Dienstag, 19. März 2024

Archiv

In eigener Sache: Vorwahl-Berichterstattung
"Nicht den Anschein erwecken, wir bevorzugen jemanden"

Wie berichten die Sender des Deutschlandradios kurz vor der Bundestagswahl? Welche Politikerinnen und Politiker werden dann noch interviewt? Und wie steht es um journalistische Nebentätigkeiten? Antworten von Friedbert Meurer, Moderator und Leiter der Abteilung Aktuelles.

Friedbert Meurer im Gespräch mit Sebastian Wellendorf | 16.09.2021
Die Gebäude des Deutschlandfunks im Kölner Stadtteil Raderthal
Das Funkhaus Köln, auch DLF-Funkhaus genannt - seit 1980 sendet hier der Deutschlandfunk (picture alliance/dpa | Horst Galuschka)
"In Wahlkampfzeiten kommt dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk von Verfassungswegen in besonderem Maße die Funktion als Medium und Faktor der öffentlichen Meinungsbildung zu." So beginnt ein aktuelles ARD-Papier zur Bundestagswahl 2021. Darin erhalten die Sender des Rundfunkverbunds "Empfehlungen für die redaktionelle Praxis". Dazu gehören Punkte wie Chancengleichheit oder das Ausgewogenheits- und Neutralitätsgebot.
"Je enger der zeitliche Zusammenhang der Sendung mit dem Wahltag, desto mehr ist bei der Programmgestaltung der Grundsatz der Chancengleichheit der an der Wahl beteiligten Parteien zu beachten", heißt es dann in der Zusammenfassung. Und wie sieht es aus bei den Sendern des Deutschlandradios, die ja neben ARD und ZDF Teil des öffentlich-rechtichen Rundfunks in Deutschland sind?
Warum Radio- und Fernsehsender Wahlwerbung senden
Seit dem 30. August laufen in Radio und Fernsehen wieder vier Wochen lang Wahlwerbespots der Parteien zur Bundestagswahl. Warum müssen die Sender die Wahlwerbung überhaupt spielen? Eine Übersicht.
In der Frage der Interviews gebe es "eine Regel, die wir schon lange einhalten", sagte Friedbert Meurer im Gespräch mit @mediasres, dem Medienmagazin im Deutschlandfunk: In der Woche vor dem Wahltermin würden die Spitzenkandidaten der Parteien nicht mehr interviewt. Diese Regel sei zwar "altmodisch", auch mit Blick auf die eigene Audiothek, wo ja auch entsprechende Interviews zu finden seien. Doch man wolle "nicht den Anschein erwecken, wir bevorzugen jemanden" so kurz vor der Wahl.

Die Fälle Thadeusz und Brasch

In dieser Woche war bekannt geworden, dass Jörg Thadeusz bis zur Bundestagswahl nicht mehr als Moderator bei den öffentlich-rechtlichen Sendern RBB und WDR arbeiten wird. Hintergrund ist, dass der Journalist für eine Broschüre der Berliner FDP eine Kolumne verfasst hatte. Der WDR teilte daraufhin mit, das widerspreche der Regel des WDR, dass sich seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter "nicht aktiv im Wahlkampf betätigen".
Wahlkampf als politisches Pferderennen
Die umfragengetriebene Berichterstattung in diesem Wahlkampf weckt bei manchen Beobachtern Assoziationen mit einem Pferderennen. Politische Journalisten klingen mitunter wie Sportreporter. Inhalte kämen dabei aber zu kurz.
Zuvor hatte bereits der RBB erklärt, seine langjährige Moderatorin Marion Brasch werde bis zur Wahl nicht mehr beim RBB zu hören sein. Begründet hatte der Sender das mit seinen eigenen Regeln für die Zeit vor Wahlen. Brasch hatte sich gemeinsam mit rund 100 Kunst- und Kulturschaffenden in einer Zeitungsanzeige für die Wahl der Linken ausgesprochen. Thadeusz wurde für sein Engagement vom RBB zunächst nur öffentlich gerügt. Das Angebot, seine Arbeit vorerst ruhen zu lassen, kam dann von dem Journalisten selbst.

"Bitte nicht, wir wollen unabhängig sein"

Im "journalistischen Selbstverständnis", einem Leitfaden für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Kultur und Deutschlandfunk Nova, heißt es: "Mitarbeiter dürfen während eines Wahlkampfes für Europa-, Bundestags- und Landtagswahlen in den sechs Wochen vor dem Wahltermin an keiner Rundfunksendung gestaltend mitwirken, wenn sie sich im jeweiligen Wahlkampf aktiv beteiligen."
Man dürfe Parteimitglied sein, aber er wolle nicht von einem Dlf-Kollegen in der Fußgängerzone "ein Flugblatt in die Hand gedrückt bekommen", führt Friedbert Meurer aus. Als Leiter der Abteilung Aktuelles würde er außerdem mitbekommen, sollte jemand einen Antrag auf eine Nebentätigkeit für eine anderweitige Moderation stellen, etwa bei einer politischen Stiftung. In einem solchen Fall würde er sagen: "Bitte nicht, wir wollen unabhängig sein", so Meurer. Man wolle weiterhin als fair wahrgenommen werden in der Berichterstattung.

Sebastian Wellendorf: Herr Meurer, welche Vorgaben macht der Deutschlandfunk, wenn es um anstehende Bundestagswahlen geht?
Friedbert Meurer: In der Woche selbst vor der Bundestagswahl, also ab kommendem Montag, interviewen wir keine Spitzenkandidaten mehr. Das heißt also: Keine Annalena Baerbock, kein Robert Habeck – auch Spitzenkandidat, Linke und AfD haben auch zwei Spitzenkandidaten – kein Armin Laschet, kein Olaf Scholz, Alexander Dobrindt, CSU – niemanden mehr aus dieser Riege "fassen wir" in der letzten Woche an, machen einen Bogen darum.
Wellendorf: Um keinen Eindruck der Bevorzugung zu erwecken?
Meurer: Ja, genau deswegen. Wir sind uns auch darüber im Klaren: Wir schreiben das Jahr 2021, die Regel ist Jahrzehnte alt, und sie galt übrigens auch mal für die Dauer von drei Wochen und ist dann auf eine Woche runtergezoomt worden – insofern altmodisch. Man muss ja nur bei uns in die Audiothek gehen – dann findet man die ganzen Interviews, die wir hatten. Aber: Ja, es geht um den Anschein. Wir wollen uns nicht nachsagen lassen: Wie? Was? Ihr habt jetzt den Laschet zwei Tage vor der Wahl interviewt? Warum nicht Scholz? Warum nicht Baerbock? Deswegen sagen wir: keinen.

Mehr zu den Spitzenkandidaten der Pateien


Wellendorf: Da geht es wirklich um: zwei Tage vorher, einen Tag vorher, einer war eher dran am aktuellen Wahltermin, einer war einen Tag weiter entfernt?
Meurer: Vielleicht sogar das. Wir haben noch keine Mail bekommen, dass Laschet den letzten, nein, den vorletzten Interviewplatz bekommen hat am letzten Sonntag vor der Wahl. Aber wir wollen auch nicht in den Geruch geraten, zwei Tage vorher, drei Tage vorher, warum den, warum nicht den? Der Tag ist egal. Wir wollen nicht den Anschein erwecken, wir bevorzugen jemanden.
Friedbert Meurer, Leiter der Abteilung Aktuelles, beim Deutschlandfunk im Funkhaus Köln
Friedbert Meurer, Leiter der Abteilung Aktuelles beim Deutschlandfunk im Funkhaus Köln (Deutschlandradio/Bettina Fürst-Fastré)
Wellendorf: Jetzt sprechen wir über das "auf dem Sender", Politikerinnen und Politiker im Deutschlandfunk. Der aktuelle Fall von Jörg Thadeusz und Marion Brasch rankt sich aber um das politische Engagement von Journalistinnen und Journalisten außerhalb des Senders...
Meurer: Die gibt es, Gott sei Dank, in meiner Abteilung nicht. Wir machen ja die "Informationen am Morgen" vor allen Dingen, aber auch die anderen Magazine. Wir haben keinen Kollegen, der sich da exponiert. Und mir ist auch keiner bekannt, der Parteimitglied ist. Das würde aber auch toleriert werden – Parteimitglied werden darf jeder. Aber es wäre schon ein Problem. Ich weiß jetzt nicht genau, was den Kollegen vorgeworfen wird. Also ich will keinen Journalisten von uns im Wahlkampf sehen und dem in der Fußgängerzone begegnen und ein Flugblatt in die Hand gedrückt bekommen.
Bundestagswahl 2021 - zum Dossier
Das Wichtigste zur Bundestagswahl im Überblick (Deutschlandradio / imago images / Alexander Limbach)
Wellendorf: Aber welche Vorgaben gibt es da? Beim RBB darf während eines Wahlkampfes in den sechs Wochen vor dem Wahltermin kein Journalist in einer Rundfunksendung auftreten, wenn er oder sie sich im Wahlkampf betätigen.
Meurer: Es ist mir nicht bekannt, dass es da bei uns eine Regel gibt. Ich habe gestern mal in unserem Staatsvertrag nachgelesen, da steht drin, wir sollen objektiv sein, und jetzt lese ich mal vor: "Die Angebote sollen eine freie, individuelle und öffentliche Meinungsbildung fördern." Da verträgt sich das dann nicht, wenn jemand gleichzeitig Wahlkampf macht.

Mehr zum Thema Bundestagswahlprogramme


Wellendorf: Aber das heißt, das müsste man dann auch individuell entscheiden, was Engagement im Wahlkampf bedeutet? Bei Jörg Thadeusz war es, er hat für eine Zeitung im FDP-Landesverband geschrieben. In Berlin wird am 26. September auch über die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses abgestimmt, also da offenbar eine Vermischung von politischen und journalistischen Interessen…
Meurer: Es ist bei uns so, jetzt werde ich mal formal, dass jeder, der so etwas macht, einen Nebentätigkeitsantrag stellen muss. Wir sind ja auch ein bürokratisches Gebilde. Darf man beispielsweise eine Moderation einer Veranstaltung machen, selbst einer Stiftung, die ja angeblich parteifern ist, aber doch als parteinah bezeichnet wird? Da müsste ein Nebentätigkeitsantrag gestellt werden. Der läuft unter anderem über meinen Tisch. Da würde ich mit dem Kollegen reden und sagen: So kurz vor der Wahl halte ich das für keine gute Idee.
Wellendorf: Das wird individuell entschieden?
Meurer: Ja.
Journalistische Interessenkonflikte
FDP-Chef Christian Lindner ist seit Jahren mit Franca Lehfeldt liiert. Die Journalistin berichtet für RTL als Chefreporterin aus Berlin. Nun hat der FDP-Chef mitten im Wahlkampf in der "Bunte" über sehr private Pläne gesprochen. Ein Interview, über das dann auch RTL berichtet hat.
Wellendorf: Gilt das nur für die Vorwahlzeit? Der Interessenkonflikt, die Wahrung der journalistischen Unabhängigkeit müsste doch eigentlich immer gelten?
Meurer: Natürlich gilt der immer. Wie gesagt: Wir haben bei uns in der Abteilung keinen, der sich irgendwie parteipolitisch profiliert hätte oder der etwa bei Greenpeace mitmacht. Man kann Regeln formulieren und darauf rumreiten, zurecht oder nicht zurecht. Mir ist es natürlich wichtig, dass wir als Deutschlandfunk, gerade weil die Morgensendung von so vielen Leuten gehört wird, dass wir als unabhängig wahrgenommen werden, dass wir als fair wahrgenommen werden. Und alles, was diesem Anschein entgegensteht, wäre schlecht. Und dann würden ich und andere sagen: Bitte nicht, wir wollen unabhängig sein.
Wellendorf: Marion Brasch und Jörg Thadeusz pausieren nun bis zur Wahl. Richtige Entscheidung aus Ihrer Sicht?
Meurer: Ja. Wir Öffentlich-Rechtlichen stehen nun mal im Feuer, stehen auch zurecht im Feuer. Wir werden von allen bezahlt. Wir gehören allen. Jeder bezahlt die Rundfunkgebühr, wir dürfen nicht einseitig sein. Der Deutschlandfunk hat, glaube ich, einen ziemlich guten Ruf, was seine Informationshaltung angeht. Und wir sollten nichts tun, was das gefährdet. Wenn andere das auch so sehen, ist das richtig.