht als eine vergessene Krise bezeichnen, aber dieses Bild erinnert alle, uns und hoffentlich die Welt daran, dass die, die richtig notleidend sind, sind vor allem die Zivilbevölkerung und die Kinder. Es gibt hunderttausende dieser Kinder wie den Omran, die nicht nur körperlich beschädigt sind, aber auch psychisch. Der hat nichts, der hat seit seiner Geburt im Krieg gelebt, und das hat sicher psychische Schäden, die lange brauchen, um die aufzuarbeiten.
    Zerback: Und Schicksale wie dieses, das erleben Sie ja jeden Tag. Wie ist denn die humanitäre Situation in der Stadt Aleppo aktuell?
    "Die 48 Stunden müssen natürlich von allen Seiten respektiert werden"
    Kern: Im Osten der Stadt ist es sicher schlechter als im Westen. Wir haben da seit einem Monat nicht mehr hinkommen können mit humanitären Hilfsmitteln. Sie haben immer noch einige Reserven, sie sind immer noch am Lebensmittelverteilen, aber sie strecken die Rationen, sie geben zwei Familien die Ration für eine Familie. Im Westen ist es etwas besser, da gibt es dann keine Umfahrungsstraße, mehr oder weniger die alte Situation ist da wieder zurück, aber die ganze Stadt leidet natürlich unter konstantem Bombardement und konstanter Artillerie, Granaten, die auf beiden Seiten der Stadt einschlagen.
    Zerback: Jetzt wurden ja 48 Stunden Feuerpause durchgesetzt, einmal pro Woche, um Hilfsgüter nach Aleppo zu bringen, also dazu hat sich Russland jetzt auf langes Drängen der UN eingelassen. Reicht das, um die Menschen zu versorgen, auch vor allem im belagerten Osten der Stadt?
    Kern: Es würde reichen, wenn das jede Woche die 48 Stunden … natürlich erwarten wir von der UNO und verlangen das auch, dass wir ungehindert Zugang haben, immer und dass die Waffenruhe länger als 48 Stunden ist. Wenn möglich auf dauernd, aber 48 Stunden ist besser als gar nichts, und das hilft uns, die nötigsten Mittel hineinzubringen, und wenn das jede Woche ist, dann können wir so, wenn alles gut geht, die ganzen monatlichen Rationen nach Ost-Aleppo bringen.
    Zerback: Wie viele Menschen …?
    Kern: Die 48 Stunden, die müssen natürlich von allen Seiten respektiert werden. Russland ist eine Partei dieses Krieges. Wir brauchen Zusicherung von allen Seiten, von allen Involvierten, dass diese Waffenruhe dann wirklich eingehalten wird.
    Zerback: Wie groß ist da Ihre Hoffnung, dass das passiert, dass also auch die andere Seite zusagt, diese Waffenruhe einzuhalten?
    Kern: In Aleppo ist das sehr schwierig abzuschätzen, und wir werden sehen diese Woche, nächste Woche, ob das dann wirklich klappt. In anderen belagerten Gebieten hat das bis jetzt dieses Jahr erstaunlich gut geklappt. Wenn einmal eine Waffenruhe eingewilligt wurde von allen Seiten, konnten wir unsere Hilfslieferungen machen. Bis jetzt, zwei Mal wurde sie nicht eingehalten, als wir in den Gebieten selber waren, aber sonst in den 98 anderen Fällen ist das immer gutgegangen.
    Zerback: Welche Hilfe können Sie denn aktuell unter diesen Umständen überhaupt leisten? Wie viele Menschen erreichen Sie da auch?
    "Vier Millionen bekommen regelmäßig ihre Lebensmittelrationen"
    Kern: Das Welternährungsprogramm leistet sehr große Hilfe. Also wir unterstützen viereinhalb Millionen Leute jeden Monat mit Lebensmittelhilfe, und das können wir nur tun dank sehr großer Spenden, und vor allem Deutschland dieses Jahr – fast die Hälfte unserer 450 Millionen Dollar, die wir hier im Moment haben, um Lebensmittel zu verteilen, kommt von Deutschland, und das hilft vor allem den Leuten, die wissen, dass sie jetzt die nächsten vier, fünf Monate eine volle Ration bekommen. Das ist wie, wenn Sie und ich wissen, dass wir unseren Lohn bekommen jeden Monat. Das gibt eine Rückversicherung, die den Leuten sehr wichtig ist.
    Zerback: Das ist also einmal die finanzielle Sicherheit, aber nun ist es ja so, dass Assad nicht nur in Aleppo, sondern im ganzen Land Beschränkungen erlassen hat. Hilfskonvois, die können sich da nur sehr schwer bewegen. Sie selbst waren ja auf zahlreichen dabei. Wie schaffen Sie das denn trotzdem, die Menschen dort zu erreichen?
    Kern: Die vier Millionen, die wir unterstützen, das geht wie eine Maschinerie, das läuft sehr gut. Das sind Leute, die wir relativ gut erreichen können, auch über die Grenze von Jordanien oder von der Türkei. Was schwieriger ist, sind die belagerten Gebiete. Das sind die 600.000 Leute, die in belagerten Städten wohnen. Da braucht es sehr viel mehr Bürokratie und sehr viel mehr Eingeständnisse von allen Seiten, aber der Großteil, die vier Millionen, die bekommen jeden Monat regelmäßig ihre Lebensmittelrationen.
    Zerback: Und wie würden Sie die Situation für diese, Sie sagen jetzt 600.000 Menschen, die da von allem abgeschnitten sind, wie würden Sie die aktuell beschreiben? Muss man da wirklich befürchten, dass es da zu Hungertod und Massensterben jetzt kommt?
    Kern: In gewissen Gebieten ja. Wir haben nicht … Wie gesagt, es ist sehr schwierig, in diese Gebiete zu kommen, und einige Städte – Kafriya, Madaja und Zabadani –, da waren wir das letzte Mal Ende April. Das sind also schon vier Monate her, und wir befürchten und wir wissen auch, dass die Szenen sehr wahrscheinlich ähnlich sind wie im Januar, als Bilder von verhungerten oder fast verhungernden Kindern um die Welt gingen von der Stadt Madaja, die 20 Kilometer von Damaskus entfernt ist. Im Moment wird es in diesen Städten wohl ähnliche Zustände wieder geben, und das beunruhigt uns sehr.
    "Wir leben mehr oder weniger in einem Käfig hier in Damaskus"
    Zerback: Beunruhigend und gefährlich auch ist es ja nicht nur für die Syrer selbst. Es ist ja auch für Sie und Ihre Mitarbeiter nicht ohne. Welchen Schutz gibt es da für Sie und Ihre Menschen vor Ort, Ihre Mitarbeiter vor Ort?
    Kern: Der einzige Schutz, den wir in diesen Gebieten haben, ist das Zugeständnis aller Parteien, dass sie für die Zeit, in der wir in den Gebieten sind, die Waffen ruhen, und wie gesagt, von etwa 100 solcher Hilfskonvois haben wir nur zweimal bis jetzt einen Zwischenfall gehabt. Wir leben natürlich mehr oder weniger in einem Käfig hier in Damaskus, können uns nicht sehr viel bewegen, und wenn wir nach draußen gehen, nur in gepanzerten Fahrzeugen, weil man nie weiß, wo und wann etwa eine Granate einschlägt.
    Zerback: Was halten Sie denn persönlich von dem Vorschlag des deutschen Außenministers, jetzt Luftbrücken einzurichten? Könnte das helfen?
    Kern: Luftbrücken sind dort sinnvoll, wo man physisch nicht mehr auf dem Landweg eine Stadt erreichen kann. Also das sollte immer die letzte Option sein. Wir machen das, eine Luftbrücke in den Nordosten des Landes, eine konventionelle Luftbrücke, und in der Stadt Deir ez-Zor, die komplett vom IS umzingelt ist, da bleiben uns nur Hoch… mit Fallschirmen aus großer Höhe, weil es sonst zu gefährlich wäre, tiefer zu fliegen. Da werfen wir aus fünf Kilometern unsere Lebensmittel ab mit Fallschirmen, und da haben wir schon fast 100 solcher Abwürfe gemacht seit April. Über anderen besiedelten Gebieten, wie Aleppo und die Städte um Damaskus, da macht es wenig Sinn, weil es einfach zu gefährlich ist. Luftabwürfe über besiedeltem Gebiet ist zu gefährlich, weil immer … ein Fallschirm kann sich nicht öffnen, und dann fliegt eine Tonne Lebensmittel wie eine Bombe darunter.
    Zerback: Besten Dank, Jakob Kern. Ich danke Ihnen. Jakob Kern leitet das Welternährungsprogramm der UNO in Syrien. Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.