Freitag, 19. April 2024

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Unklare Zahlen zur Impfquote
Montgomery: "Hier funktioniert mal wieder der Föderalismus nicht"

Der Präsident des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, macht für die Verwirrung über die tatsächliche Corona-Impfquote in Deutschland eine mangelnde Abstimmung zwischen Bund und Ländern verantwortlich. Die Differenzen müssten so schnell wie möglich aufgeklärt werden, sagte er im Dlf.

Frank Ulrich Montgomery im Gespräch mit Christoph Heinemann | 13.08.2021
Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, sitzt vor der Wahl des neuen Präsidenten/der neuen Präsidentin beim 122. Deutschen Ärztetages auf dem Podium. Ärztepräsident Montgomery scheidet nach acht Jahren im Amt aus.
Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery kritisiert im Dlf die schlechte Abstimmung zwischen Bund und Ländern. (picture alliance/dpa / Guido Kirchner)
"Die Impfquote ist der zentrale Schlüssel zum Erfolg gegen das Virus und deshalb ist es ein gewaltiger Unterschied, ob - bezogen auf die ganze Bevölkerung - nun 63 schon mal geimpft worden sind oder 85 Prozent", sagte Frank Ulrich Montgomery im Deutschlandfunk. "Damit steht und fällt auch die Impfkampagne. Mit 85 Prozent wären wir in der Nähe der angestrebten Herdenimmunität", sagte der Weltärztepräsident weiter.
Ein Mitarbeiter geht bei der 1. Langen Nacht des Impfens im Impfzentrum Arena in Treptow aus einer Tür. Bei der ersten "Langen Nacht des Impfens" hat es am Montagabend großen Andrang gegeben.
Wie viele Menschen sind schon geimpft?
Die Impfquote wird zu einer immer wichtigeren Größe. Nun gibt es unterschiedliche Angaben zur Zahl der Geimpften, zum einen aus Meldungen von Ärzten und Impfzentren, zum anderen aus einer Umfrage des RKI.
Zuletzt hatten Ergebnisse einer vergleichbaren Umfrage mit rund 1.000 Teilnehmern darauf hingewiesen, dass mehr Menschen eine Erstimpfung erhalten haben könnten als im offiziellen digitalen Meldesystem verzeichnet sind. Das Robert Koch-Institut hatte daraufhin weitere Untersuchungen der Daten zur Impfquote angekündigt.

"Hier funktioniert mal wieder der Föderalismus nicht"

Montgomery übte auch Kritik am deutschen Föderalismus. "Hier funktioniert mal wieder der Föderalismus nicht. Hier sind es wieder die falschen Absprachen zwischen Bund und Ländern, die nicht funktionieren. Das finde ich sehr bedauerlich nach anderthalb Jahren Pandemie", so Montgomery zu den unklaren Zahlen zur Impfquote.
Geöffnetes Cafe mit Gästen am Neuen See in Berlin 
Welche Parameter zur Bewertung des Pandemiegeschehens werden künftig wichtig?
Die Sieben-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen gilt als ein wichtiges Kriterium für die Bewertung des Pandemiegeschehens. Künftig sollen weitere Parameter mehr Gewicht bekommen.
Der Mediziner warb auch dafür, dass die Menschen sich Impfen lassen sollten. Damit verhinderten sie sehr wahrscheinlich Todesfälle, schwere Verläufe und auch weitere Infektionen. "Früher oder später müssen wir zu einer 2G-Regelung kommen", forderte Montgomery im Deutschlandfunk. 2G bedeutet, dass nur Geimpfte und Genesene zu öffentlichen Veranstaltungen zugelassen sind. "Es geht nicht um die Gesundheit des Einzelnen, sondern um die Verhinderung der Infektion insgesamt. In jeder Infektion kann eine neue Mutation entstehen."
So hätten auch die USA jüngst erst vor neuen Virusvarianten gewarnt. Man hätte ein Riesenproblem, sollte es eine Variante so ansteckend wie Delta und so tödlich wie das Ebola-Virus geben. Dass sich auch Geimpfte in einzelnen Fällen erneut infizierten, sei kein maßgeblicher Faktor. "Unter 42 Millionen Geimpften hat es 7200 Impfdurchbrüche gegeben."

Das Interview im Wortlaut:

Christoph Heinemann: Herr Montgomery, wie wichtig sind genaue Zahlen?
Frank Ulrich Montgomery: Sie sind immens wichtig, weil in dem Maße, in dem die Bevölkerung geimpft ist und wir das auch wissen, können wir beruhigter in den Herbst und den Winter schauen. Die Impfquote ist der zentrale Schlüssel zum Erfolg gegen das Virus und deswegen ist es schon ein gewaltiger Unterschied, ob bezogen auf die ganze Bevölkerung nun 63 Prozent schon mal geimpft worden sind oder 85 Prozent. Damit steht und fällt ja auch die Impfkampagne, denn mit 85 Prozent wären wir in der Nähe der angestrebten Herdenimmunität.
Ich würde Ihrem Dreiklang, den Sie eben benannt haben, noch einen vierten Klang zutun wollen. Ich glaube, hier funktioniert mal wieder der Föderalismus nicht. Hier sind wieder die falschen Absprachen zwischen den einzelnen Ländern und dem Bund, die nicht funktionieren, und das finde ich sehr, sehr bedauerlich nach anderthalb Jahren Pandemie.

"Diesen Widerspruch muss man aufklären"

Heinemann: Wir wollen genau sein. Es war nicht mein Dreiklang, sondern der der Frankfurter Neuen Presse. Wie erklären Sie sich den Unterschied von 20 Prozentpunkten?
Montgomery: Ich kann ihn mir nicht erklären. Ich kann auch nicht sehen, ehrlich gesagt, wie das zustande kommen soll, denn man muss doch eine Übersicht über die abgegebenen Impfdosen haben. Damit meine ich nicht die verspritzten Impfdosen, sondern die gelieferten Impfdosen.
Wir erinnern uns: Wir hatten bis vor anderthalb Monaten einen Mangel an Impfstoff und es wurde nichts weggeschmissen, es wurde alles verspritzt. Diese Zahlen sind auf den ersten Blick nicht erklärlich und sie stiften in der Tat gewaltige Verwirrung.
Persönlich glaube ich ja nachgewiesenen und übermittelten Zahlen mehr als Umfragen, statistischen Umfragen, aber diesen Widerspruch muss man aufklären, und zwar so schnell wie möglich, weil man sonst nur noch mehr Verwirrung in dieser wirklich schwierigen Situation schafft.

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Heinemann: Wie kann man diesen Widerspruch aufklären?
Montgomery: Da habe ich kein Erfolgsrezept auf der Hand. Eigentlich müsste man jetzt mit gewaltigen Mengen von Statistikern und Datenerhebern und Epidemiologen mal eine genaue Erfassung machen, wer denn nun wirklich was wann wie gespritzt bekommen hat. Ich hoffe, dass wenigstens die Zahlen in den älteren, in den Risikogruppen stimmen. Da haben wir ja doch sehr befriedigende Zahlen. Über drei Viertel sind zweimal geimpft, über 90 Prozent sind mindestens einmal geimpft. Das ist ja die Hauptzielgruppe, um die es beim Impfen geht. Ich hoffe, dass wenigstens diese Zahlen stimmen.
Heinemann: Herr Montgomery, was bedeutete denn eine wesentlich höhere Impfquote für die zu erwartende Lage auf den Intensivstationen?
Montgomery: Das wäre für uns natürlich eine wunderbare Botschaft, weil wir wissen, dass die Impfung 99 Prozent der Todesfälle verhindern kann. Es gibt interessante Untersuchungen aus Amerika, die sagen, dass unter den toten an Corona nur ein Prozent geimpfte und 99 Prozent ungeimpfte sind. Das heißt, je mehr Leute wir geimpft hätten, je höher diese wirklichen Zahlen sind, desto, ich will jetzt sagen, entspannter können wir in Herbst und Winter schauen. Damit dürfen wir die Vorsicht nicht vernachlässigen, aber wir haben zumindest eine gute Basis geschaffen, damit wir Herbst und Winter einigermaßen gut überstehen.
Injektionsnadeln und Ampullen mit Impfstoff liegen auf einem Tisch.
Wie man die Impfquote erhöhen kann
Eine Impfpflicht soll es in Deutschland nicht geben, diskutiert wird aber, ob geimpfte Menschen schneller und mehr Freiheiten bekommen sollten als andere. Mit welchen weiteren Mitteln ließe sich die Impfquote erhöhen?
Heinemann: Würde das denn aus Ihrer Sicht auch etwas ändern an der 3G-Regelung? Das heißt, Geimpfte, Genesene, Getestete als Voraussetzung für Freizeitgestaltung zum Beispiel im Kino oder beim Gaststättenbesuch.
Montgomery: Nein! Da bin ich nach wie vor der Überzeugung, dass wir früher oder später zu einer 2G-Regelung kommen müssen. Sehen Sie, das Zentrum unseres Bemühens muss es sein, …
Heinemann: 2G - ganz kurz zur Erklärung - hieße, dass Getestete …
Montgomery: Nur Geimpfte und Genesene die Privilegien genießen und ihre Freiheitsrechte voll ausüben könnten, weil das Entscheidende ist - das vergessen viele Menschen -, es geht nicht nur um die Gesundheit des einzelnen, sondern um die Verhinderung der Infektion insgesamt. In jeder Infektion kann eine neue Mutation entstehen und der oberste Seuchenbekämpfer Amerikas, Professor Vauczy Fauci, hat ja gerade davor gewarnt, dass wir mit neuen Varianten noch konfrontiert werden.
Man mag gar nicht daran denken: Was wäre, wenn wir eine Variante bekämen, die so ansteckend wie Delta, aber so tödlich wie Ebola wäre. Dann hätten wir ein riesen Problem. Das heißt: Wir müssen das Stattfinden jeder Infektion verhindern. Das geht nur durch 2G-Regeln und durch Abstandsregeln, Maske tragen, Hände waschen.

"Unter 42 Millionen Geimpften hat es 7.200 Impfdurchbrüche gegeben"

Heinemann: Herr Montgomery, für Leute, die sich nicht impfen lassen möchten, aus welchen Gründen auch immer, wirkt das wie Bestrafung oder wie Gängelung.
Montgomery: Nein! Das ist weder eine Bestrafung, denn sie haben ja jederzeit die Möglichkeit, entweder durch Tests, die sie bitte selber bezahlen müssen, und zwar dann nicht für alle Räume, aber doch für viele Räume, und durch sich impfen lassen haben sie die Möglichkeit, ihre Situation zu ändern.
Aber wissen Sie, man muss den Menschen auch sagen, meine individuelle Freiheit hört da auf, wo ich die Freiheit anderer Menschen gefährde, und in der Situation sind wir jetzt. Wir müssen in der Abwägung der Freiheitsrechte auch die Rechte der anderen betrachten und das sind in diesem Fall die Menschen, die entweder die Krankheit durchgemacht haben, oder aber, die auch den sozialen Akt des sich impfen Lassens auf sich genommen haben. An die müssen wir auch denken.
Eine Krankenschwester impft in einem temporären Impfzentrum mit dem Wirkstoff von Johnson & Johnson.
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Trotz vollständiger Impfung können sich Menschen mit dem Coronavirus infizieren und sogar erkranken. Man spricht dann von einem Impfdurchbruch. Wie gut schützt eine Impfung noch vor einer Ansteckung?
Heinemann: Solange es noch mit dem Testen weitergeht, stellt sich noch eine andere Frage. Auch Geimpfte können ja das Virus übertragen und dafür sorgen, dass Nichtgeimpfte intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Wenn die Corona-Strategie das verhindern möchte, warum müssen sich dann nicht auch Geimpfte testen lassen?
Montgomery: Es gibt Situationen, in denen sich auch Geimpfte testen lassen müssen, zum Beispiel wenn sie aus Risikogebieten oder aus dem Ausland wieder nach Deutschland zurückkommen. Aber wir müssen auch mal hier die Zahlen betrachten. Unter 42 Millionen Geimpften hat es 7200 Impfdurchbrüche gegeben. Wissen Sie, es gibt keine 100 Prozent in der Medizin. Das muss man den Menschen auch mal klarmachen. Wir müssen mit einem kleinen Restrisiko manchmal leben. Das ist aber in diesem Fall der Impfdurchbrüche so gering, dass wir sagen können und dass wir davon ausgehen können, dass Geimpfte selber immun und so gut wie kein Risiko für andere sind.
Aber wenn sie sich in besondere Gefahren begeben, wenn sie in Risikogebieten sich aufhalten, dann muss man sie trotzdem testen, bevor sie wieder nach Deutschland zurückkommen, damit wir sicher sind, dass wir keinen Eintrag neuer Viren hier in unser weitgehend geschütztes Gebiet haben.
Heinemann: Herr Montgomery, welche Rolle sollte der Inzidenzwert noch spielen?
Montgomery: Der Inzidenz-Wert spielt nach wie vor eine wichtige Rolle, aber eine andere, weil eine Inzidenz von 30, wie wir sie momentan haben, kann natürlich viel entspannter betrachtet werden, wenn man, ich hoffe jetzt wirklich, 56 Prozent der Bevölkerung komplett geimpft hat, als wenn die alle ungeimpft sind wie im letzten Jahr. Er spielt noch eine Rolle, aber die Parameter haben sich verschoben.
Heute bedeutet eine Inzidenz von 100 nicht ein so Tod bringendes Geschehen, wie wir das noch im letzten Jahr hatten. Man muss ihn betrachten, aber man muss die Belegung der Krankenhäuser, die Belegung der Intensivstationen, die Krankschreibungen durch Covid und solche Dinge mit berücksichtigen. Es gibt keine Wunderformel, sondern das ist wirklich eine Einzelfallbetrachtung, Region für Region, aus der man dann auch die entsprechenden Gegenmaßnahmen ableiten muss.
Heinemann: Nun wollen Baden-Württemberg und Niedersachsen die an die Inzidenz gebundenen Grenzwerte abschaffen. Sie haben zu Beginn des Gesprächs über den Föderalismus gesprochen. Sollten darüber die Länder entscheiden?
Montgomery: Na ja, da kennen Sie, glaube ich, meine Auffassung schon seit langem. Hier muss es eine bundeseinheitliche Vorgabe geben und an die haben sich die Länder gefälligst zu halten. Ich finde es geradezu lächerlich, was sich manche Ministerpräsidenten hier erlauben an Föderalismus oder an Landesspezifika. Natürlich ist es so, dass sie den Inzidenzwert messen müssen, aber natürlich ist es auch so, dass sie sich an bundeseinheitliche Vorgaben hier zu halten haben.
Wir haben doch genügend Probleme mit dem Föderalismus erlebt in der letzten dritten Welle, die wir im Winter vergangenen Jahres hatten. Von daher: Hier ist kein Platz für irgendwelche föderalen Einzelgänge. Hier muss eine generelle Regelung für die Bundesrepublik, dann natürlich lokal umgesetzt, aber muss beschlossen werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.