Donnerstag, 28. März 2024

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Modelliererin über vierte Corona-Welle
Niedrige Inzidenzen - der beste Garant für offene Schulen und Kitas

Die Corona-Fallzahlen steigen rasant – die Modelliererin Viola Priesemann mahnt daher ein "europaweites Commitment für eine Niedriginzdienz-Strategie" an. Im Dlf nannte sie sechs Argumente, die Virusausbreitung nicht einfach laufen zu lassen.

Viola Priesemann im Gespräch mit Ralf Krauter | 19.08.2021
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Modelliererin Priesemann zählt Gründe auf, warum eine niedrige Corona-Inzidenz aus ihrer Sicht das oberste Ziel sein sollte (IMAGO | Jürgen Heinrich)
Exponenzielles Wachstum ist schnell. Aktuell entwickelten sich die Corona-Fallzahlen "in viele Bereichen sogar etwas schneller als exponenziell", sagte die Modelliererin Viola Priesemann im Dlf.
Ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 20 bis 40 Fällen pro 100.000 Einwohnern kämen die Gesundheitsbehörden mit der Nachverfolgung von Infektionsketten nicht mehr hinterher. Das mache ein lokales und gezieltes Eingreifen schwer bis unmöglich. "Wenn die Inzidenz ganz niedrig ist, können sich die Gesundheitsämter auf die verbleibenden Infektionenketten konzentrieren und sie sehr schnell eindämmen. Wenn die Gesundheitsämter zu spät sind, dann haben die infizierten Personen längst andere angesteckt und diese Ketten werden nicht mehr gestoppt", erklärte die Physikerin Priesemann, die am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation Ausbreitungsmodelle entwickelt und durchrechnet.
Geöffnetes Cafe mit Gästen am Neuen See in Berlin 
Welche Pandemie-Parameter werden künftig wichtig?
Die Sieben-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen gilt als ein wichtiges Kriterium für die Bewertung des Pandemiegeschehens. Künftig sollen weitere Parameter mehr Gewicht bekommen. Das könnte sich auf politische Entscheidungen über Corona-Maßnahmen auswirken.
Es gebe aktuell zwei unterschiedliche Strategien, mit dem Coronavirus umzugehen, sagte Priesemann: Entweder man akzeptiere hohe Inzidenzen, solange die Krankenhäuser nicht überfüllt sind, oder man begreife niedrige Inzidenzen als oberstes Ziel. In einer Stellungnahme mit anderen Forschern in The Lancet spricht sich Priesemann energisch für ein "europaweites Commitment für eine Niedriginzidenz-Strategie" aus. "Niedrige Inzidenzen haben eine ganze Reihe Vorteile", sagte Priesemann im Dlf. Sie seien demnach
  • verbunden mit weniger Mortalität, Morbidität und Long Covid
  • praktizierte Solidarität mit all jenen, die noch ungeschützt sind, auch weltweit
  • wichtig, um Entwicklung und Ausbreitung von Varianten zu bremsen
  • eine Voraussetung, um Infektionsketten durch Tests nachzuverfolgen und einzudämmen
  • gut, weil weniger Personal etwa von Krankenhäusern, Supermärkten oder im ÖPNV in Quarantäne müsse
  • die beste Garantie, dass Schulen und Kitas im Winter geöffnet bleiben könnten.
Wegen der Freizügigkeit, Reisebewegungen und des Grenzverkehrs in Europa sei Einheitlichkeit wichtig. Sonst komme es zu verschiedenen Inzidenzen in einzelnen Ländern und in der Folge etwa zu Grenzschließungen. "Das stört natürlich deutlich den sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt."
Um entspannt in den Herbst zu gehen, brauche es - gute Impfwirkung und das Ausbleiben weiterer Varianten vorausgesetzt - eine Impfquote von 80 bis 90 Prozent bei den Über-40-Jährigen in Deutschland. Bei ihnen ist die Hospitalisierungsrate höher als bei jüngeren Erkrankten.
Mitte August (Stand: 19.08.2021) waren 57,8 Prozent der Bevölkerung zweimal gegen das Coronavirus geimpft.
Niedersachsen, Hannover: Ein Kinderarzt impft ein Kind mit einem 6-fach-Kombinationsimpfstoff gegen Diphtherie, Tetanus (Wundstarrkrampf), Kinderlähmung (Polio), Keuchhusten (Pertussis), Haemophilus influenzae Typ b (Hib) und Hepatitis B.
Sollten Eltern ihre Kinder nun impfen lassen?
Die Gesundheitsminister wollen auch 12- bis 17-Jährigen ein Impfangebot unterbreiten. Die Ständige Impfkommission empfiehlt inzwischen ebenfalls eine Corona-Impfung für diese Gruppe. Was spricht dafür, was dagegen, und was ist mit Kindern unter 12?
Das Interview im Wortlaut:
Viola Priesemann: Eine Sache, die wir jetzt auch schon in den Daten sehen, ist ja nicht nur das exponentielle Wachstum, das ist ja in vielen Bereichen sogar gerade etwas schneller als exponentiell. Das heißt, der prozentuale Zuwachs diese Woche wird für alle wieder höher. Woran liegt das? Das liegt daran, dass ab einer Inzidenz von 20 oder vielleicht 40 die lokalen Gesundheitsämter einfach nicht mehr so schnell sind mit der Eindämmung. Wenn die Inzidenz ganz niedrig ist, können sich die Gesundheitsämter auf die verbleibenden Infektionsketten konzentrieren und die sehr schnell eindämmen. Wenn die Gesundheitsämter zu spät sind, dann haben die infizierten Personen längst andere angesteckt und diese Ketten werden nicht mehr gestoppt. Das heißt, man muss dann im Prinzip irgendwann dieses Wachstum auf andere Weise stoppen, und diese sehr effektive Maßnahme fällt dann einfach erst mal weg oder wird zumindest weniger effektiv.

Pingdemic - viele in Quarantäne belasten den Rest

Krauter: Nun zeigt doch aber das Beispiel Großbritannien, wo man ja noch, während sich die ansteckende Delta-Variante auf dem Vormarsch befand, die Pubs wieder geöffnet hat zum Beispiel und Schutzmaßnahmen weitgehend gelockert hat, dass man dort auf der Insel offenbar ganz gut mit höheren Sieben-Tage-Inzidenzen leben kann. Aktuell liegt sie dort bei 302 bei 100.000 Einwohnern, habe ich gesehen. Die Betten in den Kliniken sind trotzdem immer noch nicht knapp, weil dank hoher Impfquote unter den Älteren fünf- bis zehnmal weniger Infizierte in den Krankenhäusern landen als bei vorherigen Wellen. Zeigt das Beispiel nicht, dass es prinzipiell nicht falsch ist, die Dinge jetzt einfach laufen zu lassen?
Priesemann: Es gibt dann zwei unterschiedliche Strategien: Die eine ist die Niedriginzidenz mit all ihren Vorteilen, die ja weit bekannt sind, die andere ist, zu sagen, wir akzeptieren hohe Inzidenzen, solange die Krankenhäuser nicht überfüllt sind, wie zum Beispiel in England. Aber man muss die Konsequenzen auch bedenken. Wenn man Hunderte Neuinfektionen je 100.000 die Woche hat, dann gibt es eigentlich auch sehr viel Kontaktpersonen, und England hatte das dann auch als Problem. Sie hatten eine sogenannte Pingdemic, es waren so viele Menschen dann Kontaktpersonen und die mussten in Quarantäne, dass dann die Supermarktregale nicht mehr so voll waren, wie sie hätten sein sollen, dass andere Personen die Busse nicht mehr fahren konnten, weil sie in Quarantäne waren. Und die nächste Frage, die sich auch stellt, ist: Die Menschen, die in den Gesundheitsberufen arbeiten, wenn die eine enge Kontaktperson oder engen Kontakt zu einer infizierten Person hatten, sollen die weiterarbeiten oder sollen die in Quarantäne? Wenn dann ein, zwei oder drei Prozent der Bevölkerung im Mittel in Quarantäne sind – und das kommt ja in Wellen –, dann fehlen diese Personen am Arbeitsplatz, und das belastet all diejenigen, die in den Gesundheitsberufen ja eh schon belastet sind, noch zusätzlich. Man muss sich also über die Konsequenzen von diesen hohen Inzidenzen auch für das tagtägliche Leben bewusst werden und sich entscheiden, wie man damit umgeht, ob man zum Beispiel diese ganzen Quarantänemaßnahmen dann komplett sein lässt.

Niedriginzidenzstrategie für sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt

Krauter: Jetzt hat Jens Spahn ja gesagt, 200 ist das neue 50, also eine Sieben-Tage-Inzidenz von 200 wäre vertretbar, bevor Schutzmaßnahmen regional wieder verschärft werden müssen. Sie dagegen plädieren in einem kürzlich erschienen Artikel im Fachmagazin "The Lancet" gemeinsam mit Fachkollegen aus Europa dafür, die Inzidenzen weiter möglichst niedrig zu halten. Sie plädieren für einen, Zitat, "europaweites Commitment zu einer Niedriginzidenzstrategie". Was genau spräche dafür aus Ihrer Sicht?
Priesemann: Die niedrigen Inzidenzen habe eine ganze Reihe Vorteile, die ja inzwischen gut bekannt sind. Das ist natürlich viel geringe Mortalität, Morbidität und auch Long Covid, was ja auf jeden Fall sehr beobachten müssen. Zweitens ist es eine Frage von Solidarität mit all den Menschen, die noch nicht geschützt sind in Deutschland, in Europa und in der Welt. Drittens niedriges Risiko, dass neue Varianten sich entwickeln oder ausbreiten. Je niedriger die Inzidenz, desto besser kann man auch eben neue Varianten ausbremsen. Viertens eine effektive Eindämmung durch Testen und Kontaktnachverfolgung. Fünftens, weniger Personal ist in Quarantäne. Sechstens, eine niedrige Inzidenz ist die beste Garantie am Ende, dass Schulen und Kindertagesstätten während des nächsten Herbstes und Winters auch wirklich geöffnet bleiben können. Das alles spricht für die niedrige Inzidenz. Warum ein europäisches Commitment? Wir haben ja jetzt in manchen Ländern extrem hohe Inzidenzen und in anderen sehr, sehr niedrige, und wir haben natürlich Reisen und auch Menschen, die auf beiden Seiten der Grenzen, sag ich mal, arbeiten, und die tragen das Virus zwischen den Grenzen hin und her. Wenn also in Europa die Länder sich nicht koordinieren, sich für die eine, also die Niedriginzidenzstrategie, oder die andere, sie lassen es weitgehend laufen, Strategie entscheiden, dann kommt es zu diesen Reibungen. Die Inzidenz ist dann sehr verschieden in verschiedenen Ländern, und dann müssen entweder Grenzen geschlossen werden, für das Virus im Idealfall. Das bedeutet mehr testen oder mögliche Quarantäne bei Reisen, und das stört natürlich deutlich den sozialen, aber auch den wirtschaftlichen Zusammenhalt.

Europaweiter Wissenschaftsaustausch "sehr wichtig"

Krauter: Die Argumente, die Sie aufgezählt haben, klingen überzeugend, sie sind aber auch nicht ganz neu. Trotzdem wäre mein Gefühl, ist der Zug in Richtung Niedriginzidenz nicht schon abgefahren, weil ja eben gerade, wie wir auch erörtert haben, viele Länder eher darauf setzen, die Dinge jetzt mal so ein bisschen laufen zu lassen?
Priesemann: Das ist immer eine Frage, ob etwas möglich ist oder ob es zumindest wissenschaftlich die beste Lösung ist. Wir als Wissenschaftler haben nämlich ganz klar die Aufgabe zu kommunizieren, was an sich die beste Lösung wäre. Wir haben das formuliert zu einer Zeit, wo in ganz Europa die Fallzahlen gerade runtergegangen sind. Bis dann so ein Paper publiziert ist, dauert es natürlich eine ganze Weile. Für mich ist bei diesem europäischen Austausch zusätzlich noch wichtig, dass wir uns unter den europäischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vernetzen. Deutschland hatte den großen Vorteil, dass wir hier sehr viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben. Wir können hier im Prinzip auf Deutsch über die Virologie, Epidemiologie, über die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen reden. Andere Länder sind viel kleiner und haben diese wissenschaftliche Expertise nicht in dieser Dichte. Über diese europäischen Statements, bei denen ja viele Dutzend Wissenschaftlerinnen sich austauschen, nehmen wir auch die kleineren europäischen Länder mit. Wir versetzen uns in deren Perspektive hinein, und das ist etwas, was mir bei diesem Austausch eben auch sehr wichtig ist, dass die Information, die wir hier in Deutschland haben, nicht nur hier bleibt, sondern dass wir uns da europaweit auch austauschen unter den Wissenschaftlern.

Klareres Bild über Impfungen in "zwei, drei Monaten"

Krauter: Schauen wir noch mal konkret auf den Herbst, also die nächsten vier bis acht Wochen voraus. Die Impfquote in Deutschland beträgt ja zurzeit rund 57,8 Prozent, das ist der Anteil der zweifach Geimpften. Wie hoch müssten wir denn da kommen, dass wir relativ entspannt in den Herbst gehen könnten?
Priesemann: Wenn es bei den jetzigen Varianten bleibt, also sagen wir bei der Delta-Variante und bei dem sehr guten Schutz gegen schweren Verlauf, dann kommt es natürlich vor allen Dingen auf die Impfquote bei den über 40-, über 50-Jährigen an. Und wenn man dort im Bereich von 80, 90 Prozent ist und der Schutz weiterhin bei 95 Prozent gegen den schweren Verlauf ist, dann könnte man relativ gut durch den Winter kommen, aber das kann niemand garantieren und das kann auch niemand vorhersehen. In den nächsten zwei, drei Monaten wird sich wahrscheinlich rausstellen, ob die Impfungen, die wir haben, weiterhin auch gegen neue Varianten, die sich möglicherweise entwickeln, genauso gut schützen oder nicht. Wenn der Schutz gegen schweren Verlauf eher Richtung 80 Prozent sinkt, dann wird es wieder eng, und zwar selbst wenn wir 100 Prozent Impfquote hätten, würde es dann eng werden.

Unsicherheit über neu aufkommende Varianten

Krauter: Welche Rolle spielt das Verhalten der Menschen, ist das ein weiterer wichtiger Unsicherheitsfaktor, vielleicht ergänzend zum Wetter, das sich im Herbst ja auch noch wieder ändern wird und Einfluss haben könnte?
Priesemann: Absolut, das ist einer der zentralen Faktoren. Man kann theoretisch Maßnahmen beschließen, die müssen immer umgesetzt werden. Derzeit hat man den Eindruck und hofft ja, dass diese Pandemie vorbei ist. Die Sorge ist, dass sich noch mal eine neue Variante entwickelt. Ob dass der Fall ist oder nicht, wie gesagt, das ist eines der Dinge, wo wir klar sagen müssen, das können wir leider derzeit gar nicht sagen. Nichtsdestotrotz, wenn jetzt die Fallzahlen hochgehen, verspielen wir den Vorteil dieser niedrigen Fallzahlen, und wenn sich dann eine solche Variante entwickelt, dann wird es viel schwieriger sein, die einzudämmen. Man kann ja da nicht gezielt diese eine Variante eindämmen, weil die Schnelltests ja gar nicht unterscheiden zwischen der jetzigen und einer möglichen neuen Variante. Das ist ein zusätzliches Argument, warum man eigentlich besser aufgestellt wäre, wenn die Inzidenzen niedrig sind. Und sind die Inzidenzen hoch, kriegen wir dann eine neue Variante, dann riskieren wir möglicherweise wieder Schul- oder Kindergartenschließungen, und das wollen wir ja alle absolut vermeiden für den Winter. Niedrige Inzidenzen, ich sag’s einfach noch mal, sind der allerbeste Garant, dass wir im Winter gut durchkommen ohne jede Schul- oder Kindergartenschließung.
Krauter: Weil es kann ja sozusagen etwas Wasser unter dem Kiel verschaffen, falls etwas Unvorhergesehenes noch passieren sollte?
Priesemann: Das ist der eine Aspekt, das andere ist das, was wir uns ja alle wünschen: lokal und gezielt eingreifen, wenn es lokale Ausbrüche gibt. Und das kann man natürlich nur, wenn die Gesundheitsämter nicht überlastet sind.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.