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Massaker vor 200 Jahren
So geriet Chios zum Inbegriff osmanischer Barbarei

Beim griechischen Aufstand gegen die Osmanen kam es immer wieder zu Massakern auf beiden Seiten. Doch keine Tat löste solche Empörung aus wie die Ermordung oder Versklavung Abertausender auf der griechischen Insel Chios am 11. April 1822.

Von Matthias Bertsch | 11.04.2022
Eugene Delacroix, "The Massacre at Chios", 1824 Öl auf Leinwand (Ausschnitt)
Detail von Eugene Delacroix' Ölgemälde "The Massacre at Chios" von 1824 (picture alliance / Godong)
Griechenland im Frühjahr 1822: Während auf der Halbinsel Peloponnes Aufständische für die Unabhängigkeit von der osmanischen Herrschaft kämpfen, ist auf Chios von Revolution nicht viel zu spüren. Die wohlhabende Mittelschicht auf der Ägäis-Insel, die nur wenige Kilometer von der türkischen Küste entfernt ist, scheut den Konflikt mit dem Sultan, so der Historiker Nicolas Pissis von der Freien Universität Berlin:
„Es gab eine Region im Süden der Insel, wo der berühmte Mastix produziert wurde, und das die Ursache war für die alten Privilegien der Insel, die zurück in die Zeit der osmanischen Eroberung im 16. Jahrhundert stammen. Also es gab einen Sonderstatus für Chios im Osmanischen Reich, der auch mit der Besteuerung der Insel zu tun hatte.“

Mastix ist ein Harz, das in Lebensmitteln und als Klebstoff, im Handwerk genutzt wurde. Der Handel damit brachte nicht nur der Insel großen Wohlstand, sondern auch dem osmanischen Herrscherhaus.
„Es gab eine direkte Souveränität der Sultansfamilie über die Insel, die eine niedrige Besteuerung insgesamt für die Bevölkerung bedeutete, und die Tatsache, dass die Gemeinde von Chios eine relative Autonomie genoss, im Gegensatz zu anderen Inseln“, sagt Pissis.

Warum die griechische Revolte als besonders undankbar empfunden wurde

Als im März 1822 griechische Aufständische auf Chios landeten und, mit Hilfe lokaler Bauern, die osmanischen Soldaten in die Zitadelle der Hauptstadt zurückdrängten, war die Wut auf türkischer Seite groß, erklärt Nicolas Pissis:
„Die Griechen galten, vor allem in den Jahrzehnten vor 1821, als das vielleicht am meisten privilegierte Volk im Osmanischen Reich, auf jeden Fall unter den Nicht-Muslimen, aufgrund der Dominanz der Griechen im Klerus, in der Kirche, in den hohen Posten, die für Christen vorbehalten waren – die sogenannten Phanarioten –, aber auch und zunehmend im Handel. Daher wurde die Revolte gegen den Sultan als ein Zeichen der Undankbarkeit verstanden, die bestraft werden sollte.“
Dazu kam: Bereits sechs Monate zuvor hatten griechischen Revolutionäre in Tripoli, der Hauptstadt der Peloponnes, ein Massaker an den dortigen Muslimen und Juden verübt, sodass der Sultan auf Rache sann. Die Ausführung überließ er dem Befehlshaber der osmanischen Flotte, Kapudan Pasch, so Nicolas Pissis:
„Der hat im gewohnten Muster ein Truppenkontingent, ein Heer, aus den kleinasiatischen Provinzen ad hoc gesammelt, das auf hohe Gewinne, auf Plünderung einer sehr reichen Insel hoffte.“
Und so landete am 11. April eine Flotte von fast 50 osmanischen Schiffen auf Chios.
„Die Schlachten haben in den ersten Tagen stattgefunden, es ging um den Widerstand, den bestimmte Gemeinden geleistet haben, bzw. die Truppen, die auf Chios gelandet hatten und den Aufstand initiiert hatten. Aber die Massaker, die Jagd auf die Bevölkerung, die sich über die ganze Insel verteilt und versteckt hat, die lief über eineinhalb Monate, also bis Mitte Mai.“

Wie Chios zum Gamechanger im griechischen Befreiungskampf wurde

Über die Zahl der Opfer gibt es keine gesicherten Angaben. Nicolas Pissis schätzt, dass von den rund 100.000 Chioten 90 Prozent getötet, versklavt oder vertrieben wurden. In großen Teilen Europas wurde das Massaker als Inbegriff osmanischer Barbarei wahrgenommen und führte zu einer wachsenden Solidarität mit den Aufständischen. Fünf Jahre später griffen Russland, Frankreich und Großbritannien in den Krieg ein, weitere fünf Jahre später wurde das Königreich Griechenland geschaffen, zu dem ab 1913 auch Chios gehörte.
Und heute? Trotz unterschiedlicher Sichtweisen auf das Massaker von Chios und andere Massaker sieht der Historiker wenig Anzeichen für einen tief sitzenden Hass zwischen Türken und Griechen.
„Wenn man sich anschaut, wie es vor Ort aussieht, also, dass im Hafen von Chios jeden Sommer vielleicht die Mehrzahl der Boote türkisch sind, also türkische Touristen, und griechische Touristen in großer Anzahl über Chios auf Cesme und Izmir fahren, dann kann man auch bezweifeln, inwieweit dieses Ereignis als solches eine trennende Funktion in der Gegenwart hat.“
Doch ihre wirtschaftliche Blüte hat die Insel nie wiedergewonnen. Heute leben nur noch halb so viele Menschen auf Chios wie vor 200 Jahren.