Vom Gazastreifen drangen am 7. Oktober 2023 Terroristen der militant-islamistischen Hamas nach Israel ein und töteten mehr als 1.300 Menschen, vorwiegend Zivilisten. Es war die bislang blutigste Terrorattacke auf israelischem Boden. Noch am gleichen Tag begann Israel mit Luftangriffen auf den Gazastreifen. Wieder einmal ist der Landstrich zum Ausgangspunkt für einen Krieg geworden. Der zugrundeliegende Konflikt und seine Ursachen reichen jedoch weit über den Gazastreifen hinaus.
Inhaltsverzeichnis
Wo liegt der Gazastreifen und wer lebt dort?
Der Gazastreifen ist ein schmales Küstenband am südöstlichen Ende des Mittelmeers. Landseitig wird das nur knapp 45 Kilometer lange und zwischen sechs und 14 Kilometer breite Gebiet auf allen Seiten von einem mehrere Meter hohen Sicherheitszaun begrenzt; im Norden und Osten zu Israel, im Süden zu Ägypten. Die fast 2,2 Millionen Einwohner leben auf einer Fläche von knapp 360 Quadratkilometern. Der Gazastreifen ist damit kleiner als das Bundesland Bremen (420 Quadratkilometer), in dem etwas mehr als eine halbe Million Menschen leben.
Fast Dreiviertel der Einwohner des Gazastreifens sind Flüchtlinge, die ursprünglich auf dem heutigen Staatsgebiet Israels oder im Westjordanland lebten. Mehr als die Hälfte von ihnen wohnt in acht Lagern, die vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) betreut werden. Rund 99 Prozent der Einwohner sind sunnitische Muslime, weniger als ein Prozent Christen. Juden leben seit 2005 nicht mehr im Gazastreifen.
Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum der Region ist das im Norden des Küstengebiets gelegene Gaza, mit rund 600.000 Einwohnern auch die größte Stadt. Weitere städtischen Zentren sind im Süden Khan Yunis (220.000 Einwohner) und die Grenzstadt Rafah (200.000). Hier befindet sich auch der einzige offizielle Grenzübergang von und nach Ägypten, die beiden anderen Übergänge werden von Israel kontrolliert. Eine Einreise auf dem Seeweg ist nicht möglich.
Wie ist die Situation der Menschen im Gazastreifen?
Schon vor dem 7.10.2023 war die humanitäre Lage im Gaza-Streifen nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes der deutschen Bundesregierung „prekär“. Fast die Hälfte der Einwohner war auf humanitäre Nahrungsnothilfe angewiesen. Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) hat quartalsweise Grundnahrungsmittel wie Mehl, Linsen, Kichererbsen und Öl ausgeteilt.
Die Menschen leiden im Gazastreifen auch unter stark eingeschränktem Zugang zu sauberem Trinkwasser und Energie, unzureichender Gesundheitsversorgung, einem schlechten Bildungssystem und einer maroden Infrastruktur. Verantwortlich für diese Situation sind neben der seit Jahren anhaltenden Blockade durch Israel und Ägypten vor allem auch die seit 2007 bestehenden politischen Machtverhältnisse im Gazastreifen.
Wirtschaftliche Perspektivlosigkeit für die Bevölkerung
Nach mehreren Kriegen mit Israel in den vergangenen 20 Jahren sind große Teile des Gazastreifens zerstört. Ein Wiederaufbau war aufgrund des von Sicherheitsinteressen geleiteten rigiden Grenzregimes Israels nur eingeschränkt möglich. Ein- und Ausreise in den Gazastreifen sind strikt begrenzt, ebenso der Import von Strom, Treibstoff oder Baumaterial und der Export landwirtschaftlicher Güter. „Die palästinensische Wirtschaft befindet sich in einem desolaten Zustand“, urteilte der Internationale Währungsfonds Anfang September 2023.
Rund die Hälfte der Bevölkerung der Enklave muss mit weniger als 3,20 Dollar am Tag auskommen und lebt damit unter der Armutsgrenze. Viele sind daher auf Lebensmittelhilfen angewiesen, zumal es in dem abgeschotteten Küstenstreifen auch kaum Arbeit gibt: Mehr als 40 Prozent der männlichen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ist ohne Job, bei den Frauen sind es 65 Prozent. Die Arbeitslosigkeit in der jungen Bevölkerung beträgt sogar fast 75 Prozent. Angesichts der Tatsache, dass fast 40 Prozent der Bevölkerung jünger als 14 Jahre ist, dürfte sich die Situation in den kommenden Jahren weiter verschärfen.
Wie ist die politische Situation im Gazastreifen?
Politisch gehört der Gazastreifen zum Palästinensischen Autonomiegebiet und steht damit formell unter der Verwaltung der Palästinensischen Autonomiebehörde. Faktisch übernahm die Hamas, die von Israel, der Europäischen Union und den USA als Terrororganisation eingestuft wird, 2007 nach innerpalästinensischen Auseinandersetzungen die Regierungsgeschäfte im Gazastreifen. Vorrangiges Ziel der 1987 gegründeten Hamas ist die Zerstörung Israels und die Errichtung eines islamischen Staates Palästina an dessen Stelle.
Der Name Hamas ist ein arabisches Akronym und steht übersetzt für „Bewegung des islamischen Widerstandes“. Die Hamas ging nach Beginn der Ersten Intifada aus dem palästinensischen Zweig der fundamentalistischen Muslimbruderschaft hervor und stand von Anfang an in Opposition zur säkular ausgerichteten sozialistischen Fatah-Partei des langjährigen Palästinenser-Führers Jassir Arafat. Eine Rivalität, die bis heute weiterbesteht.
Neben ihrem militärischen Arm, den Kassam-Brigaden, besteht die Hamas aus einer politischen Partei und einem sozialen Hilfswerk. Finanzielle Hilfe bekommt sie unter anderem aus Katar und dem Iran. Das schiitische Regime in Teheran unterstützt die sunnitische Hamas auch militärisch. Seit ihrer Machtübernahme im Gazastreifen hat die Hamas von dort Israel immer wieder attackiert, vor allem mit Raketen, die in den grenznahen israelischen Orten häufiger Menschen töteten und verletzten. Vor dem jüngsten, bislang tödlichsten Angriff der Terroristen am 7. Oktober 2023 eskalierte der Konflikt bereits vier Mal zu Kriegen: 2008/2009, 2012, 2014 und 2021.
Die Folgen für die palästinensische Bevölkerung und die Infrastruktur im Gazastreifen waren jedes Mal verheerend, die Vereinten Nationen zählen über 4.000 Tote auf palästinensischer Seite; dabei ist der Anteil an zivilen Opfern jedoch umstritten.
Wie ist der Gazastreifen entstanden?
Das Gebiet um die Stadt Gaza ist seit rund 3.000 Jahren ohne Unterbrechung besiedelt und war immer wieder umkämpft. Über die Jahrhunderte herrschten hier unter anderem Ägypter, Assyrer, Babylonier, Perser, Griechen, Römer und Araber, europäische Kreuzfahrer und schließlich ab dem frühen 16. Jahrhundert - mit einer kurzen Unterbrechung - die Osmanen. Im Ersten Weltkrieg besetzte Großbritannien die Küstenregion sowie das gesamte Gebiet des heutigen Israel und Jordanien. Die Kontrolle über das sogenannte Mandatsgebiet Palästina ließ sich London am 24. Juli 1922 durch den Völkerbund, die Vorläuferorganisation der Vereinten Nationen (UN), international legitimieren.
In dem Mandatstext wurde dem jüdischen Volk eine „nationale Heimstätte“ in dem Gebiet in Aussicht gestellt, das seit Ende des 19. Jahrhunderts zum Ziel zionistisch gesinnter jüdischer Einwanderer aus Europa geworden war. Ausgangspunkt war ein wachsender Antisemitismus in Europa, zum Teil einhergehend mit Verfolgung und Pogromen; es folgte die weitgehende Auslöschung des europäischen Judentums in der Shoah. In Folge mehrerer Einwanderungswellen wuchs der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Palästina bis 1945 auf 30 Prozent. Ihr Ziel: Im laut Bibel Gelobten Land des Volkes Israel einen eigenen Staat zu gründen. Gleiches strebten auch die dort bereits lebenden arabischsprachigen Palästinenser an.
Staatsgründung Israels und der erste Nahost-Krieg
Schnell gerieten die Briten in ihrem Mandatsgebiet zwischen die Fronten von arabisch-palästinensischer Nationalbewegung und zionistisch motivierten Juden, zumal sie beiden Seiten große Hoffnungen auf ein eigenes Gebiet gemacht hatten.
Weil zudem auch die eigenen Mandatsbehörden immer wieder zur Zielschiebe wurden, entschied sich London, das Problem an die Vereinten Nationen zu übergeben. Mit der am 29. November 1947 verabschiedeten Resolution 181 stimmte die Mehrheit der UN-Vollversammlung für die Schaffung eines arabisch-palästinensischen und eines jüdischen Staates auf dem britischen Mandatsgebiet westlich des Jordans. Jerusalem sollte als neutrale Enklave unter internationale Verwaltung gestellt werden.
Die arabischsprachige Bevölkerung und viele Nachbarstaaten lehnten den Teilungsplan aus verschiedenen Gründen ab, die jüdische Selbstverwaltung in Palästina (Jischuv) nahm ihn an – obwohl das für sie so wichtige Jerusalem nicht Teil ihres Staates sein sollte. Als am 14. Mai 1948 das britische Mandat über Palästina endete, proklamierte der Politiker Ben Gurion noch am gleichen Tag in Tel Aviv den unabhängigen Staat Israel. Nur wenige Stunden später marschierten die Armeen mehrerer arabischer Staaten in Palästina ein, um den gerade ausgerufenen jüdischen Staat zu zerstören.
Israels Sieg und die "Nakba" der Palästinenser
Israel ging als Sieger aus diesem ersten arabisch-israelischen Krieg hervor und eroberte dabei auch Gebiete, die ihm im ursprünglichen UN-Plan nicht zugesprochen worden waren, darunter West-Jerusalem sowie größere Regionen im Norden und Süden. Die palästinensische Bevölkerung dort floh in der Folge massenhaft; die Ereignisse werden auf Arabisch als „Nakba“, Katastrophe, bezeichnet.
Andere Gebiete Palästinas, die laut UN-Resolution 181 eigentlich Teil eines palästinensischen Staates werden sollten, gerieten unter die Herrschaft arabischer Staaten. Jordanien annektierte 1950 Ost-Jerusalem und die Westbank, der schmale Küstenabschnitt um die Stadt Gaza kam unter ägyptische Verwaltung – fortan wurde er Gazastreifen genannt. Hierhin flohen rund ein Viertel der bis zu 760.000 Palästinenser aus anderen Gebieten Palästinas.
Wie kam es zu der aktuellen politischen Situation im Gazastreifen?
Spannungen zwischen Israel und Ägypten führten 1967 zu einem neuerlichen arabisch-israelischen Waffengang. Im sogenannten Sechs-Tage-Krieg eroberte Israel neben dem Westjordanland mit Ost-Jerusalem, den syrischen Golan-Höhen, der ägyptischen Sinai-Halbinsel auch den Gazastreifen und hielt ihn in der Folge fast 40 Jahre besetzt.
Autonomiezusage für die Palästinenser im Osloer Friedensprozess
Durch die Abkommen des Osloer Friedensprozesses von 1993 und 1994 sollte den Palästinensern in den von Israel besetzten Gebieten teilweise die autonome Selbstverwaltung übertragen werden. Zudem erkannten sich Israel und die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) erstmals offiziell gegenseitig an. Während sich die PLO zugleich verpflichtete, Passagen aus ihrer Charta zu streichen, die auf die Vernichtung Israels zielten, startete die Hamas etwa zeitgleich eine Welle von Selbstmordanschlägen in Israel.
Der Osloer Friedensprozess geriet bald ins Stocken und kam mit der zweiten Intifada (2000 bis 2005) schließlich vollends zum Erliegen. Israel entschied sich schließlich zum Rückzug aus dem Gazastreifen. Auch israelische Siedler mussten die Küstenregion verlassen. Das israelische Militär räumte und zerstörte ihre Siedlungen. Am 12. September 2005 endete offiziell die israelische Besetzung des Gazastreifens, die Verwaltung ging an die Palästinensische Autonomiebehörde über.
Aus der Wahl des Legislativrats, des Parlaments der autonomen Gebiete Westjordanland und Gazastreifen im Jahr 2006, ging die radikalislamistische Hamas als klarer Sieger hervor. Es kam zu innerpalästinensischen Auseinandersetzungen, unter anderem weil die Gefahr bestand, dass die internationale Unterstützung für die Palästinensischen Autonomiegebiete unter einer Hamas-Regierung eingestellt würde. Der Versuch, eine Regierung der Nationalen Einheit mit der zuvor regierenden Fatah-Partei zu gründen, scheiterte.
Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen
Im Juni 2007 übernahm die Hamas schließlich gewaltsam die Herrschaft über den Gazastreifen. Israel erklärte diesen daraufhin zum „feindlichen Gebiet“ und verschärfte dessen Blockade. Die Lebensbedingungen der Menschen im Gazastreifen, deren Mehrheit das Gebiet in den letzten 16 Jahren nie verlassen konnte, haben sich nach einem Bericht der Hilfsorganisation Human Rights Watch seitdem weiter verschlechtert.
Experten machen dafür jedoch maßgeblich auch die herrschende Hamas und den innerpalästinensischen Streit mit der Fatah verantwortlich. Der institutionelle Niedergang und die Verschlechterung der Regierungsführung hätten die Voraussetzungen für einen Staatszerfall geschaffen, der fast unumkehrbar ist, heißt es in einem Fachartikel zum Gesundheitssystem im Gazastreifen.
Was ist der Kern des Problems?
Der historische Abriss macht deutlich: Im aktuellen Krieg bekämpfen sich wieder einmal die im Gazastreifen herrschende, militant-islamistische Terrororganisation Hamas und Israel. Die Auseinandersetzung ist jedoch Teil eines weit größeren Konflikts, der bis in die Zeit vor der Staatsgründung Israels zurückreicht und der bereits Auslöser des ersten arabisch-israelischen Kriegs war.
Kern des Problems: Die Hamas erkennt Israel nicht an und fordert die Vernichtung des jüdischen Staates. Israel beansprucht seine Anerkennung als unabhängiger Staat und sein Existenzrecht. Dabei erhebt die derzeitige israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu auch Anspruch auf Siedlungsgebiete im Westjordanland, das allerdings auch von Palästinensern für einen eigenen, unabhängigen Staat eingefordert wird. An der Lösung dieses Problems scheiterten bereits die Vereinten Nationen. Nach allem, was in den vergangenen 75 Jahren geschehen ist, scheint eine Lösung heute umso schwieriger.
In diesem Text waren in einer früheren Version falsche Aussagen zur Bevölkerungsdichte des Gaza-Streifens, diese haben wir entfernt.