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Der Fall Lina E.
Angeklagt wegen linksextremer Gewalt

Hat Lina E. als Teil einer linksextremen kriminellen Vereinigung brutale Angriffe auf Rechtsextreme ausgeführt? Dazu wird vor dem Oberlandesgericht Dresden verhandelt. Die Verteidigung hält die Anklage für überzogen, die Ermittler sehen den Prozess als essenziell im Kampf gegen Linksextremismus.

Von Alexander Moritz und Edgar Lopez |
Linke Demonstration im Leipziger Stadtteil Connewitz: Die Leipziger Studentin Lina E. sitzt in Untersuchungshaft wegen des Verdachts, linksextreme Anschläge angeführt zu haben
Linke Demonstration im Leipziger Stadtteil Connewitz: Die Leipziger Studentin Lina E. sitzt in Untersuchungshaft wegen des Verdachts, linksextreme Anschläge angeführt zu haben (picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild)
8. September 2021. Prozessauftakt am Oberlandesgericht Dresden. Vor dem Eingang halten Unterstützer aus der linken Szene eine Solidaritätsdemonstration ab. „Freiheit für Lina und die drei weiteren Beschuldigten. Hoch die Solidarität mit allen inhaftierten Antifaschistinnen weltweit.“
Um in den flachen, schmucklosen Saal zu kommen, müssen alle Zuschauer durch eine strenge Sicherheitskontrolle. Wie bei einem Terrorverfahren. Als Lina E. in Handschellen in den Gerichtssaal geführt wird, jubeln ihre Unterstützer ihr zu.
Lina E. antwortet mit Kusshändchen. Für viele in der linken Szene ist die damals 26-jährige Pädagogikstudentin eine Ikone. Weil sie glauben, dass an ihr ein Exempel statuiert werden soll. Und dass Gewalt gegen Rechtsextreme legitim ist - weil der Staat aus ihrer Sicht versagt. „Free Lina!“ steht als Solidaritätsgraffiti an Häuserwänden – nicht nur in ihrer Wahlheimat Leipzig.

Anklage: Mindestens sechs Überfälle auf Rechtsextreme

Gemeinsam sollen Lina E. und die drei Mitangeklagten Lennart A., Jannis R. und Jonathan M. zwischen Oktober 2018 und Frühjahr 2020 in Sachsen und Thüringen mindestens sechs Überfälle auf Rechtsextreme begangen haben. Heimlich geplant, präzise ausgeführt, mit brutaler Gewalt, so der Vorwurf.
Der ehemalige NPD-Stadtrat Enrico B. wurde vor seiner Haustür in Leipzig von mehreren vermummten Personen überfallen. Im Prozess erinnert er sich so:
„Das waren keine normalen Schläge, die müssen kampfsporterfahren gewesen sein. Das schließe ich daraus, dass normalerweise gegen Kopf und Gesicht geschlagen wird. Hier wurde zuerst gezielt auf die Kniescheiben losgegangen. Als ich dann auf dem Boden lag, wurde Pfefferspray eingesetzt. Dann sagte einer: ‚Auf den Kopf treten, ihr sollt auf den Kopf treten‘. Das ist dann auch passiert.“
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Meist greifen die Täter bei den Überfällen aus größeren Gruppen heraus an: In Wurzen lauern sie mehreren Personen am Bahnhof auf, als diese von einer rechtsextremen Demonstration zurückkommen. In Eisenach verprügeln sie die Besucher der rechtsextremen Szenekneipe „Bull’s Eye“ mit Schlagstöcken. Betreiber ist der bekannte Rechtsextreme Leon R. Wenige Wochen später wird er noch einmal überfallen. Diesmal wird auch mit Hämmern zugeschlagen.
Die mutmaßlichen Täter flüchten in zwei Autos. Doch sie werden von der Polizei gestoppt. In einem davon sitzen Lina E. und Lennart A. Sie und mindestens fünf weitere Personen werden kurzzeitig festgenommen. Spätestens jetzt haben die Ermittler sie auf dem Radar.

Anklage: Bildung einer linksextremen kriminellen Vereinigung

Insgesamt 13 Personen aus dem rechtsextremen Spektrum werden bei den Taten verletzt. Sie erleiden teilweise Knochenbrüche und schwerste Kopfverletzungen. Die Bundesanwaltschaft sieht darin mehr als bloße Gewaltstraftaten. Sie wirft den Angeklagten vor, eine linksextreme kriminelle Vereinigung gebildet zu haben. Vier Personen sitzen in Dresden auf der Anklagebank, gegen mehrere weitere wird noch ermittelt. Der Gruppe um Lina E. sei es nicht nur um die einzelnen Opfer der Überfälle gegangen, argumentiert am ersten Prozesstag Bodo Vogler, der in diesem Fall ermittelnde Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof.
„Weil sich die Sache gegen den Grundpfeiler des demokratischen Rechtsstaats, nämlich die friedliche politische Auseinandersetzung richtet, weil sie zur Eskalierung der Situation beiträgt, weil sich die Vereinigungsmitglieder berechtigt ansehen, ihre eigenen, politischen Überzeugungen mit Gewalt durchzusetzen und damit das staatliche Gewaltmonopol negieren.“

Die Bundesanwaltschaft ermittelt

Die Bundesanwaltschaft betrachtet die Straftaten als solche von „herausgehobener Bedeutung“, sie hatte die Ermittlungen deshalb an sich gezogen. Der sächsische Innenminister Roland Wöller, CDU, spricht von „Terrorismus“.
Prozessauftakt im Fall Lina E. am 08.09.2021 am Oberlandesgericht in Dresden: Unterstützer aus der linken Szene halten eine Solidaritätsdemonstration ab
Prozessauftakt im Fall Lina E. am 08.09.2021 am Oberlandesgericht in Dresden (imago / Arvid Müller)
Der Vorwurf: Bildung einer kriminellen Vereinigung nach Paragraf 129 Strafgesetzbuch. Der Paragraf wurde zuletzt verschärft - mit dem Ziel etwa gegen Mafiastrukturen und den internationalen Drogenhandel vorgehen zu können. Bei einer Verurteilung drohen hohe Geldstrafen oder bis zu fünf Jahre Haft.
Die Verteidigung hält diesen Vorwurf dagegen für völlig überzogen. Die Anklageschrift sei in diesem Punkt überaus vage, argumentiert Ulrich von Klinggräff, einer der beiden Verteidiger von Lina E. Die Taten seien beliebig zusammengestellt.
„Das passt im Einzelnen überhaupt nicht zusammen. Hier werden verschiedene Geschehnisse zusammengefasst und unter den Begriff der kriminellen Vereinigung geklammert, die überhaupt nicht zusammengehören und wo man kein gemeinsames Muster erkennen kann.“
Seit einem halben Jahr läuft die Beweisaufnahme nun. Die vier Angeklagten schweigen zu den Vorwürfen. Die Bundesanwaltschaft versucht, ihnen mit Zeugenaussagen und Beweismitteln eine Beteiligung an den Überfällen nachzuweisen.

Ein schleppender, langwieriger Indizienprozess

Aufnahmen von Überwachungsvideos helfen kaum weiter, weil die Täter vermummt sind. Abgehörte Gespräche aus verwanzten Autos sollen die Verabredung zu Taten belegen. Bei den im Prozess vorgespielten Ausschnitten ist das jedoch nicht eindeutig zu verstehen. DNA-Spuren sollen beweisen, dass Lina E. an einem der Tatorte war. Doch die Verteidigung bezweifelt, dass die Spuren überhaupt aussagekräftig sind.
Allerdings wurden in den Wohnungen der Angeklagten Hämmer, Verkleidungsutensilien und mehrere in Tüten verpackte Handys gefunden. Die SIM-Karten sind auf erfundene Personen ausgestellt. Dazu 4.000 Euro Bargeld.
Bei Lina E. wurden außerdem Fotos eines Tatorts gefunden. Und ein abgespeichertes Bekennerschreiben zu einem weiteren Überfall auf die Mitarbeiterin einer Immobilienfirma. Wegen dieser Tat gab es bisher aber noch keine Anklage. Dazu kommen die Festnahmen nach dem Überfall in Eisenach. Es ist ein schleppender, langwieriger Indizienprozess. Gerichtssprecherin Gesine Tews:
„Aus unserer Sicht könnte man sicherlich sagen, dass die Beweisaufnahme deutlich aufwendiger ist als zunächst angenommen. Sehr umfangreich. Auch im Hinblick darauf, dass sich der Senat sehr viel Zeit nimmt für die Beweiserhebung. Und die Beteiligten ebenso wie der Senat sehr intensiv fragen im Rahmen der Beweiserhebung.“
Inwiefern es sich bei der mutmaßlichen Tätergruppe um eine kriminelle Vereinigung im juristischen Sinne handelt, wurde an über 30 Verhandlungstagen bisher kaum besprochen.

Rolle der Lina E. - Führungsfigur der Leipziger Gruppe?

„Es gibt so halb Andeutungen aus Audiodateien, die vorgespielt worden sind oder dass die Leute sich untereinander kannten. Aber direkt für die Vereinigung müsste erstmal nachgewiesen werden, dass die überhaupt, so wie es angeklagt ist, an den einzelnen Taten teilgenommen haben.“
Die Angeklagte Lina E. wird zum Prozessauftakt in den Gerichtssaal in Dresden, Sachsen geführt. 08.09.2021
Die Angeklagte Lina E. wird zum Prozessauftakt in den Gerichtssaal in Dresden, Sachsen geführt. Ihr wird vorgeworfen, Teil einer kriminellen linksextremen Vereinigung zu sein und mehrere Überfälle auf Rechtsextreme gegangen zu haben. 08.09.2021 (AFP / Jens Schlüter)
Gunnar Schubert beobachtet den Prozess im Auftrag der Linksfraktion im sächsischen Landtag: Und jetzt wird es ja nochmal komplizierter, weil eben die kriminelle Vereinigung – da verlangt das Gesetz einiges. Das kann die Staatsanwaltschaft nicht nachweisen: Zum Beispiel Gründungsort, Gründungsdatum, Gründungspersonen. Es fehlt ja an allem, was man juristisch so für eine kriminelle Vereinigung braucht.“
Noch zu klären ist im Prozess zudem, welche Rolle Lina E. spielte. Die Ermittlungsbehörden sind sicher, dass sie eine Führungsfigur der Leipziger Gruppe war. In der Anklageschrift heißt es:
„E. war in mindestens zwei Fällen als Kommandogeberin vor Ort und wirkte aktiv an allen bekannten Vereinigungstaten mit. Mehrfach stellte sie den auf ihre Mutter zugelassenen PKW als Fluchtfahrzeug zur Verfügung. Sie war durch Affinität zur Aufklärung maßgeblich an der Opferauswahl beteiligt.“
Anfang November 2020 wurde Lina E. als einzige Angeklagte festgenommen. Mit einem Polizeihubschrauber wurde sie zum Ermittlungsrichter nach Karlsruhe gebracht. Seitdem sitzt sie in Chemnitz in Untersuchungshaft. 16 Monate sind es inzwischen.
Zu den Prozesstagen wird sie mit Polizeieskorte gebracht. Ihre Unterstützer sehen darin den Versuch, Lina E. zu einer Terroristin hochzustilisieren. Die Richter dagegen haben die Haft mehrfach verlängert. Als Rädelsführerin im juristischen Sinn ist Lina E. allerdings nicht angeklagt. Trotzdem steht sie auch im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Ihre Verteidiger beklagen, Lina E. werde vorverurteilt.

Zeugen erinnern sich kaum an eine Frau

Die Bundesregierung bezeichnet Lina E. in einer Antwort auf eine kleine Anfrage der AfD als „Anführerin“. Die Zeugenaussagen dazu sind widersprüchlich. Der Rechtsextreme Cedric S. meinte im Prozess, sich an eine vermummte Frau zu erinnern. Bei der ersten Vernehmung hatte er das nicht erwähnt. Gibt es Absprachen zwischen den Rechtsextremen? Prozessbeobachter Gunnar Schubert:
„Dass Zeugen sich später dann an die Frau erinnern in der dritten, vierten Vernehmung, die über ein Jahr später nach der Tat stattfindet. Vorher waren es immer ausschließlich Männer oder es wurden überhaupt keine Geschlechter erwähnt. Also auch sehr fragwürdige Sachen.“
Der ehemalige Leipziger NPD-Stadtrat Enrico B. sagte explizit aus, dass er unter den vier Angreifern keine Frau erkannt habe. Die Polizei wiederum geht wegen einer DNA-Spur davon aus, dass Lina E. am Tatort war. Für Lina E.s Anwalt von Klinggräff ist dagegen nicht klar, dass Lina E. überhaupt an allen Taten beteiligt gewesen ist.
„Es drängt sich hier sehr oft der Eindruck auf, dass in dem Moment, wo es Zeugenaussagen gibt, dass an einem Angriff eine Frau beteiligt gewesen sein soll, sehr schnell die Bundesanwaltschaft dann zur Hand ist und zu behaupten, dass es sich bei dieser Frau um Lina E. handelt. Wir müssen erkennen, dass durchaus Hinweise darauf existieren, dass andere Frauen möglicherweise dabei beteiligt gewesen sind.“

Lina E.‘s Verlobter wird als „Gefährder“ geführt

Dass das Augenmerk der Polizei so sehr auf Lina E. liegt, mag auch mit ihrem Verlobten zu tun haben: Johann G. Das sächsische Landeskriminalamt führt ihn als „Gefährder“ – einer von wenigen Linksextremen deutschlandweit, dem die Polizei schwere Gewalttaten zutraut. Er saß bereits wegen gewalttätiger Übergriffe in Haft, soll auch an den derzeit verhandelten Taten beteiligt gewesen sein. Angeklagt ist er noch nicht. Seit Mitte 2020 ist G. untergetaucht. Der jetzige Prozess am Oberlandesgericht ist nur ein Anfang, so sehen es die sächsischen Ermittlungsbehörden.
„Die Gruppe umfasst meines Erachtens neun Personen. Jetzt aktuell werden vier justiziell zur Rechenschaft gezogen. Und die anderen Personen, denke ich, werden folgen. Aber in anderen Bundesländern.“
Dirk Münster leitet die Abteilung politische Kriminalität beim sächsischen Landeskriminalamt. Dort ermittelt man schon seit Jahren wegen vermuteter linksextremer Zusammenschlüsse in Leipzig. Und ist bislang immer wieder gescheitert.

Sachsen: Gründung einer Sonderkommission für linke Anschläge

Nach einer Häufung von mutmaßlich linken Brandanschlägen und Überfällen in Leipzig berief der sächsische Innenminister Roland Wöller im November 2019 eine Sonderkommission beim Landeskriminalamt ein: 25 Ermittler hat die „Soko Linx“ derzeit. Immer wieder durchsucht die Polizei Wohnungen von Linken. Akribisch dokumentiert sie auch solche Taten, bei denen eine linksextreme Motivation nur vermutet wird. Gegen rund 100 Personen aus der linken Szene laufen Ermittlungen. Nennenswerte Ergebnisse gab es bisher nicht. Eine Verurteilung der Gruppe um Lina E. wäre für die Soko Linx ein Erfolg ihrer Ermittlungsarbeit.
Roland Wöller, Innenminister von Sachsen, und Horst Kretzschmar, Landespolizeipräsident von Sachsen, geben auf dem Gelände der Bereitschaftspolizei eine Pressekonferenz zu den Ereignissen in der Neujahrsnacht im Stadtteil Connewitz.
Immer wieder mit linksextremer Gewalt befasst: Sachsens Innenminister Roland Wöller mit Horst Kretzschmar, Landespolizeipräsident von Sachsen (Sebastian Willnow/dpa-Zentralbild/dpa)
Kritiker der sächsischen Polizei sagen der Sonderkommission deswegen einen besonders hartnäckigen, nahezu obsessiven Ermittlungseifer nach. Dirk Münster vom LKA:
„Ich empfehle einfach, lesen Sie die Liste mit den 60 Straftaten. Und dann versuchen Sie die Frage mal selber zu beantworten, ob das jetzt ein persönlicher Dämon ist, den das LKA Sachsen jagt. Oder ob es einfach so ist, dass wir hier eine ganze Reihe von schwersten Gewaltstraftaten haben mit einer Vielzahl von Opfern, die einfach zu bearbeiten und aufzuklären unser gesetzlicher Auftrag ist.“
„Siamo tutti antifascisti. Hoch die antinationale Solidarität!“ (Sprecherchöre) Für einige in der linken Szene ist der Leiter der Soko Linx eine Hassfigur. Bei einer Solidaritätsdemonstration für Lina E. im September in Leipzig drohten Linksextreme auf einem Banner: „Dirk Münster, bald ist er aus der Traum, dann liegst du im Kofferraum“.

Starke Zunahme von Gewalttaten im linkextremen Milieu

Die Polizei verzeichnet in ihrer Statistik einen starken Anstieg der Gewalttaten im linksextremen Milieu. Demnach gab es im Jahr 2020 in Sachsen 231 Gewalttaten von Linken. Nahezu doppelt so viele, wie in den Vorjahren. Schwerpunkt ist Leipzig.
Neu dabei ist, dass zunehmend auch Gewalt gegen Menschen ausgeübt wird. Bislang für viele in der linken Szene ein Tabu. Von einer „Enthemmung“ spricht auch Oliver Decker. Der Sozialpsychologe leitet das Else-Frenkel-Brunswik-Zentrum für Demokratieforschung an der Universität Leipzig.
„Ja, es gibt eine Tendenz einer Radikalisierung in die Gewalt – nicht bei der gesamten Linken, aber es gibt sie. Und bei der extremen Rechten gibt es eine Radikalisierung in der Gewalt. Und das ist wahrscheinlich auch ein Punkt, wodurch diese falsche Idee aufkommt – wenn es denn stimmt - dass man jetzt legitim sei, auch noch härter gegen Menschen vorzugehen.“
Eine besondere Rolle spielt dabei der Überfall auf den linksalternativen Leipziger Stadtteil Connewitz. Am 11. Januar 2016 griffen mehrere hundert Rechtsextreme dort in einer gezielten Aktion Läden und Kneipen an.

Sachsens Polizei - auf dem rechten Auge blind?

Die Polizei setzte damals einen Großteil der Beteiligten fest, 214 Männer und eine Frau. Doch bis auf einzelne Ausnahmen kamen sie mit Bewährungsstrafen wegen schweren Landfriedensbruchs davon. Für viele in der linken Szene der Beweis, dass Polizei und Justiz mit zweierlei Maß messen. Auch Sozialpsychologe Decker meint:

„Es ist tatsächlich so, dass man innerhalb der Polizei eher die Linke als Generalverdacht oder Generalgegnerin oder Gegner wahrnimmt als die Rechte über lange Jahre in Sachsen. Und das muss nicht verstanden werden immer nur als Paktieren mit der extremen Rechten. Aber es ist tatsächlich so, dass die sächsische Polizei noch nicht so divers ist und auch noch nicht so liberalisiert, dass sie häufig fast reflexhaft eher die Linke als Gegner wahrnimmt als die extreme Rechte.“
Das weist der LKA-Ermittler Münster zurück. Seine Abteilung ist auch für die Ermittlungen gegen Rechtsextreme verantwortlich. In den letzten Jahren sind in Sachsen mehrere rechtsextreme Gruppen verurteilt worden. Im Falle des Überfalls auf Connewitz sieht Münster jedoch nicht den Tatbestand einer kriminellen Vereinigung gegeben, weil der Überfall eine einmalige Tat war.
Polizisten räumen eine Kreuzung im Stadtteil Connewitz. In der Neujahrsnacht ist es dort zu Zusammenstößen gekommen.
Polizisten räumen eine Kreuzung im Stadtteil Connewitz. (picture-alliance / dpa / Sebastian Willnow)
„Unabhängig davon, ob sie wegen einer kriminellen Vereinigung verurteilt werden oder eben nur - in Anführungs-strichen - wegen Landfriedensbruchs. Entscheidend ist, denke ich, dass man für eine Straftat zur Rechenschaft gezogen wird. Und das ist definitiv der Fall. Die werden ganz systematisch zur Verantwortung gezogen. Und aus meiner Sicht ist dieser Vorwurf ein Stück weit konstruiert.“

Rechtsextreme nutzen den Prozess als Bühne

Doch das Misstrauen gegen die sächsische Polizei sitzt tief. Das wird auch im Prozess immer wieder deutlich. Ein Mitarbeiter der Soko Linx wurde bei seiner Aussage selbst von einem Anwalt begleitet. Gegen ihn wurde ermittelt, weil er Prozessakten an rechtsextreme Medien weitergegeben haben soll. Die Staatanwaltschaft Chemnitz hat das Verfahren eingestellt.
Gleichzeitig nutzen Rechtsextreme den Prozess als Bühne. Lina E. und die drei Mitangeklagten verfolgen den Prozess schweigend, lesen in Akten oder mitgebrachten Büchern. Meist mit zuversichtlichem Gesichtsausdruck. Noch ist der Ausgang des Verfahrens offen. Verteidiger von Klinggräff gibt sich optimistisch.
„Wir sind bisher tatsächlich sehr zufrieden mit dem Verlauf des Prozesses und wir gehen davon aus, dass das, was wir von Anfang an gesagt haben, dass es eben waghalsige Hypothesen sind, dass sich das an vielen Einzelpunkten bereits bestätigt hat. Diese Erkenntnisse, die geeignet sind, das in Zweifel zu ziehen, die werden nach unserer Auffassung dazu führen, dass diese Anklageschrift so wie sie einmal zugelassen worden ist, jedenfalls am Ende nicht zu einer Verurteilung gelangen wird.“
Dass die Angeklagten zumindest an einigen der Taten beteiligt waren, scheint jedoch naheliegend. Ob sich das Gericht aber auch von der These der Bildung einer kriminellen Vereinigung an der Schwelle zum Terrorismus überzeugen lässt, ist ungewiss.

Soko-Linx-Leiter sieht Erfolge

Der Leiter der Soko Linx Dirk Münster wertet es schon als Erfolg, dass der Prozess überhaupt stattfindet. Er sieht das Vorgehen seiner Behörde gegen die linke Szene in Leipzig bestätigt:
„Wir kriegen ein besseres Bild der Lage, wir haben sozusagen einen besser messbaren oder beobachtbaren Personenkreis. Das sind natürlich Erfolge im Grunde genommen, das sind Arbeitsfortschritte. Die Szene operiert ein stückweit zurückhaltender bei einigen Straftaten.“
Allerdings gab es auch nach der Festnahme von Lina E. weitere Gewalt. Im Frühjahr 2021 überfielen mutmaßlich Linke in Eilenburg bei Leipzig den Vorsitzenden der NPD-Jugendorganisation (JN), Paul Rzehaczek. Als Polizisten verkleidet stürmten sie seine Wohnung. Mit einem Hammer schlugen sie ihm gegen Kopf und Fußgelenke. Ähnlich verlief ein Überfall auf einen rechtsextremen Hooligan im Mai 2021 in Erfurt. Wegen dieser und weiterer Taten laufen Ermittlungsverfahren. Wenn das Gericht die Bildung einer kriminellen Vereinigung als erwiesen ansieht, könnten außerdem noch weitere Personen aus dem Umfeld von Lina E. als Unterstützer angeklagt werden. Das Oberlandesgericht hat bis Ende Juni vorsorglich 30 weitere Verhandlungstermine angesetzt. Vorerst.