Stephanie Rohde: Morgen vor genau 80 Jahren fiel die Wehrmacht in Polen ein, damit begann der Zweite Weltkrieg, bei dem allein in Polen fast sechs Millionen Menschen ums Leben kamen. Dieser Toten werden die deutsche Kanzlerin und der Bundespräsident mit anderen morgen in Polen gedenken. Unterdessen streitet man in Berlin darüber, ob es dort bald ein eigenes Denkmal für die polnischen Opfer der Nationalsozialisten geben sollte oder nicht. Ja, sagt eine Bürgerinitiative, der sich auch 240 Bundestagsabgeordnete aller Fraktionen angeschlossen haben – mit Ausnahme der AfD.
Eine andere Initiative um den SPD-Politiker Markus Meckel sagt, nein, ein eigenes Denkmal ist nicht sinnvoll. Die Bundesregierung hat gestern angekündigt, dass der Bundestag dann darüber entscheiden soll. Ich will nun sprechen mit Markus Meckel. Er war einst Bürgerrechtler und Gründungsmitglied der sozialdemokratischen Partei in der DDR, wurde nach den ersten freien Wahlen Außenminister der DDR und anschließend saß er bis 2009 für die SPD im Deutschen Bundestag. Guten Morgen!
Markus Meckel: Einen schönen guten Morgen, Frau Rohde!
Rohde: Warum sollten polnische Opfer der Nationalsozialisten kein eigenes Denkmal bekommen?
Meckel: Also zuallererst muss man sagen, dass das Anliegen, das dahintersteht, natürlich völlig berechtigt ist, denn dieser Überfall auf Polen und die damit begonnene Leidenszeit in Polen, das war natürlich furchtbar. Und es ist auch gut, dass der Bundespräsident jetzt nach Wieluń fährt – das ist die Stadt, die in Deutschland gar nicht bekannt ist, wo in einer Kleinstadt plötzlich durch Bomben sehr viele unschuldige Opfer getötet worden sind, wenige Minuten gewissermaßen, als dann auf der Westerplatte der Kampf begann, der in Polen wiederum besonders geachtet wird, weil dort dann natürlich so ein heldenhafter Kampf von Soldaten stattgefunden hatte, von polnischen Soldaten, die lange Widerstand geleistet hatten, und dann eine furchtbar lange und die längste Besatzungszeit überhaupt, weil es eben der Beginn des Krieges war, bis in die letzten Kriegstage hinein. Daran muss erinnert werden und davon ist viel zu wenig bekannt in Deutschland.
Dokumentationszentrum statt Denkmal
Rohde: Aber warum nicht mit einem eigenen Denkmal?
Meckel: Deshalb, sage ich, ist es wichtig, daran zu erinnern, mit all dem Furchtbaren, einschließlich dem, wo der Außenminister ja gesagt hat etwa, über den Warschauer Aufstand oder vorher dem Ghetto-Aufstand ein Jahr vorher – all das ist zu wenig bekannt. Und deshalb ist es richtig, dieser Opfer zu gedenken. Ich bin gegen ein eigenes Denkmal, weil wir sofort uns fragen müssen, warum, wenn wir für polnische Opfer ein Denkmal machen, warum wir dieses nicht auch für Russen, Ukrainer, Belarussen machen. Und wir müssten eigentlich… Wenn wir anfangen, nach Nationen getrennt dies zu tun, kommen wir in eine Falle, glaube ich.
Deshalb sage ich: Lasst uns auch das, was ja in Deutschland auch zu wenig bekannt ist, erst einmal bekannt machen. Und deshalb trete ich mit einer Gruppe von Wissenschaftlern und anderen dafür ein, dass wir ein Dokumentationszentrum schaffen, in dem dieser Vernichtungskrieg im Osten, bei dem von vornherein eben nicht nur Krieg geführt wurde, sondern wirklich auch die Vernichtung von Millionen Menschen eingeplant war, dass dieses stärker ins Bewusstsein kommt, differenziert dargestellt wird. Bei Polen darf man zum Beispiel ja auch nicht…
Rohde: Herr Meckel, lassen Sie uns…
Meckel: … vergessen, dass es wenig vor dem 1. September den Hitler-Stalin-Pakt gab. Da gab es die Besonderheit, dass eben am 1. September wir Deutschen eingerückt sind mit all dem Furchtbaren, das dann begann, aber am 17. September von Osten aus die Rote Armee mit all dem Furchtbaren, was auch dort geschah. Auch da sind wir ja gewissermaßen durch den Pakt mitverantwortlich.
Rohde: Ja, Herr Meckel, ich würde gerne trotzdem noch mal bleiben bei diesem Punkt, den Sie gerade gemacht haben, den ich sehr spannend finde: Die Nationalisierung des Erinnerns, die finden Sie problematisch.
Meckel: Ja, das finde ich sehr problematisch.
Der nächsten Generation historisches Wissen vermitteln
Rohde: Auf der anderen Seite kann man ja argumentieren, dass Menschen auch gerade als Polen umgebracht wurden, als Ukrainer oder als Russen und man sie genau deshalb auch in dem Erinnern als Polen würdigen sollte.
Meckel: Ich glaube, dass man das eben so genau nicht unterscheiden kann. Wenn man jetzt von diesem "als" spricht, dann redet man ja von den Gründen Hitlers, und da waren das dann alles Slawen, das heißt, ein niedriges Volk, das ein Sklavenvolk sein sollte oder Sklavenvölker gegenüber dem deutschen Herrenvolk. Deshalb bin ich jetzt gegen diese Slawen-Gemeinsamkeit, weil sie von den Russen, Polen, Ukrainern heute so nicht geteilt wird, und das müssen wir, glaube ich, akzeptieren. Deshalb sollte es auch nicht darum gehen, sondern es sollte wirklich… diese Kriegsstrategie, die Vernichtung von Millionen mit dem Krieg… Dazu kommt natürlich der Holocaust, die besondere Verfolgung und das Morden der Juden. Das sollte natürlich da mit einbezogen werden. Aber es geht erst mal, zu informieren und dann wirklich da hinein ein Gedenken mit zu integrieren. Wenn ich erst mal daran denke...
Rohde: Aber plädieren Sie dann für ein Denkmal für alle mit der Gefahr, dass man alle in einen Topf wirft?
Meckel: Nein, ich rede ja gerade von einem Dokumentationszentrum, das eben auch die Differenzierungen beschreibt. Aber es gibt eben auch wahnsinnig viele Ähnlichkeiten. Sie kennen in Deutschland alle den Begriff von Lidice, dieses Dorf in der Techechoslowakei, oder Oradour in Frankreich, wo ein ganzes Dorf als Geisel für einen Akt des Widerstandes hingerichtet wurde oder für ein Attentat. So etwas ist im Osten hundertfach passiert. Es gibt einen Ort, Chatyn, wohl zu unterscheiden von Katyn, dem Ort, an den polnischen Offizieren weiter im Osten… Chatyn, da wird an 605 Dörfer allein in Belarus, in Weißrussland, erinnert, die in dieser Weise mit Massakern umgebracht worden sind. Und vergleichbar war es in der Ukraine und auch in Polen. Überall gibt es hunderte von solchen Dörfern. Wir müssen uns viel stärker deutlich machen, wie Vertreibung, wie auch diese Ähnlichkeit dieser Kriegsführung, die gezielt auch den Hungertod vieler Millionen dann weiter östlich mit in Kauf genommen haben, von vornherein dazugehörte.
Deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, dass wir eben nicht nur ein Denkmal bauen und dann schon gar nach Nationen getrennt, sondern wir müssen versuchen, auch das Wissen darüber für eine nächste Generation neu ins Bewusstsein zu heben und überhaupt darüber zu informieren. Dazu kommt natürlich, dass wir…
Gruppenbezogene Erinnerungspolitik
Rohde: Ja, aber die Erinnerungspolitik, Entschuldigung, aber die Erinnerungspolitik geht ja gerade klar in eine andere Richtung, als Sie das dann sich wünschen. Die Erinnerungspolitik versucht eher, die jeweiligen Gruppen sichtbar zu machen, also dass es ein Denkmal gibt für die im Nationalsozialismus ermordeten Homosexuellen, für die Opfer der sogenannten Euthanasiemorde, um genau zu zeigen: Das sind sehr unterschiedliche Erfahrungen.
Meckel: Ja, aber ich glaube, dass die unterschiedlichen Erfahrungen in Bezug auf diese Gruppen eben, das haben Sie beschrieben, diesen Weg sind sie gegangen, das wurde damals übrigens auch heftig diskutiert, und da gibt es manche Vor- und Nachteile davon. Aber zu Beginn es nach Nationen getrennt zu tun, wäre in meinen Augen der völlig falsche Weg, zumal wir dann irgendwann zu der zynischen Frage kommen: Braucht man, um in Deutschland ein Denkmal zu bekommen, Millionen Opfer? Es gibt übrigens eine ganze Reihe Nationen, bei denen die Opfer in die Millionen gehen. Aber bei kleineren Völkern ist es vielleicht weniger. Oder brauchen spezielle Massaker… dürfen die nicht durch ein Denkmal erinnert werden? Wir würden, glaube ich, wenn wir diese Getrenntheit machen, die dann ja faktisch dies nur nach Nationen und nach Orten getrennt macht, ist ein Irrweg, nach meiner festen Überzeugung.
Rohde: Dann versuche ich es mal anders, und zwar mit politischer Symbolik. Also kann man nicht sagen, es wäre ein Symbol des guten Willens der Deutschen jetzt auch, und, darauf hat auch der Vorsitzende des Deutschen Polen-Institut, Peter Oliver Loew, gestern hingewiesen hier im Deutschlandfunk, dass einige Polen eben befürchten, die Deutschen könnten ihre Täterrolle ein bisschen verringern wollen, und genau deshalb müsste man jetzt ganz explizit ein positives Signal senden?
Meckel: Also, ich denke, ein solches Dokumentationszentrum, das genau dieses Täter-Sein mit der Vernichtung verbindet und dem Krieg und all diese Schrecken differenziert darstellt, würde dies noch weit mehr deutlich machen, dass wir uns dieser Geschichte stellen. Wenn es um ein nationales Denkmal für Polen geht, trete ich eher dafür ein, dass wir sagen: Lasst uns doch das vorhandene polnische Denkmal, das es in Berlin gibt, lasst uns dies doch einfach neu gestalten. Dies ist jetzt ein sehr verlogenes Denkmal, es wurde zwischen die beiden kommunistischen Staaten DDR und Volksrepublik damals errichtet, aber erstaunlicherweise mit einem wunderbaren Titel: "Für eure und für unsere Freiheit". Diesen Titel, der aus damals 1832 dem Hambacher Fest stammt, könnte man als Anlass nehmen, es völlig neu zu gestalten und den Anteil Polens an der deutschen Freiheits- und Demokratiegeschichte darzustellen, durch ein Denkmal und eine Freiluftausstellung, wo eben sowohl seit dem 19. Jahrhundert Polen immer wieder auch an unserer Freiheit beteiligt war und, was wir in Deutschland nicht wissen und woran wir übrigens im nächsten Jahr dann auch erinnern sollten, dass mit den Alliierten auch die Polen uns mit befreit haben vom Nationalsozialismus, in allen Armeen, Stalin hat dann verhindert, dass dies zur Geltung gekommen ist 1945, aber wir haben es bis heute weitgehend vergessen, daran zu erinnern und deutlich zu machen, Polen war Teil unserer Freiheitsgeschichte.
Oder mit Solidarność – das sind Dinge, die ich finde, da gibt es eine Singularität, da gibt es eine Sonderstellung Polens, die man in einem solchen Denkmal sehr deutlich zum Ausdruck bringen kann. Also in Bezug auf die Opfer keine Nationalisierung, in Bezug auf diesen anderen Aspekt haben wir ein Denkmal, das neu zu gestalten sehr sinnvoll ist.
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