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Katholischer Abtreibungsstreit
25 Jahre nach dem Basta-Brief aus Rom

Im Jahr 1998 lieferten sich die deutschen Bischöfe eine beispiellose Machtprobe mit dem Vatikan. Es ging darum, ob katholische Beratungsstellen ein Dokument ausstellen dürfen, das straffreie Abtreibung ermöglicht. Der Streit wirkt bis heute fort.

Von Monika Dittrich | 26.01.2023
Papst Johannes Paul II. am Petersdom im Jahr 1998.
Die Vorstellung, dass katholische Beratungsstellen einen Schein ausstellen, damit Frauen in Notlagen ihre Schwangerschaft straffrei abbrechen können, war für Papst Johannes Paul II. untragbar (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / MASSIMO SAMBUCETTI)
Post vom Papst kann unerfreulich sein. Auch wenn die Worte höflich klingen: Nicht selten werden die Adressaten an ihre Pflicht zum Gehorsam und die päpstliche Vollmacht erinnert. So war es auch vor 25 Jahren, als Johannes Paul II. an die deutschen Bischöfe schrieb. Datiert ist der Brief vom 11. Januar 1998 – doch die Empfänger mussten die wenigen Seiten erst tagelang studieren und interpretieren, bevor sie sich Ende Januar der Öffentlichkeit erklärten.
 
„Also zunächst mal, ich bin froh, dass der Papst eine einfühlsame und partizipieren lassende Sprache wählt“, so Karl Lehmann, er war damals Bischof von Mainz und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. „Aber auf der anderen Seite wäre es auch nicht ehrlich, wenn ich nicht sagen würde, gleich in den ersten zwölf Zeilen steht auch drin, dass er als oberster Hirte Richtlinien erlässt.“
Kardinal Karl Lehmann unterhält sich am 26.06.2014 im Bischöflichen Ordinariat in Mainz (Rheinland-Pfalz) bei einer Buchpräsentation mit Verlegern und Journalisten.
Der ehemalige Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, starb im Jahr 2018 (picture alliance / dpa / Fredrik von Erichsen)
Im Brief hieß es: „So möchte ich (…) gemäß meiner Verantwortung als oberster Hirte der Kirche einige Richtlinien für das künftige Verhalten in den umstrittenen Punkten geben.“ Es ging um den erst wenige Jahre zuvor in Deutschland reformierten Abtreibungsparagrafen 218 des Strafgesetzbuchs. Seit den 1970er-Jahren hatte in der Bundesrepublik die sogenannte Indikationsregelung gegolten; eine Abtreibung war grundsätzlich gesetzeswidrig, außer wenn beispielsweise medizinische Gründe vorlagen oder eine soziale Notlage drohte. Nur in solchen Ausnahmefällen war die Abtreibung also straffrei.
Dieses Indikationsmodell war immer wieder Anlass für Proteste, etwa der Frauenbewegung. Viele Feministinnen wollten den Strafrechtsparagrafen abschaffen, am liebsten zugunsten einer Fristenregelung wie etwa in der DDR. Dort gab es seit 1972 das Gesetz über die „Unterbrechung“ der Schwangerschaft. Darin hieß es: „Die Gleichberechtigung der Frau in Ausbildung und Beruf, Ehe und Familie erfordert, dass die Frau über die Schwangerschaft und deren Austragung selbst entscheiden kann.“

Der Abtreibungskompromiss von 1995

Indikationsregelung im Westen, Fristenregelung im Osten: Es waren zwei sehr unterschiedliche Rechtsauffassungen, die nach der Wiedervereinigung in Einklang gebracht werden mussten. Nach erbitterten Diskussionen einigte sich der Bundestag 1995 schließlich auf einen Kompromiss, der auch den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entsprach. Demzufolge ist Abtreibung in Deutschland nach wie vor eine Straftat, sie bleibt aber in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen straffrei, wenn sich die Frau mindestens drei Tage vor dem Eingriff in einer anerkannten Stelle beraten lässt.
Für die katholische Kirche ergab sich daraus ein Dilemma, denn auch katholische Beratungsstellen etwa bei der Caritas oder beim Sozialdienst katholischer Frauen waren Teil dieses staatlichen Beratungssystems – auch dort erhielten schwangere Frauen in Notlagen die Pflichtberatung und auch den Schein, um gegebenenfalls straffrei abtreiben zu dürfen. Und genau dieser Schein war für den Papst untragbar:  

„Nach gründlicher Abwägung aller Argumente kann ich mich der Auffassung nicht entziehen, dass hier eine Zweideutigkeit besteht, welche die Klarheit und Entschiedenheit des Zeugnisses der Kirche und ihrer Beratungsstellen verdunkelt.“
Die römisch-katholische Kirche lehnt Abtreibung grundsätzlich ab. Auch die deutschen Bischöfe hatten in der politischen Debatte jede Form von Liberalisierung des Strafrechtsparagrafen 218 kritisiert und sich bei der Neuregelung für die ausführliche Pflichtberatung stark gemacht. An dem nun gesetzlich vorgeschriebenen staatlichen Beratungssystem beteiligte sich die katholische Kirche, um ihren Einfluss geltend zu machen: also aus der Überzeugung heraus, dass in ihren eigenen Einrichtungen im katholischen Geist beraten wird, um schwangeren Frauen Perspektiven für ein Leben mit dem Kind aufzuzeigen.

„Ich habe es als eine ernste Frage erlebt, wie es gelingen kann, dort, wo Frauen in Konfliktsituationen sind, wie es gelingen kann, sie gut zu unterstützen und auch überhaupt zu erreichen“, sagt Irme Stetter-Karp. Sie erinnert sich gut an das katholische Dilemma und die Debatte in den 1990er-Jahren. Damals war sie beim Bistum Rottenburg-Stuttgart angestellt, heute ist sie Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, also des höchsten Gremiums der katholischen Laien. Sie hielt es schon damals für eine christliche Pflicht, Frauen in existentiellen Notlagen nicht im Stich zu lassen. „Aber am Ende muss die Frau die Entscheidung treffen und dann gilt Respekt vor ihrer Entscheidung und insofern muss die Beratung ergebnisoffen sein.“
Irme Stetter-Karp, Präsidentin des Zentralkommitees der deutschen Katholiken
Irme Stetter-Karp, Präsidentin des Zentralkommitees der deutschen Katholiken (picture alliance/dpa/Bernd Weißbrod)
Doch im Vatikan herrschte eine andere Auffassung, vorangetrieben auch von Joseph Ratzinger, dem damaligen Chef der Glaubenskongregation und späteren Papst Benedikt. Die deutschen Bischöfe hatten schon 1995 einen Brief aus Rom erhalten, in dem Papst Johannes Paul II. das deutsche Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch kritisierte. Noch ohne eine konkrete Forderung, was die Beratungsscheine betrifft. Aber die deutschen Kleriker hätten wohl bereits ahnen können, dass sie mit der katholischen Schwangerschaftskonfliktberatung in Rom nicht durchkommen würden.
Doch selbst im Januar 1998, nach dem zweiten und eindeutigeren Papst-Brief, gab sich Karl Lehmann als Chef der Bischofskonferenz noch optimistisch: „Wir werden nach Wegen suchen, wie wir ohne einen Schein im beschriebenen Format trotzdem eine Beratung im Konfliktfall durchführen können.“

Katholischen Beratungsstellen drohte Verlust staatlicher Zuschüsse

Doch wie sollte das gehen - eine Beratung innerhalb des staatlichen Systems - aber ohne den Schein, den Frauen für eine straffreie Abtreibung brauchen? Letztlich ging es auch um die Existenz hunderter katholischer Beratungsstellen: Ihnen drohte nämlich der Verlust staatlicher Zuschüsse, wenn sie den gesetzlich geforderten Schein nicht mehr ausstellten. Für den Staat ging es um die Frage, wie im ganzen Land genügend Beratungsstellen vorgehalten werden könnten, wenn die katholische Kirche als wichtige Anbieterin ausfallen würde.
Selbst aus den kirchenfreundlichen Unionsparteien CDU und CSU, damals noch in einer Bundesregierung mit der FDP, kamen kritische Äußerungen und Versuche, den Vatikan umzustimmen - wohl auch aus Angst, der mühsam errungene Abtreibungs-Kompromiss könnte gefährdet werden. Bischof Karl Lehmann rang beim Papst jedenfalls um eine Duldung, reiste in den Vatikan, erfand einen modifizierten Beratungsplan mit sogenanntem Beraterbrief - doch es half alles nichts. 1999 kam aus Rom schließlich die unmissverständliche Anweisung, endgültig aus dem staatlichen Beratungssystem auszusteigen und keinerlei Scheine mehr auszustellen.
 „Wir haben gekämpft, wir haben verloren“, sagte Karl Lehmann. Allerdings war es nicht so, als hätten die Bischöfe gemeinsam für ihr Anliegen gekämpft. Im Gegenteil. Sie waren zerstritten. Da waren etwa Joachim Meisner, Erzbischof von Köln, und Erzbischof Johannes Dyba in Fulda. Beide ultrakonservativ und papsttreu. Dyba hatte den Beratungsschein als „Lizenz zum Töten“ bezeichnet, die Beratungsstellen in seinem Bistum waren schon vor dem Machtwort aus Rom aus dem staatlichen System ausgestiegen. Am längsten daran festgehalten hatte wiederum der Limburger Bischof Franz Kamphaus, der in letzter Konsequenz aber ebenfalls die Machtprobe mit dem Papst verlor. Große Teile der deutschen Öffentlichkeit und auch der Politik reagierten mit Empörung auf das Einknicken der deutschen Bischöfe und den Rückzug aus der Schwangerschaftskonfliktberatung.

Parallele zum Synodalen Weg

Der Schweizer Theologe und Kirchenkritiker Hans Küng brachte die Stimmungslage vor 25 Jahren im Deutschlandradio folgendermaßen auf den Punkt: „Ich wundere mich, dass die deutschen Bischöfe einen solchen Ukas aus Rom letztlich dann doch akzeptieren können, warum man da nicht protestiert. Es geht ja auch um die Frage der Empfängnisverhütung, es geht um die Frage der Frauenordination, es geht um die Frage der Laientätigkeit. Wann endlich sagt ein deutscher Bischof die Wahrheit? Dass dieses autokratische Regime, das uns da jede zweite Woche einen Befehl aus Rom schickt, dass das hoffnungslos überholt ist.“
„Der apostolische Stuhl weiß ganz genau, am Ende siegt seine Befehlsgewalt, und es hat ja auch damals geklappt. Im vorliegenden Fall fiel ein Bischof nach dem anderen um und stieg aus der staatlichen Beratung aus“, so Norbert Lüdecke, emeritierter Professor für Kirchenrecht an der Universität Bonn. „Die Gehorsams-DNA eines katholischen Bischofs weicht letztlich so gut wie immer der Vollmacht von oben.“
Denn Bischöfe haben einen Treue-Eid gegenüber dem Papst abgelegt - der Kirchenmonarch hat also das letzte Wort.
Lüdecke erkennt in der Debatte über die Schwangerschaftskonfliktberatung vor 25 Jahren eine Parallele zur Gegenwart: Wie damals hofften katholische Laien auch heute wieder auf die Unterstützung ihrer Bischöfe und das Entgegenkommen des Vatikans – nämlich beim Synodalen Weg. So heißt ein Gesprächsformat der katholischen Kirche in Deutschland, bei dem katholische Grundsätze zur Debatte stehen: Sexualmoral und Zölibat, Machtverteilung und die Rolle von Frauen in der Kirche. 2019 wurde das Reform-Projekt von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken ins Leben gerufen, auch als Reaktion auf tausende Fälle sexueller Gewalt in der katholischen Kirche.
Doch Kirchenrechtsexperte Lüdecke ist skeptisch, ob der Synodale Weg etwas bewirken kann: „Ich erwarte nicht, dass auch nur ein deutscher Bischof sein Amt für irgendein Anliegen des Synodalen Wegs riskieren wird.“ Zumal Papst Franziskus längst deutlich gemacht hat, dass er von den Vorschlägen der deutschen Katholiken nichts hält, zuletzt erst in einem Brief, den die Bischofskonferenz dieser Tage veröffentlichte.
Den Konflikt mit Rom musste Georg Bätzing, derzeit Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, auch einräumen, als er im November von einem Vatikanbesuch zurückkehrte: „Es endet ein Arbeitsbesuch von hoher Nachdenklichkeit, einer Vielfalt von Themen, und der Tatsache, dass wir in wichtigen theologischen Fragen, auch beim Synodalen Weg, keine einheitliche Auffassung haben.“
Keine einheitliche Auffassung: Das gilt allerdings auch für die deutschen Bischöfe selbst. Nicht alle stehen hinter den Reformideen des Synodalen Wegs. Und auch die Reformwilligen unter den Bischöfen sollten nach Ansicht des Kirchenrechtsexperten Norbert Lüdecke ehrlich sagen, dass sie gegen den Willen des Papstes keine großen Veränderungen bewirken werden: „Laien sollten sich nicht auf Bischöfe verlassen. Im Zweifel wird ihre Loyalität fast immer dem System und ihren männerbündischen ständischen Mitbrüdern gehören.“ 

Schwangerschaftskonfliktberatung durch katholische Laien

Allerdings haben die katholischen Laien in Deutschland die Bischöfe in der Frage der Schwangerschaftskonfliktberatung in gewisser Weise entmachtet. Denn 1999, nachdem klar war, dass katholische Beratungsstellen den notwendigen Schein nicht mehr ausstellen dürfen, wurde aus den Reihen des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, kurz ZdK, ein Verein gegründet: donum vitae, zu Deutsch - Geschenk des Lebens. donum vitae bietet seither Schwangerschaftsberatung an, auch im Konfliktfall, auch mit Schein.
Zu den damaligen Gründungsmitgliedern gehört Irme Stetter-Karp, heute Präsidentin des ZdK: „Wir halten es für essenziell, Frauen hier nicht allein zu lassen. Und insofern halte ich das auch für ein Glaubenszeugnis.“ Mittlerweile bietet donum vitae an mehr als 200 Orten in ganz Deutschland Schwangerschaftskonfliktberatung an, zehntausende ratsuchende Menschen wenden sich jedes Jahr an den Verein. Darunter auch viele Frauen, die darüber nachdenken, ihre Schwangerschaft abzubrechen.
„donum vitae berät auf der Basis des christlichen Menschenbildes und sieht sich in doppelter Anwaltschaft sowohl für den Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens als auch für die Würde und das Selbstbestimmungsrecht der Frau“, sagt Julia Seeberg, sie ist Geschäftsführerin bei donum vitae. Ergebnisoffene Beratung, und trotzdem das ungeborene Leben schützen? Julia Seeberg erklärt es so: Doppelte Anwaltschaft heiße bei donum vitae, der Stimme des ungeborenen Kindes Raum zu geben – aber trotzdem den Willen der Frau zu respektieren.
„Letztendlich liegt die Entscheidung am Ende nicht bei den Beratungsstellen, ob eine Abtreibung erfolgt, sondern bei den Frauen selber, die diesen Beratungsschein erhalten.“ Die Beratung einerseits und das Ausstellen des Scheins andererseits – das seien zwei unterschiedliche Schritte, sagt Julia Seeberg: „Und diese Möglichkeit, im Rahmen des staatlichen Beratungssystems für den Schutz des ungeborenen Lebens gemeinsam natürlich mit der Frau beziehungsweise nicht gegen den Willen der Frau einzutreten, aber Perspektiven für ein Leben mit Kind zu ermöglichen, das ist es, was die Beratungsarbeit von donum vitae auszeichnet und was sicherlich auch stark auf die katholische Prägung zurückgeht.“

Auch Laien kritisieren den Verein donum vitae

Über die katholische Prägung aber lässt sich streiten. Denn kirchenrechtlich gesehen verstößt donum vitae gegen die römisch-katholische Lehre, ein Fall von Ungehorsam. Die Bischöfe reagierten entsprechend mit einem Unvereinbarkeitsbeschluss: Wer im kirchlichen Dienst steht, durfte zunächst nicht bei donum vitae mitarbeiten. Dieses Diktum wurde mittlerweile abgemildert. Norbert Lüdecke sieht in dem Verein jedenfalls eine Selbstermächtigung katholischer Laien: „Mit donum vitae haben die deutschen Bischöfe erstmals einen Teil ihrer symbolischen und realen Macht über das Katholische verloren.“
Allerdings gibt es auch katholische Laien, die solche Selbstermächtigungen kritisch sehen. Eine von ihnen ist Jessica Brandstetter, 25 Jahre alt, Studentin der Psychologie. Sie engagiert sich bei Maria 1.0, einer Initiative, die treu zum Vatikan steht. Zum festen Team gehören nach eigenen Angaben 50 Aktive, der Unterstützerkreis umfasse aber mindestens 4.000 Menschen, so Brandstetter. „Wir von Maria 1.0 stehen uneingeschränkt hinter der römisch-katholischen Lehre.“
Und dazu gehört die strikte Ablehnung von Abtreibung. Auch die Arbeit von donum vitae sieht Jessica Brandstetter kritisch: „Da muss sich dann auch jeder einzelne Katholik fragen, wie kann er das mit seinem katholischen Glauben vereinbaren, weil damit steht er im Konflikt mit Rom, mit der Lehre der Kirche. Weil ich es als Katholik niemals gutheißen kann, dass ein Kind stirbt.“
Auch Jessica Brandstetter erkennt in der Debatte um die Schwangerschaftskonfliktberatung vor 25 Jahren Parallelen zu den heutigen Reformdiskussionen beim Synodalen Weg. Damals wie heute gehe es um unantastbare Glaubenswahrheiten: „Auch auf dem Synodalen Weg werden Glaubenswahrheiten diskutiert, die nicht diskutabel sind, das Priestertum der Frau zum Beispiel. Es gibt kein Priestertum der Frau, es kann kein Priestertum der Frau geben, weil der Papst festgestellt hat, dass es nicht möglich ist, Frauen zu weihen. Und ich weiß, dass das, was die Kirche lehrt, richtig ist.“

Die aktuelle Diskussion um Schwangerschaftsabbrüche

Immer mehr Bundesbürger sehen es allerdings anders: Die Zahl der Kirchenaustritte ist so hoch wie nie zuvor. Und damit schwindet auch die Relevanz kirchlicher Argumente. Bei politischen Entscheidungen zu ethischen Fragen wie Schwangerschaftsabbrüchen hat das Wort der Kirchen hierzulande immer weniger Gewicht. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung ist von „reproduktiver Selbstbestimmung“ die Rede. Nachdem die Koalition bereits das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche abgeschafft hat, hoffen die Befürworter liberaler Abtreibungsregeln auf einen weiteren Schritt, dass nämlich die Beratungspflicht entfällt und Schwangerschaftsabbrüche möglicherweise gar nicht mehr im Strafgesetzbuch geregelt werden.
Bundesfamilienministerin Lisa Paus von den Grünen fordert jedenfalls, den Straffrechtsparagrafen 218 abzuschaffen. Für die katholische Kirche stellt sich noch eine andere Frage: Hat sie auch deshalb an politischer Relevanz verloren, weil sie streng an ihren normativen Überzeugungen festhält, statt Frauen in Konfliktlagen zu unterstützen? Julia Seeberg von donum vitae: „Aus meiner Sicht ist es auf jeden Fall besser, im staatlichen System mit dabei zu sein als sich komplett zurückzuziehen und somit keine Möglichkeiten zu haben, in diesem Themenfeld weiterhin mit Verantwortung zu übernehmen.“
Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche ist in Deutschland zuletzt weiter gesunken, 2021 waren es knapp 95.000 - im Vergleich zu fast 109.000 zehn Jahre zuvor. Manche Konfliktberaterin wird diese Entwicklung als Erfolg verbuchen. Die katholische Kirche in Deutschland hatte daran aber wohl keinen Anteil.