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Jan Zielonka
"Konterrevolution"

EU-Skeptiker wie die AfD oder das Rassemblement National könnten bei der Europawahl deutlich zulegen. Der Politologe Jan Zielonka macht für das Erstarken dieser Parteien vor allem die liberale Elite verantwortlich. Und er fordert einen grundlegenden Umbau der EU.

Von Peter Sawicki | 15.04.2019
Cover-Collage: Buchcover "Konterrevolution" von Jan Zielonka, Campus Verlag. Hintergrund rechts: Ein Mann steht vor einem Abgrund.
"Konterrevolution" ist ein Buch, das aufrütteln soll. Autor Jan Zielonka ist bekennender Europäer und übt Selbstkritik an seinem sozialen Umfeld: den liberalen Eliten. (Buchcover: Campus Verlag, Hintergrund: imago/Gary Waters)
Als im Juni 1989 das polnische Fernsehen über die ersten weitgehend freien Wahlen seit dem Zweiten Weltkrieg berichtete, hatte Jan Zielonka seine Heimat längst verlassen - beseelt vom Traum, ein Europa "ohne Mauern und unterdrückerische Regime" erleben zu können. Als Dozent für Politikwissenschaften beobachtete er von den Niederlanden aus, wie dieser Traum auch weite Teile des realsozialistischen Osteuropas zu erfassen begann. Europa erlebte aus Sicht Zielonkas eine liberale Revolution, und damit auch für ihn eine Zeit des Aufbruchs.
Knapp 30 Jahre später ist Zielonka ernüchtert. Der gebürtige Schlesier, heute Professor am traditionsreichen St. Antony’s College in Oxford, attestiert der EU in seinem Buch "Konterrevolution" eine existenzielle Notlage. Euro, Migration, Brexit - eine Krise folge auf die andere. Und damit stünden auch liberale Werte wie individuelle Freiheit und Gleichheit und mit ihnen der Parlamentarismus sowie freier Handel in Frage. Der Machtzuwachs EU-skeptischer Parteien sei Konsequenz und Ausdruck davon.
"Populisten" ist kein treffender Ausdruck
Doch dass EU-Kritiker wie Viktor Orbán, Jarosław Kaczyński oder Marine Le Pen häufig das Etikett "Populisten" verpasst bekämen, greift für Zielonka zu kurz. Er sieht in ihnen vielmehr überzeugte Ideologen mit einer klaren Agenda:
"Häufig bezeichnet man die konterrevolutionären Politiker als Populisten. Dieser Begriff erfasst das wesentliche Ziel dieser Politiker nicht, nämlich die Abschaffung der nach 1989 geschaffenen Ordnung […]. Die herrschende politische und intellektuelle Elite ist allzu eifrig darauf bedacht, jegliche Kritik als 'populistisch' abzutun."
Mit den Gegnern der EU befasst sich Zielonka aber nur am Rande, anders als es der Titel des Buchs andeuten mag. Er kehrt vornehmlich vor der eigenen Haustür. Zumal in der Vergangenheit, klagt er, dass:
"…sich Liberale im Fingerzeigen auf andere als besser erwiesen als in der Selbstreflexion."
Befremdung über "liberale Oligarchie"
Was der Politologe auf gut 180 Seiten über die heutige Europäische Union zu sagen hat, ist eine Abrechnung mit dem politischen System und den Akteuren, die es errichtet haben. Schon seit den 90ern nimmt Zielonka regelmäßig kritische Analysen der EU vor.
"Konterrevolution" ist in Form eines Briefes verfasst. Diesen adressiert Zielonka an seinen Mentor, den 2009 verstorbenen Soziologen Ralf Dahrendorf. Wie er versteht sich der Autor als klassischer Liberaler im Geiste eines John Stuart Mill. Mit dem heutigen Liberalismus fremdelt Zielonka. Er spricht von einer selbstgefällig gewordenen "liberalen Oligarchie":
"Vielleicht sind Elitedenken, Ungleichheit, dysfunktionale Parlamente und europäische Institutionen und sogar Hedonismus und Gier Produkte des Liberalismus. Wenn einiges davon zutrifft, sollten wir uns entschuldigen, dass wir die Wähler getäuscht haben."
Bundesparteitag der FDP in der Stadthalle in Freiburg 1968
Die Historikerin Franziska Meifort schrieb 2017 eine viel beachtete Biografie über Ralf Dahrendorf. (Verlag CH Beck/picture alliance/dpa/Foto: Fritz Fischer)
Für Zielonka hat vor allem die neoliberale Wirtschaftspolitik ihren Auftrag verfehlt. Er kritisiert staatliche Bankenrettungen, Steueroasen und die Privatisierung öffentlicher Dienste. Der Euro hat laut Zielonka außerdem nicht zu einer Angleichung zwischen den ökonomisch stärkeren und schwächeren Ländern geführt, sondern die Kluft noch verschärft. Griechenland und Zypern, schreibt der gebürtige Pole, seien de facto keine souveränen Staaten mehr. Es sind bemerkenswerte Worte, die auch von weit links stammen könnten. Die Klage über den selbst verursachten Verfall liberaler Politik in Europa ist ein wiederkehrendes Element in Zielonkas Buch:
"Im Europa der sechziger und siebziger Jahre drehte sich der liberale Diskurs um den Sozialstaat und die Vorstellung, gegenseitige Verantwortung und Gemeinsinn seien die Mittel, um die individuelle Entwicklung zu unterstützen. […] Liberale dürfen nicht nur über Individuen und deren Freiheit denken und reden. Sie sollten anfangen, ernsthaft über soziale Verantwortung und ihr Potenzial zur Sicherung liberaler Freiheiten nachzudenken."
Neben der Rückbesinnung auf die Kerngedanken des Liberalismus plädiert Zielonka für eine grundlegende Reform der EU-Strukturen. Eine tragfähige Bürgerbeteiligung etwa ließen diese bis heute vermissen. Verstärkt werde die Legitimationskrise durch die Macht nichtgewählter Gremien wie der EU-Kommission. Deren Noch-Präsident Jean-Claude Juncker ist in den Augen Zielonkas nicht mehr als ein "visionsloser Technokrat".
So konsequent der Politologe den Finger in die Wunde legt, so dünn sind aber seine Lösungsvorschläge. Zumindest ist der Weg erkennbar, den er einschlagen will:
"Wir müssen nach effizienteren, klügeren Wegen suchen, die dem Volk Mitbestimmung sichern. […] Europa braucht ein neues Integrationsmodell, das lokale Bedingungen anerkennt und flexible, dezentralisierte Governance-Methoden auf der Basis sinnvoller Anreize bietet."
Weniger Macht für Brüssel, mehr für die Regionen
Weniger Macht für Brüssel und die Nationalstaaten also, mehr Einfluss für Regionen und Städte. Eine Skizze einer umgebauten EU entwirft Zielonka aber nur im Ansatz. Es bleiben auch weitere wichtige Fragen eher unbeantwortet: Welche Zukunft soll der Euro haben? Braucht die EU eine gemeinsame Außenpolitik? Wie umgehen mit dem Reizthema Migration? Die Schlüsse, zu denen der Autor kommt, sind oft nicht neu und wiederholen sich immer wieder. Das allerdings verdeutlicht zugleich, wie ernst es Zielonka meint. Den sogenannten Populisten will er die Gestaltungshoheit über das künftige Europa nicht überlassen:
"Tatsächlich fürchte ich, dass sie Europa zu einem ineffizienten und vielleicht sogar grauenvollen Ort machen."
Es ist ein Buch, das aufrütteln soll. Schon das Ausmaß an Selbstkritik aus dem Mund eines Liberalen ist eine Seltenheit. Allein das macht das Buch lesenswert. Wenige Wochen vor einer als richtungsweisend titulierten Europawahl allemal.
Jan Zielonka: "Konterrevolution. Der Rückzug des liberalen Europa",
Campus Verlag, 206 Seiten, 19,95 Euro.