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"In der Koalition gibt es unterschiedlich nuancierte Positionen zum Sozialstaat"

"Wir sprechen darüber, was erforderlich ist, um in Deutschland wieder auf einen Kurs der sozialen Marktwirtschaft zu kommen", insistiert FDP-Generalsekretär Christian Lindner. Guido Westerwelle habe dazu beigetragen, dass in der Koalition Probleme offen thematisiert würden.

Christian Lindner im Gespräch mit Stefan Heinlein | 25.02.2010
    Stefan Heinlein: Das Jahr war noch jung, ein Sonntagabend Mitte Januar, als die großen Drei der Koalition, Angela Merkel, Horst Seehofer und Guido Westerwelle, sich trafen, um im Kanzleramt den Steuerstreit zu beenden. Nach verpatztem Start ging es um einen Neuanfang. Doch der Burgfriede hielt nur kurz. Seit Wochen zanken sich Union und FDP auf offener Bühne über den Umbau des Sozialstaates. Spätrömische Dekadenz und Schneeschaufeln für Leistungsverweigerer, diese Wortwahl des FDP-Vorsitzenden findet bei der Kanzlerin nur wenig Beifall. Gestern Abend deshalb nun erneut ein Sechs-Augen-Gespräch.

    Am Telefon nun FDP-Generalsekretär Christian Lindner. Guten Morgen, Herr Lindner!

    Christian Lindner: Guten Morgen, Herr Heinlein.

    Heinlein: Erklären Sie mir: Wie passt das zusammen? Man redet drei Stunden miteinander und kann dann am nächsten Tag in Zeitungen nachlesen, was wirklich gemeint ist.

    Lindner: Dieses Treffen im Kanzleramt war ein Routinetreffen. Wir können uns alle darauf vorbereiten, dass solche Treffen zukünftig alle paar Wochen stattfinden werden. Es ist völlig normal, dass die drei Parteivorsitzenden über die politische Lage beraten. Das ist im Übrigen auch deshalb notwendig, weil Horst Seehofer an der Routinekoalitionsrunde, die in jeder Sitzungswoche des Bundestages am Dienstag stattfindet, nicht teilnehmen kann, weil er dann im bayerischen Landeskabinett gebunden ist. Also das ist eine Routineveranstaltung und es ist gut, dass die Parteivorsitzenden sich treffen.

    Heinlein: Ist es auch mittlerweile Routine, dass man sich anschließend dann in Zeitungsinterviews weiter behakt?

    Lindner: Na ja, das ist ja jetzt eine Debatte, die geführt wird, und das ist von diesen Treffen im Kanzleramt systematisch zu trennen. Richtig ist: in der Koalition gibt es offensichtlich unterschiedlich nuancierte Positionen zum Sozialstaat. Für mich entscheidend ist, dass wir innerhalb der Koalition jetzt eine gemeinsame Arbeitsgruppe einrichten wollen. Es gibt eine ganze Reihe von Vorhaben, die Geringverdiener betreffen, die die soziale Absicherung, sprich Hartz IV betreffen. Die waren über die Legislaturperiode verteilt. Wir wollten an mehreren Stellen zu mehreren Zeitpunkten etwas verändern und auf Initiative der FDP wird das alles jetzt nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zusammengefasst und wir werden in diesen nächsten Wochen miteinander beraten, was da zu tun ist. Das ist ein wichtiger Erfolg.

    Heinlein: Miteinander beraten in einer Arbeitsgruppe. Herr Lindner, heißt das also im Klartext, Ihr Parteivorsitzender wird sich künftig in seiner Wortwahl zurückhalten?

    Lindner: Nein! Guido Westerwelle wird weiter das ansprechen, was den Menschen auf den Nägeln brennt, und diese Debatte war erforderlich. Wir haben jetzt seit 1990 einen erheblich steigenden Anteil von Sozialausgaben. In der öffentlichen Diskussion wird ja oft der Eindruck erweckt, in Deutschland sei sogenannter Sozialabbau betrieben worden. Der Präsident des Bundesrechnungshofes hat dieser Tage mal die echten Zahlen genannt. Während 1990 noch knapp ein Drittel der Wirtschaftsleistung für den Sozialstaat aufgewendet worden ist, ist es heute nahezu die Hälfte, ohne dass die Ergebnisse besser geworden sind.

    Das zeigt: Wir dürfen nicht mehr ausschließlich über die finanzielle Ausstattung des Sozialstaates sprechen, sondern wir müssen uns sehr viel stärker mit seinen Ergebnissen beschäftigen – bringt er Menschen wirklich in Arbeit, trägt er dazu bei, dass beispielsweise jeder Jugendliche einen Schul- und Berufsabschluss macht. Das sind die Fragen, die wir stellen müssen.

    Heinlein: Das sind in der Tat die inhaltlichen Fragen, Herr Lindner, aber es geht ja auch um den Stil der Debatte. Wird denn weiter nun geredet werden von Guido Westerwelle und anderen aus der FDP über Schneeschaufeln und spätrömische Dekadenz, oder wollen Sie sich ein wenig zurückhalten nach dem Rüffel der Kanzlerin heute in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung"?

    Lindner: Herr Heinlein, diese Debatte hat ja an manchen Stellen eine Eigendynamik bekommen. Sie hat sich vom tatsächlichen Wortlaut entfernt und einzelne Begriffe sind dann mit ihrer Interpretation durchaus auch von nicht wohlmeinender Stelle interpretiert verbunden worden. Nehmen Sie etwa die spätrömische Dekadenz. Guido Westerwelle hat, auch wenn man das mal genau nachliest, und das können ja Ihre Zuhörer im Internet sich auch besorgen – die wenigsten haben ja selbst den Beitrag mit eigenen Augen gesehen -, Guido Westerwelle hat ja nicht den einzelnen Bezieher von sozialen Leistungen gemeint; er sprach über einen Sozialstaat, insbesondere über Politiker, die zu allererst daran denken, jetzt zusätzliches Geld in die Hand zu nehmen, die nicht an das Erwirtschaften denken, nicht an diejenigen denken, die Leistungen finanzieren müssen, die sich also nur auf eine Seite konzentrieren, und das hat schon etwas mit der Situation im alten Rom, wenn Sie so wollen, zu tun, denn dort hat irgendwann eine Generation sich nur auf dem kulturellen Bestand vorheriger Generationen ausgeruht, und dann ist das Imperium in Schieflage geraten.

    Heinlein: Herr Lindner, mir ist nicht ganz klar, was die FDP künftig dazu beitragen wird, das Erscheinungsbild der Koalition in der Öffentlichkeit zu verbessern.

    Lindner: Wir reden über Themen, wir sprechen darüber, was erforderlich ist, um in Deutschland wieder auf einen Kurs der Sozialen Marktwirtschaft zu kommen. Das ist unser Beitrag zum Erscheinungsbild der Koalition, an Problemen arbeiten, aber Probleme auch offen ansprechen. Es ist niemandem geholfen, wenn man sich einer politischen Korrektheit unterordnet, die dann nur dazu führt, dass das technokratische Sprechen der Politiker sich weit entfernt von den Alltagserfahrungen der Menschen.

    Heinlein: Macht es Sie nicht nachdenklich, dass Ihre Partei in den Umfragen zumindest von dieser Sozialstaatsdebatte und diesen offenen Worten, wie Sie sagen, von Guido Westerwelle überhaupt nicht profitiert hat?

    Lindner: Können Sie das mal belegen, warum das Ihr Eindruck ist?

    Heinlein: Sind Sie denn mit den acht Prozent zufrieden, die Sie derzeit in den Umfragen haben?

    Lindner: Na ja, die letzten Umfragen, Herr Heinlein mit Verlaub, die ich gesehen habe, sahen etwas anders aus. Alle letzten Umfragen haben die FDP stärker gesehen. 75 Prozent der Deutschen finden, dass Guido Westerwelle eine richtige Debatte angestoßen hat und dass er in der Sache recht hat, und sogar 44 Prozent sagen – das ist eine Umfrage des "Spiegel", und das ist nun keine Hauspostille der FDP -, dass sogar seine Wortwahl, wenn sie auch zugespitzt war, durchaus den Kern der Sache getroffen hat. Ich kann nicht erkennen, dass Guido Westerwelle ein Randphänomen angesprochen hätte.

    Heinlein: Herr Lindner, erwarten Sie denn, dass die neuen Vorwürfe über die lukrative Vortragstätigkeit von Guido Westerwelle die Umfragen weiter beflügeln werden?

    Lindner: Ich finde, dass wir in Deutschland aufpassen müssen, dass nicht das politische Klima insgesamt vergiftet wird. Da werden fortwährend Vorwürfe und Zusammenhänge konstruiert, die einfach schamlos sind. Wir wollen auf der Ebene nicht die Diskussion führen und deshalb beispielsweise stelle ich ausdrücklich keinen Zusammenhang her zwischen Beraterverträgen, die Sigmar Gabriel hatte, mit 130.000 Euro von Volkswagen dotiert, 130.000 Euro, und seinem entschiedenen Eintreten für das diesen Konzern privilegierende VW-Gesetz in Niedersachsen.

    Heinlein: Wir wollen aber über Ihre Partei reden!

    Lindner: Man kann das sicherlich machen, es führt aber in der Debatte an einen Punkt, wo sich Parteien und ihre Integrität dann selber treffen.

    Heinlein: Integrität, sagen Sie. Herr Lindner, verdient ein FDP-Vorsitzender so wenig, dass er Vorträge für viel Geld halten muss?

    Lindner: Ich habe ja gerade darauf verwiesen, dass jeder Politiker auch das Recht hat, Nebentätigkeiten zu übernehmen. Davon machen einige auch Gebrauch. Ich sehe nicht, was daran schlecht ist, wenn man tatsächlich auch noch eine Unabhängigkeit von Lohn und Brot des Staates, von seinen Diäten hat.

    Heinlein: Lassen sich denn die Vorträge für die eigene Privatschatulle trennen von der Arbeit als Politiker?

    Lindner: Ja, aber natürlich kann man das trennen. Das muss man auch trennen. Ist doch bei Ihnen genauso. Ich meine jetzt die Medien insgesamt. Wenn eine Zeitung eine Anzeige von einem Kunden annimmt, dann ändert sich ja nicht die redaktionelle Berichterstattung.

    Heinlein: Sehen Sie denn einen Zusammenhang, wenn der Oppositionspolitiker Westerwelle bei der Maritim-Hotelgesellschaft für viel Geld einen Vortrag hält und dann umgehend als Regierungsmitglied Steuern für Hotels senkt?

    Lindner: Nein, den Zusammenhang sehe ich nicht, weil genau diese Maßnahme, auf die Sie anspielen, lange, lange vorher in unserem Wahlprogramm war – übrigens auch im Wahlprogramm der Linkspartei. Die Maßnahme entspricht einer europäischen Leitempfehlung, für arbeitsintensive Dienstleistungen den Mehrwertsteuersatz zu reduzieren. Also insofern ist der Zusammenhang, den Sie hier konstruieren wollen, in der Sache nicht begründet.

    Heinlein: Es wird ja viel über Jürgen Rüttgers und seine Tätigkeit geredet. Er hat aber zumindest für die Parteikasse gearbeitet. Ihr Parteivorsitzender arbeitete für das eigene Portemonnaie.

    Lindner: Ja und Sigmar Gabriel hat das genauso getan, siehe oben in unserem Gespräch.

    Heinlein: Also alles in Ordnung?

    Lindner: Alles in Ordnung.

    Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen FDP-Generalsekretär Christian Lindner. Ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Lindner: Auf Wiederhören, Herr Heinlein. Tschüss!