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Kommentar zu Pro-Palästina-Demos
Natürlich darf man „Free Palestine“ rufen

Dass sich Menschen in Deutschland zu Pro-Palästina-Demos versammeln, ist gut und richtig, meint Ronen Steinke. Auch wenn einem vieles nicht gefallen kann, was dort skandiert wird. Die Justiz sollte aber Härte zeigen, wo es zu Gewalt gegen Juden kommt.

Ein Gastkommentar von Ronen Steinke |
Demonstranten laufen durch eine Straße in Berlin. Eine Palästinenser-Flagge wird geschwenkt.
Tausende gingen in Berlin bei Pro-Palästina-Demos auf die Straße. (picture alliance / ZUMAPRESS.com / Michael Kuenne / Presscov)
Seit der Attacke der terroristischen Hamas auf israelische Männer, Frauen, Kinder, Großeltern am 7. Oktober zählen hierzulande diese Demonstrationen vielerorts zum Stadtbild: Menschen schwenken Palästinaflaggen, Menschen rufen Parolen wie „Free Palestine“ – also etwa: Freiheit für Palästina –, Menschen machen, kurz gesagt, ihrer Wut über die langjährige israelische Besatzung Luft. Und sie reagieren – hier auf deutschen Straßen – auf die militärische Übermacht, mit der sich Israel jetzt im Gazastreifen zeigt. 
Dass es solche Demonstrationen gibt in Deutschland, ist gut. Es ist richtig, auch wenn einem vieles nicht gefallen mag, nicht gefallen kann, was da teils an Parolen skandiert wird. Über den verbrecherischen Charakter der Attacken vom 7. Oktober kann man nicht streiten. Über die Tatsache, dass Israel angegriffen worden ist, kann man auch nicht streiten. Aber über die Art und Weise, wie sich Israel nun verteidigt – da muss in einer Demokratie selbstverständlich ein Gespräch zulässig sein. Auch eine Diskussion. 

Verzweiflung angesichts der Bilder aus Gaza

200.000 Menschen mit palästinensischer Herkunft leben in Deutschland. Und es kann von keinem Menschen, der hier lebt und vielleicht sogar Familienangehörige in den Palästinensergebieten hat, erwartet werden, keine Gefühle zu haben, wenn dort jetzt Bomben auf Wohnhäuser geworfen werden. Angst, Verzweiflung, Ratlosigkeit angesichts der schrecklichen Bilder aus Gaza: Das ist menschlich. Und das muss als Begründung schon ausreichen, damit jemand demonstrierend auf die Straße gehen darf.

Die Weisheit des Grundgesetzes

Die Versammlungsfreiheit ist ein Grundrecht, verankert in Artikel 8 unserer Verfassung – und es ist ein Grundrecht, das nicht nur jenen zusteht, die ihre politische Position elaboriert und ausdifferenziert vortragen können; abgewogen, auch völkerrechtlich kalibriert bis in alle Details, in vollem Bewusstsein aller Dilemmata. Die Weisheit des Grundgesetzes (und auch anderer liberaler Ordnungen) besteht darin, zu sagen: Menschen haben nun mal die Meinungen, die sie haben; dann ist es doch gesünder, wenn sie dies aussprechen, an der frischen Luft, als wenn es sich aufstaut und köchelt.  

Zulässige Parolen

Die Grenze ist erst da erreicht, wo Demos zu Gewalt aufstacheln. Oder wenn sie einschüchtern. „Free Palestine“, diese Parole, die man jetzt oft hört, das ist keine solche Aufstachelung zu Gewalt. Sondern das ist selbstverständlich zulässig. Genauso ist es mit der Parole „From the river to the sea, Palestine will be free.“ Übersetzt also: Vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer solle Palästina frei sein. Dieser Wortlaut irritiert, denn das bezieht sich auf das ganze Gebiet, auf dem heute auch der Staat Israel liegt. 
Ist das also ein Aufruf zum Mord an allen Israelis? Ein Aufruf zu gewaltsamer Vertreibung? Nun: Manche eher konservative Staatsanwaltschaften bemühen sich gerade tatsächlich, in diesem englischen Reim eine Volksverhetzung zu erblicken und ihn in Deutschland zum Tabu zu erklären, zur Straftat. So wirklich überzeugend ist das nicht. Wer sich nur nebulös „Freiheit“ für Palästina wünscht, in welchen Grenzen auch immer, der legt sich rhetorisch nicht fest auf einen bestimmten Weg, diese Freiheit zu erlangen. Das bleibt offen. Hier direkt Gewalt anzunehmen, wäre eine Unterstellung. Was damit gemeint ist, muss bei einer Demo auch nicht so ausdifferenziert und präzis durchargumentiert sein. 

Davidsterne an den Haustüren von Juden

Nein, wenn es einen Moment gibt, an dem der deutsche Rechtsstaat bitte wirklich Härte zeigen sollte in diesen Tagen, dann ist es eine anderer. Menschen, die Molotowcocktails gegen jüdische Einrichtungen werfen, wie es in Berlin geschehen ist; Menschen, die nachts heimlich Davidsterne an die Haustüren von Juden schmieren, um diese zu „markieren“ und einzuschüchtern: Hier verläuft eine rote Linie, und hier darf die Justiz sich auch nicht von Ausreden beeindrucken lassen.
Wenn hierzulande jemand meint, die Wut über den Nahostkonflikt berechtige nicht nur zu Demos, sondern auch zu Gewalttaten gegen jüdische Menschen – die für die Politik Israels nebenbei nicht verantwortlich sind –, dann sollte man sie sehr schnell eines Besseren belehren. Vor einem Strafgericht. Mit deutlichen Strafen.
Der Jurist und Journalist Ronen Steinke sitzt auf einer Treppe.
Ronen Steinke ist Redakteur und Autor der "Süddeutschen Zeitung". Er ist promovierter Jurist, Dozent an der Deutschen Richterakademie und Mitglied im Kuratorium des Max-Planck-Instituts für die Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht. Im Berlin Verlag erschienen zuletzt sein hochgelobtes Buch "Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt" (2020) und der Bestseller "Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz" (2022). Seine 2013 veröffentlichte Biografie über Fritz Bauer, den mutigen Ermittler und Ankläger der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, wurde mit "Der Staat gegen Fritz Bauer" preisgekrönt verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Ronen Steinke lebt mit seiner Familie in Berlin.