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Marokko
Die Zwei-Klassen-Bildungsgesellschaft

Marokkos Schulsystem gilt als marode, veraltet und völlig überlastet. Die Lehrer haben in ihren Klassen zum Teil 50 oder mehr Schüler. Eltern, die es sich leisten können, schicken ihre Kinder deshalb auf teure Privatschulen - denn mit einer schlechten Schulbildung droht die Arbeitslosigkeit.

Von Dunja Sadaqi | 12.10.2016
    Marokkanische Schüler besuchen nach Schulschluss in Kiosk neben einer Schule in den Souks von Marrakesh.
    Marokkanische Schüler besuchen nach Schulschluss in Kiosk neben einer Schule. (imago/Kickner)
    Die Mädchen und Jungen erheben sich von ihren Schulbänken, als Direktor Abderrahim Haba die Klasse betritt. Die Schüler der Driss-Bahroui-Grundschule tragen weiße und blaue Kittel – die Schuluniform in Marokko. Die besten Schüler werden einzeln nach vorne gerufen und erzählen von ihren Lieblingsfächern.
    Einen Klassenraum weiter üben Vorschulkinder, Buchstaben und Zahlen zu schreiben. Sie singen Lieder auf Französisch, um die Sprache zu lernen. Die Klassen sind proppenvoll. Denn jedes Kind des Viertels hat ein Recht, in der Schule aufgenommen zu werden. Trotz der hohen Schülerzahlen dürfe die Schule niemanden ablehnen, sagt Direktor Abderrahim Haba. "Wir kämpfen dieses Jahr gleich gegen mehrere Probleme. Die Schülerzahlen pro Klasse haben sich erhöht. 50, 51, 52. Ich finde, das ist zu viel."
    Auf 336 Schüler in seiner Schule kommen genau acht Lehrer. Auch Französisch-Lehrerin Saida Elseris hat heute wieder einen vollen Klassenraum mit 50 Schülern vor sich; sie wirkt müde. Die Belastung sei hoch, gibt sie zu. "Es ist hart, sicher. Wir müssen effektiv sein. Es gibt zu viele Schüler. Wir haben überhaupt keine Zeit, jeden einzelnen Schüler wahrzunehmen, jede Hausaufgabe anzuschauen. Wir versuchen aber alles, damit die Schüler auch alles verstehen."
    Schulen wurde das eigene Budget gestrichen
    Trotz Beschwerden bei der Schulbehörde ändere sich bislang nichts. Wegen Überlastung und schlechter Bezahlung wechseln viele Lehrer lieber auf Privatschulen. Mehr Lehrer einstellen – das kann Direktor Haba nicht. Die Schule hat kein eigenes Budget mehr. Vor Jahren, erzählt Haba, hätten Schulen ein Budget erhalten, damit sie sich selbst verwalten können. Das habe in einigen Schulen nicht besonders gut geklappt, deutet er vorsichtig an: Personal sei nicht fortgebildet, es sei schlecht gewirtschaftet worden. Mit Folgen: Die Gelder wurden ganz gestrichen.
    "Seit 2013 haben wir keine Gelder mehr erhalten. Seitdem versuchen wir, uns so gut es geht selbst zu verwalten. Aber man muss erwähnen, dass die Vereinigung der Eltern und Schüler uns sehr unter die Arme greift. Bei ihnen klopfen wir immer wieder an die Tür, damit sie uns finanziell aushelfen." Für jede Anschaffung – und sei es nur Papier für den Drucker – braucht er das Ok der Schulbehörden. Doch das reiche gerade einmal, um den Standard einigermaßen aufrecht zu erhalten. Habas Grundschule steht damit als Sinnbild für das marode marokkanische Bildungssystem, das Eltern und Schüler regelmäßig auf Marokkos Straßen treibt.
    Der Wunsch des Direktors: Seine Schüler fit machen für die weiterführende Schule. Viele marokkanische Eltern bezweifeln, dass das gelingt: Sie misstrauen dem staatlichen Schulsystem, schicken ihre Kinder lieber auf teure Privatschulen – zumindest die, die es sich leisten können. Dadurch entsteht in Marokko eine Zwei-Klassen-Bildungsgesellschaft. Die bieten einen Schulbus an, Englisch als zweite Fremdsprache, mehr Personal für Schul-AGs, längere Betreuungszeiten.
    Viele Eltern befürchten, dass ihren Kindern mit einer schlechten Schulbildung das bekannte Schicksal droht: dass sie keine Arbeit finden und auf der Straße landen - in der Kriminalität, ohne Perspektive.