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Vor 300 Jahren
Die Hinrichtung des französischen Bandenchefs Louis Dominique Cartouche

Ohne Jean-Paul Belmondo, der Cartouche 1962 zum Leinwand-Helden machte, wäre der König der Unterwelt heute vergessen. Zahllose Adelige und Bischöfe hat er zu Beginn des 18. Jahrhunderts bestohlen. Oft soll er Armen geholfen haben. Doch war der Bandit und Mörder deshalb ein Sozialrebell?

Von Christoph Vormweg | 28.11.2021
Jean-Paul Belmondo als Louis Dominique Cartouche
Jean-Paul Belmondo als Louis Dominique Cartouche (imago images/Everett Collection)
„Der hervorspringende Zug in allen Unternehmungen Cartouches war der geistreiche Scherz. Der Dieb begnügte sich nicht damit, seine Opfer zu berauben, sondern zog sie noch soviel als möglich auf“, notiert der Pariser Henker Charles Sanson der Zweite in sein Tagebuch. „Das war auch ein Geheimnis seines großen Rufes; er begriff recht gut, dass ihm viel verziehen werden würde, wenn er die, denen er Furcht machte, auch amüsierte.“
Etwa als Cartouche, verkleidet als „Engländer von hohem Stand“, bei einem Polizei-Leutnant vorstellig wird und ihm am hellen Tag das Tafelsilber stibitzt. Oder als er einen ruinierten Kaufmann vor dem Selbstmord bewahrt, dessen Gläubiger bezahlt und ihnen wenig später das Geld wieder raubt. Doch auch der Henker von Paris kennt diese Geschichten über den Meisterdieb nur vom Hörensagen. Wirklich bezeugen kann er nur dessen Hinrichtung am 28. November 1721 auf der berüchtigten Pariser Place de Grève.

Nutzt seine Intelligenz weniger zum Lernen als zum Stehlen

Louis Dominique Cartouche wird 1693 in Paris geboren. Er soll es einmal besser haben. Sein Vater, ein deutschstämmiger Fassbinder, schickt ihn auf ein Jesuitenkolleg. Doch nutzt der Sohn seine Intelligenz weniger zum Lernen als zum Stehlen und wird von der Schule verwiesen. Das Militär fängt ihn auf. Doch nur für kurze Zeit. Dann macht sich Cartouche mit anderen Soldaten selbständig und wird – trotz seiner geringen Körpergröße – zum Bandenchef. Gegenseitig schwören sie sich Treue bis in den Tod.
Die Zecihnung zeigt Männer, die sich gegenseitig mit Waffen bekämpfen
Bandenchef Louis Dominique Garthausen dit Cartouche (1693-1721) soll etwa 2.000 Unterstützerinnen und Unterstützer gehabt haben (picture alliance / Bianchetti/Leemage | ©Bianchetti/Leemage)
Cartouche hat mehr zu bieten als der bankrotte Staat. Er besticht Polizisten, Zöllner, Postboten und Soldaten, um auf den Handelsstraßen seine Überfälle zu planen – vor allem zwischen Paris und dem Hof in Versailles. Oft kommen Teile der Beute den Armen zugute. Das mehrt seinen Ruhm. Jahrelang läuft alles wie am Schnürchen. Doch warnt der englische Historiker Eric Hobsbawm in seiner Studie „Die Banditen“ vor falscher Heroisierung und Mythenbildung.
„Die meisten Gestalten, deren Legenden im 19. Jahrhundert lebendig waren, als man systematisch Banditenballaden sammelte, stammten aus dem 18. Jahrhundert, das deshalb geradezu als das goldene Zeitalter der Brigantenhelden erscheint: darunter auch Kriminelle, für die man im Pantheon der Sozialbanditen einen Platz gefunden hatte, nämlich Dick Turpin, Cartouche und Schinderhannes. So ersetzten Gestalten der Unterwelt die wahren Robin Hoods, welche zu jener Zeit ausgestorben waren.“

Unterstützung von 2.000 Ganoven

Meist versteckt sich Cartouche in den Pariser Katakomben, diesem endlosen Labyrinth unterirdischer Gänge. An die zweitausend Ganoven, darunter viele Frauen, unterstützen ihn. Denn der Ruf von Adel und Klerus ist zu Beginn des 18. Jahrhunderts denkbar schlecht. Sie gelten im Volk als Verschwender mit Selbstbedienungsmentalität. Schon bald steuert das Zeitalter der Aufklärung in Richtung französische Revolution. Doch will Cartouche die Gesellschaft nicht verändern. Ihm genügt es, die Reichen und Mächtigen zur Kasse zu bitten und, wenn nötig, zu ermorden – bis er denunziert und in einer Schenke auf dem Pariser Montmartre gefasst wird.
„Das Gerücht von der Hinrichtung Cartouches und seiner Genossen hatte sich in der Stadt verbreitet“, schreibt der Henker von Paris im November 1721 in sein Tagebuch. „Die Place de Grève und die anstoßenden Straßen waren daher gedrängt voll Menschen, und die Fenster zu ansehnlichen Preisen vermietet.“
Der Holzstich zeigt den Verbrecher Cartouche in einer Zelle auf einem Heuhaufen sitzend, sein Fuß ist mit einer Eisenkette an der Wand befestigt.
Der Verbrecher Cartouche wartet in einer Gefängniszelle auf seine Hinrichtung (picture-alliance / akg-images | akg-images)
Unter der Folter verrät Cartouche nicht einen seiner Weggefährten. Doch anders als erwartet, kommt niemand, um ihn zu befreien. So gibt er doch noch die Namen derer preis, die er für Verräter hält.
„So vielfach Cartouches Verbrechen auch gewesen, hatte man ihm den letzten Teil seines grausamen Leidens ersparen wollen. Aber der Sekretär des Gerichts hatte in seiner Aufregung vergessen, dem Scharfrichter das zu bezeichnen.“
So muss der 28-jährige Bandenchef und vielfache Mörder Louis Dominique Cartouche das öffentliche Rädern bei vollem Bewusstsein bis zu seinem Tod ertragen. Anschließend geht die Polizei mit einer Verhaftungswelle gegen seine Bande vor. Hunderte werden festgenommen, über 70 zum Tode verurteilt, viele zu Galeerenhaft. Die Reichen und Mächtigen können bis zur Französischen Revolution wieder ruhiger schlafen. Einen Platz im kollektiven Gedächtnis sichert Cartouche der Schauspieler Jean-Paul Belmondo, der ihn 1962 zum Leinwand-Helden macht.