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Nach der Abstimmung im Unterhaus
"Johnson muss konkrete Vorschläge machen"

Die EU habe ein ureigenes Interesse, einen ungeordneten Brexit zu verhindern, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, David McAllister, (CDU) im Dlf. Für eine weitere Fristverlängerung für den Brexit müsse es aber eine glaubhafte Begründung geben. Neuwahlen zum Beispiel.

David McAllister im Gespräch mit Dirk Müller |
Großbritanniens Premierminister Boris Johnson (M.) spricht im Parlament
Großbritanniens Premierminister Boris Johnson (M.) spricht im Parlament (imago/Xinhua/Roger Harris)
Dirk Müller: Es ist seit Monaten ein erbitterter Machtkampf auf der Insel selbst über das Für und Wieder des Brexits, über die Bedingungen, über die Inhalte des Austritts, darüber, wann Großbritannien endgültig geht, mit oder ohne Abkommen, längst ein Machtkampf auch bei den regierenden Tories, der Theresa May bereits zum Opfer gefallen ist, und der Nachfolger tut alles dafür, dass die Konservativen sich zerreißen, sich politisch regelrecht bekriegen. Und Boris Johnson tut viel dafür, dass die Demokratiefrage plötzlich wie aus dem Nichts auftaucht, weil der Premier das Parlament in Zwangspause schickt. Dennoch: Die Abgeordneten sind noch aktiv und haben sich auch gestern Abend, heute Nacht wieder gegen Boris Johnson gestellt. Nein zu einem No-Brexit-Deal und Nein zu Neuwahlen, vorerst jedenfalls.
Die Demokratiefrage, die aus dem Nichts aufgetaucht ist, das war für viele Beobachter in der vergangenen Woche so, auch für viele Interessierte, die nicht alle Details kennen in der britischen Politik, auch in Deutschland: Was passiert da gerade in Großbritannien? Müssen wir alle Details so minutiös festhalten, dokumentieren, berichten, wie wir das gerade tun? – Großbritannien ein großes Fragezeichen, unser Thema mit dem CDU-Politiker David McAllister, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Europäischen Parlament, der zudem sehr enge familiäre Beziehungen zu Großbritannien hat. Wir erreichen ihn in Helsinki. Guten Morgen!
David McAllister: Einen schönen guten Morgen, Herr Müller.
"Das sind krachende Niederlagen für Boris Johnson"
Müller: Herr McAllister, haben Sie das alles für möglich gehalten?
McAllister: Na ja. Das war auf jeden Fall ein weiterer, sehr denkwürdiger Abend im britischen Unterhaus. Das Vereinigte Königreich ist die älteste parlamentarische Demokratie der Welt und das britische Parlament hat sich gestern einmal mehr sehr lebendig gezeigt. Das sind krachende Niederlagen für Boris Johnson und dadurch, dass das britische Oberhaus jetzt beschlossen hat, dieses Gesetz eines Ausschließens eines ungeregelten Brexits noch unter Dach und Fach zu bringen, werden wir am Montag im Unterhaus eine weitere spannende Debatte erleben und am Ende könnten Neuwahlen stehen.

David McAllister, CDU
David McAllister, CDU (dpa/Mohssen Assanimoghaddam)
Müller: Jetzt haben viele in der vergangenen Woche auch gesagt, macht euch keine Sorgen um Großbritannien. Sie sagen es auch: älteste parlamentarische Demokratie. Das heißt, die Korrektivfunktionen funktionieren immer noch?
McAllister: Das britische Unterhaus ist eine lebendige Volksvertretung und die Abgeordneten sind sehr selbstbewusst. Die Abgeordneten sind auch deshalb so selbstbewusst, weil sie ja alle direkt in ihren Wahlkreisen gewählt sind, und sie sind ausschließlich ihrem Gewissen verpflichtet. Es gibt eine ganze Reihe von Abgeordneten, die in dieser Situation gesagt haben, ein ungeregelter No-Deal-Brexit wäre eine verheerende Folge für das Vereinigte Königreich und das können sie nicht mehr mitmachen. Deshalb haben über 20 Konservative Boris Johnson die Gefolgschaft nicht mehr leisten können.
Müller: Das wäre ja fast in Deutschland undenkbar, dass von einer etablierten Regierungspartei, CDU oder auch SPD, von wem auch immer, plötzlich 20 Politikerinnen und Politiker diese Fraktion verlassen. Sind die Briten viel mutiger als die Deutschen?
McAllister: Die Fraktionsdisziplin ist im Vereinigten Königreich nicht so ausgeprägt wie in anderen Ländern. Das kommt schon mal vor, dass die Abgeordneten gegen die Fraktionsführung stimmen. Umso ungewöhnlicher ist ja jetzt auch der Entschluss gewesen, diese sehr harsche Reaktion, diese Abgeordneten alle aus der konservativen Fraktion rauszuschmeißen. Darunter sind ja ganz verdiente, hoch anerkannte Leute wie Kenneth Clarke oder Philip Hammond oder nicht zuletzt auch der Churchill-Enkel Nicholas Somes. Das Besondere an dieser Frage ist: Es ist eine Frage wirklich jetzt von fundamental nationaler Bedeutung. Ich beobachte seit 2016, spätestens seit dem britischen Referendum zur EU-Mitgliedschaft eine ungewöhnliche Polarisierung der britischen Politik, weil wir eine Situation haben, dass in einer Volksabstimmung eine knappe Mehrheit der Bevölkerung für etwas gestimmt hat, was aber eine Mehrheit der demokratisch gewählten Abgeordneten ablehnt. Das führt seit 2016 zu diesen fundamentalen Auseinandersetzungen, die immer wieder das deutsche Publikum ein wenig auch erstaunen.
"Mit Sorge den Verlauf der britischen Politik beobachtet"
Müller: Aber sehen Sie das ein bisschen mit Neid, auch mit Hochachtung? Die Namen, die Sie gerade genannt haben: An Kenneth Clarke können wir uns erinnern, der war auch mal Schatzkanzler, ganz wichtig in der britischen Politik. Der Enkel von Winston Churchill: Viele von uns haben den gestern vielleicht zum ersten Mal im Fernsehen gesehen, dann erkannt, dass er auch im Parlament sitzt. Das sind ja historische Dimensionen, die sich da vollziehen. Ist das mutig, ist das risikoreich, was dort passiert?
McAllister: Ich habe mit Sorge den Verlauf der britischen Politik beobachtet. Boris Johnson ist fest entschlossen, das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union herauszuführen. Er hat das als Frage von "Do or Die" oder Leben und Tod bezeichnet. Egal was komme, was wolle: Das Vereinigte Königreich müsse die Europäische Union verlassen.
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Müller: Weil das Referendum es so entschieden hat?
McAllister: Das Referendum hat mit knapper Mehrheit entschieden, dass das Vereinigte Königreich die Europäische Union verlassen soll. Aber ein No Deal, ein ungeordneter, ungeregelter Brexit mit all den verheerenden Folgen, das haben sicherlich sehr, sehr viele Menschen, die damals für das Ausscheiden aus der Europäischen Union gestimmt haben, so nicht berücksichtigen wollen. Insofern: Dieser ungeregelte, ungeordnete Brexit ist der völlig falsche Weg. Das hätte verheerende Konsequenzen für das Vereinigte Königreich. Insofern begrüße ich es, dass diese Option zumindest für drei Monate erst mal wieder vom Tisch ist – aller Voraussicht nach. Man weiß ja nie, was noch passiert.
"Es geht um die Übergangsphase, die es nicht gäbe"
Müller: Die ixte Verschiebung. – Boris Johnson hat aber auch gesagt, seit Monaten, seit Jahren reden wir darüber, versuchen, einen Deal zu finden mit der Europäischen Union, der ja besteht. Aber er sagt, wir brauchen Nachverhandlungen. Das hat Theresa May auch immer wieder gesagt. Sie ist schon gescheitert; vielleicht scheitert jetzt auch Boris Johnson. Die politische Situation in Großbritannien wird ja offenbar immer instabiler, immer volatiler. Wollen Sie das in Europa?
McAllister: Eine weitere Fristverlängerung müssten die Staats- und Regierungschefs beschließen. Voraussetzung dafür wäre mit Sicherheit eine glaubhafte und überzeugende Begründung. Aber Neuwahlen, die jetzt in Aussicht stehen, das wäre ja so eine Situation, wo man tatsächlich der Bevölkerung in Großbritannien noch mal die Chance gibt, darüber abzustimmen, wie es jetzt weitergehen soll. Ich kann verstehen, dass es Menschen in Deutschland gibt – ich bekomme dazu auch Zuschriften -, die sagen, muss es nochmals eine Fristverlängerung geben nach dem Motto, ist jetzt nicht in dieser Situation vielleicht ein Ende mit Schrecken etwas anderes als ein Schrecken ohne Ende. Und trotzdem: Wir haben ein ureigenes Interesse daran, auch als Bundesrepublik Deutschland und als Europäische Union insgesamt, dass der ungeordnete Brexit verhindert wird, denn das hätte auch negative Folgen für uns. Es geht um die betroffenen Bürger, es geht um die Wirtschaft, es geht um die Übergangsphase, die es nicht gäbe, und wir haben doch auch ein Interesse daran, ob das Vereinigte Königreich nun auch in der Europäischen Union bleiben wird oder nicht. Wir werden ja weiterhin eine gute Nachbarschaft und Partnerschaft pflegen wollen.
Müller: Herr McAllister, wenn das so schlimm ist, wie Sie es gerade beschreiben, dann helfen Sie doch Boris Johnson. Helfen Sie dem britischen Regierungschef.
McAllister: Die Europäische Union hilft der britischen Regierung seit 2016. Wir haben diesen Brexit nicht gewollt. Wir haben diese demokratische Entscheidung respektiert. Das Austrittsabkommen ist 18 Monate ausverhandelt worden. Die Europäische Union ist viele Kompromisse eingegangen. Das Austrittsabkommen liegt seit November ausverhandelt vor. Aber das britische Parlament sieht sich nicht in der Lage, dem zuzustimmen.
"Dann bitte ein geordnetes Verfahren"
Müller: Das sind die Parlamentarier, das ist Demokratie.
McAllister: Ja! Aber wenn es schon einen Brexit geben muss, dann bitte in einem geordneten Verfahren, und da ist das Austrittsabkommen der richtige Weg. Die Europäische Union ist offen für neue britische Vorschläge, was den Backstop angeht, im Rahmen der politischen Erklärung über die künftigen Beziehungen nochmals Gespräche zu führen. Aber das Austrittsabkommen als solches, was 18 Monate verhandelt wurde mit der Regierung May, das steht und das ist ein guter und gelungener Kompromiss und der sollte auch akzeptiert werden.
Müller: Das sagen die Kontinentaleuropäer. – Wir haben nicht mehr viel Zeit. Dennoch: Nordirland, haben Sie jetzt noch einmal ganz klar hier im Deutschlandfunk gesagt. Nordirland ist noch mal verhandelbar?
McAllister: Die Europäische Union, die Staats- und Regierungschefs haben gesagt, sie sind offen für Vorschläge, was man anstelle des Backstops setzen könnte. Aber sie müssen praktisch umsetzbar sein. Bislang spricht Boris Johnson von flexiblen kreativen Lösungen, von alternative arrangements, aber er hat ja in der Praxis nichts Konkretes geliefert. Insofern: Über was sollen wir bislang sprechen? Er muss konkrete Vorschläge machen. Der Ball liegt ganz eindeutig im britischen Spielfeld. Aber nochmals: Das Austrittsabkommen als solches sollte aus meiner Sicht nicht mehr aufgemacht werden. Es geht um die Erklärung über die künftigen Beziehungen, wo man sicherlich den einen oder anderen britischen Vorschlag noch aufnehmen könnte, sofern er denn konkret geliefert wird und auch praktisch anwendbar ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.