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Londoner Independent-Label Market
Schwere Zungen und schwarze Scheiben

Independent-Labels stellen ihre Tonträger heutzutage in derart kleinen Stückzahlen her, dass ein traditioneller Vertrieb sich gar nicht mehr lohnt. Beim Londoner Independent-Label Market konkurrieren Platten in kleinen Auflagen mit Craft Beer aus dem Plastikbecher. Wer gewinnt?

Von Robert Rotifer | 19.08.2017
    Junge Leute suchen in einem Londoner Indie-Musikladen nach Platten, die im Internet oder auf Streamingplattformen nicht so leicht zu finden sind.
    Junge Leute suchen in einem Londoner Indie-Musikladen nach Platten, die im Internet oder auf Streamingplattformen nicht so leicht zu finden sind. (imago / I Images)
    Die einst so stolzen britischen Independent-Label-Szene: Im Sommer 2017 passt sie in eine schütter gefüllte Londoner Markthalle, und das nebst einem gleichzeitig stattfindenden Bierfestival für Kleinbrauereien. Immerhin sorgt dieses Zusammenfallen der Ereignisse aber für gute Stimmung, unter anderem bei Alice, der französischen Promoterin von Fire Records. Vinyl, sagt sie, sei im Preis-Wert-Verhältnis besser als Bier, aber bei diesem Sonnenwetter wirke das Bier schneller.
    "Vinyl is better value than beer, but with the sun today with one beer you get very good value because it kicks in very quicker."
    Auch junge Leute kommen vorbei
    Neben Alice genießt auch Alphonso, ein in London arbeitender spanischer Platten-Importeur das im Verhältnis von drei Plastikbechern zum Preis einer LP ausgeschenkte Craft Beer. Er ist hier, um ein bisschen Optimismus für die Branche zu tanken. Es seien längst nicht mehr nur ältere Plattensammler, die hier herkommen, sagt er. Jetzt kämen auch jüngere.
    "It's not older people just replacing their record collections, it used to be, but younger people are coming."
    Der Altersschnitt im Publikum macht tatsächlich Hoffnung, die große Mehrzahl der Standbetreiber ist allerdings jenseits der vierzig. Unter ihnen Sean Price, der nach 21 Jahren im Geschäft und Erfolgen mit Bands wie Allo Darlin', Comet Gain oder The Pains of Being Pure at Heart sein Label Fortuna Pop! aufgegeben hat. Er feiert heute seinen letzten Auftritt am Indie Label Market, dementsprechend schwer auch seine Zunge:
    "Heute hab ich ungefähr 600 Pfund in meiner Tasche, das ist nicht schlecht. Davon bezahle ich die Standmiete und das Taxi und bringe immer noch einen ordentlichen Profit nach Hause. Wir hatten hier heute Kunden, die kauften Platten, ohne zu wissen, was drauf ist. Vielleicht fühlen sie sich besser, wenn sie direkt vom Label kaufen. Kann sein, dass die Leute zum Indie Label Market kommen und sich denken: Ich kauf da was und stecke damit wieder was zurück in die Musik."
    Verkauf für einen guten Zweck
    Hymn on the 45 – der Tribut von Fortuna Pops Hausband Allo Darlin' an das archetypische Popformat der Vinyl-Single. Neben etablierten Independent-Labels wie dem von Sean Price gibt es auf dem Indie Label Market aber auch solche, die erst gar keinen regulären Vertrieb haben, weil ihre Stückzahlen dafür schlicht zu klein sind. John Jervis, der das Londoner Label Where It's At Is Where You Are betreibt, hat zum Beispiel eine spezielle Vorliebe für die Zahl sieben. Daher verkauft er diesmal ein Boxset von sieben CDs mit jeweils 77 Minuten langen Stücken, hergestellt in einer Auflage von sieben mal sieben, also insgesamt 49 Stück.
    "Für den Handel wären unsere Platten finanziell völlig uninteressant und ich würde nie meine Kosten reinbringen. Der Erlös dieses Produkts soll aber der Organisation Ärzte ohne Grenzen zugute kommen, deshalb ist es also unglaublich wichtig, es direkt zu verkaufen."
    Einer von Johns Kunden ist Tim, von Nebenberuf selbst Verleger in Kleinstauflage handgedruckter Bücher. Er sammelt Platten, die den Weg von der Massenkultur des Pop zurück zum individuellen Kunsthandwerk gehen.
    "Ich bin viel mehr an handgemachten Dingen interessiert als an Hochglanzprodukten, die in immer kleineren Stückzahlen erscheinen und so aussehen wie alles, was in den letzten 40 Jahren hergestellt wurde. Wenn man von etwas nur 300 Stück produziert, ist es bereits ein persönliches Artefakt. Warum sollte man dann so tun, als wäre das ein Massenprodukt, anstatt etwas sehr Persönliches zu machen, das in großer Auflage nicht möglich wäre?"
    Plattenkauf als soziales Ereignis
    Tim hat auch eine gute Erklärung dafür, warum es der Kundschaft so viel leichter fällt, Geld für Bier als für Tonträger auszugeben.
    "Es ist wirklich schwer, eine Platte wegzuwerfen. Wenn man sie einmal gekauft hat, muss man sie immer mitschleppen, wenn man umzieht. Ein schlechtes Bier geht in den Abfluss, aber ich bin seit mindestens 25 Jahren keine Platte losgeworden."
    Wenn selbst erklärte Liebhaber des Tonträgers schon so reden. Aber immerhin schafft es der Indie Label Market, aus der Vorliebe für obskure Musik ein soziales Ereignis zu machen. Mit Downloads oder Streams ginge das nicht. Und egal ob man mehr für Bier oder Platten ausgegeben hat, am Ende verlässt niemand den Spitalfields Market ohne gut gefüllte Plattentasche.