Dienstag, 19. März 2024

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NATO-General a.D. zur Situation in Afghanistan
"Ich hoffe, dass die Amerikaner nicht so schnell abziehen"

In Afghanistan seien die US-Truppen die "Möglichmacher" des Einsatzes, sagte der ehemalige NATO-General Egon Ramms im Dlf. Sollten sie, wie von US-Präsident Donald Trump geplant, abziehen, bliebe den restlichen Truppen nichts anderes übrig, als selbst das Land zu verlassen.

Egon Ramms im Gespräch mit Philipp May | 01.12.2020
Der deutsche Ex-NATO-General Egon Ramms
Der ehemalige NATO-General Egon Ramms am 15.06.2009 in Kabul bei einer Kommandoübergabe-Zeremonie mit dem US-amerikanischen General Stanley A. McChrystal (dpa / picture alliance / epa Sabawoon)
Die NATO soll reformiert werden und sich strategisch neu ausrichten. Darum tagen am 1. Und 2. Dezember 2020 die NATO-Außenminister. Sie sprechen auch über die 140 Reformvorschläge, die eine Expertengruppe unter anderem unter der Leitung von Thomas de Maiziére (CDU), ehemaliger deutscher Verteidigungsminister, erarbeitet hat.
Egon Ramms, General im Ruhestand und als Oberbefehlshaber der Alliierten Joint Forces bis 2010 ranghöchster deutscher NATO-General, hält eine Reform des Bündnisses dringend für nötig – insbesondere was das Verhältnis zu Russland und China betrifft, aber auch wenn es um die militärische Abhängigkeit Europas von den USA geht.
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Philipp May: Fangen wir erst einmal ganz konkret an mit dem Abschiedsgeschenk von Donald Trump: der angekündigte Teilabzug der USA aus Afghanistan. Was soll die NATO da jetzt tun?
Egon Ramms: Die NATO wird sich in dieser Frage beraten müssen und die Amerikaner werden, so hoffe ich, nicht so schnell abziehen, wie Donald Trump das angekündigt hat. Denn die Amerikaner stellen die sogenannten Enabler, die Möglichmacher für viele andere der Verbündeten, und wenn man zurzeit nach Afghanistan guckt, dann hat man etwa 5000 Amerikaner im Land und man hat noch 6000 verbündete Soldaten im Land. Von daher würden die dann irgendwo mit Blick auf Aufklärung, Unterstützung, Transport, hin bis zur medizinischen Evakuierung in der Luft hängen, und das kann sich im Prinzip keiner erlauben.
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May: Aber er will seine Ankündigung ja wahrmachen, bis zu seinem Abschied, bis zu seinem Ende am 20. Januar soll die Truppe halbiert werden, glaube ich, auf 2500. Wenn er das wahrmacht, welche Optionen haben dann die anderen noch?
Ramms: Dann haben die anderen eigentlich nur noch die Option, möglichst schnell in die eigenen Abzugsplanungen reinzugehen, wobei zum Beispiel Deutschland dafür etwa drei Monate rechnet. Ich habe ein bisschen den Funken Hoffnung, dass die künftige Administration, möglicherweise auch noch die amtierenden Leute zurzeit vielleicht ein bisschen das verzögern können. Die Amerikaner sollten jetzt schon runter sein bei etwa 5000; sie sind noch bei 5600. Von daher sage ich mal, es ist etwas langsamer oder entwickelt sich etwas langsamer, als es der US-Präsident vielleicht geplant hat.
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May: Aber grundsätzlich – das stellen auch Sie nicht in Frage – soll die NATO raus aus Afghanistan?
Ramms: Nein, das stelle ich schon in Frage. Ich bin der Auffassung, dass wir – das heißt, alle westlichen Staaten in der NATO und die zusätzlichen unterstützenden Staaten – den Afghanen eigentlich im Jahr 2011 bei der zweiten Petersberg-Konferenz ein Versprechen gegeben haben, nämlich sie bis 2024 zu unterstützen. Auch wenn der Schwerpunkt bei dieser Unterstützung auf, ich sage das mal, Wiederaufbau, Wirtschaft und ähnlichen Dingen liegt, muss ja auch dafür, für die entsprechenden Gesellschaften, Organisationen, Regierungsorganisationen, Nichtregierungsorganisationen für ein sicheres Umfeld gesorgt werden, und dazu sind die Afghanen, die afghanische Armee offensichtlich jetzt noch nicht in der Lage.
Ramms: IS könnte sich in Afghanistan neue Heimat suchen
May: Das heißt, die Taliban übernehmen?
Ramms: Ja, ich habe noch eine ganz andere Befürchtung. Wenn man auf die Anschläge der letzten Wochen guckt – und es waren ja nicht wenige -, dann tragen einige dieser Anschläge die Handschrift des Islamischen Staates. Das Horrorszenario für mich und aus meinen Augen wäre, wenn sich jetzt der Islamische Staat in Afghanistan aufgrund des Abzuges und der Schwäche der afghanischen Streitkräfte eine neue Heimat sucht und ein neues Kalifat ausruft, so wie es vorher in Syrien beziehungsweise im Irak gewesen ist. Dann haben wir noch eine ganz andere, sehr schwierige Situation. Auch wenn die Amerikaner, der General Miller, der Commander von Resolute Support, gesagt hat, dass die Kräfte zur Terrorismusbekämpfung seitens der Amerikaner im Lande gehalten werden, dürfte diese Situation sich dann noch ungünstiger entwickeln als mit den Taliban, wobei auch das mit den Taliban ist ja keine Sache, die mit Blick auf die Gespräche zwischen Taliban und afghanischer Regierung im Augenblick Mords Fortschritte macht. Die Amerikaner haben sich mit den Taliban über bestimmte Konditionen geeinigt. Wieweit die afghanische Regierung A diese Konditionen erfüllen kann und B diese Konditionen für sich übernimmt, ist eine Frage, die ist bisher nicht beantwortet.
May: Dieses, wie Sie sagen, gebrochene Versprechen der NATO-Partner gegenüber Afghanistan, ist das ein Symptom der Probleme der NATO, so wie es Macron gesagt hat? Man muss ja nicht gleich von Hirntod sprechen.
Ramms: Nein. Der Begriff Hirntod von Macron war sicherlich überzogen, vielleicht auch provozierend gedacht von seiner Seite her, wobei es damals eine Situation gab, wo Frankreich in der NATO vorankommen wollte und durch andere Länder, die diesen Schritt nicht mitgehen wollten, gebremst worden ist.
May: Auch von Deutschland?
Ramms: Die NATO arbeitet ja im Konsensprinzip. – Wir haben noch einige Staaten weiter im Osten, die, ich sage das mal, neben weltweiten Einsätzen auch das Thema Bündnisverteidigung etwas anders beurteilen, als es vielleicht der Präsident Macron beurteilt, und diese Länder sehen auch die Europäische Union nicht in der Rolle einer Verteidigungsgemeinschaft, sondern für die ist die erste Priorität mit Blick auf ihre eigene Sicherheit die NATO. Von daher gibt es da bestimmte, ich sage mal, Streitigkeiten oder zumindest andere Auffassungen.
"Die Türkei spielt im Augenblick eine Sonderrolle"
May: Und wenn Sie einige Länder meinen, dann meinen Sie als erstes die Türkei?
Ramms: Die Türkei spielt im Augenblick mit ihrem Verhalten eine Sonderrolle. Nein, da habe ich in erster Linie beispielsweise an die baltischen Staaten, an Polen und noch den einen oder anderen osteuropäischen Staat gedacht, der sich in der Verteidigung auf die NATO verlässt.
May: Nach vier Jahren Donald Trump – wie angeschlagen ist das Bündnis aktuell?
Ramms: Das Bündnis hat diese Zeit eigentlich noch relativ gut überlebt. Wenn man die Ankündigungen betrachtet, die Donald Trump zu Anfang seiner Amtszeit gemacht hat, und wenn man das eine oder andere Auftreten bei NATO-Gipfeln beobachtet hat, oder auch Aussagen von ihm nimmt, dann hat die NATO das eigentlich doch, sage ich mal, einigermaßen gut überstanden. Jens Stoltenberg hat in dieser Zeit die NATO mit kluger Hand geführt. Er hat auch versucht, die entsprechende Verbindung zu Donald Trump herzustellen. Von daher, sage ich mal, ist das Ganze noch verhältnismäßig gut gelaufen. Als Trump zu Anfang seiner Amtszeit angedroht hat, dass er die NATO verlassen wolle, sah die Sache wesentlich schlechter aus.
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"Mit Biden wird sich die Atmosphäre verändern"
May: Jetzt hoffen ja viele, dass mit Joe Biden, einem ausgewiesenen Transatlantiker, wieder ruhigeres Fahrwasser einkehrt an der Spitze der USA. Sehen Sie das auch so?
Ramms: Mit dieser Herangehensweise sollte man vorsichtig sein. Es wird verbindlicher werden, es wird freundlicher werden, man wird sich wieder mehr unterhalten. Ich glaube nicht, dass es da noch irgendwelche, ich sage mal, überraschenden so wie jetzt Einzelentscheidungen gibt, sondern die ganze Atmosphäre wird sich verändern und man wird sich wieder auf bestimmte Punkte einigen können.
Es wäre eine falsche Annahme, wenn man annehmen würde, dass Joe Biden jetzt von vielen Punkten, die Trump angesprochen hat, mit Blick auf die Europäer ganz allgemein, mit Blick auf die zwei Prozent für den Verteidigungshaushalt vom Bruttosozialprodukt und dergleichen mehr, einen anderen, einen weicheren Kurs einschlagen würde. Das sollten auch wir Europäer und auch die Deutschen sich eigentlich nicht wünschen. Unser Bestreben sollte sein, auch in Europa bei den europäischen NATO-Staaten einsatzbereite Streitkräfte aufzustellen und auf diese Art und Weise vielleicht wieder auf Augenhöhe mit den Amerikanern zu kommen und sich dann über die strittigen Fragen in einer besseren Art und Weise unterhalten zu können.
Das Budget der Bundeswehr
May: Das sagen ja auch viele Experten, darauf weisen wir immer wieder hin, dass auch Joe Biden auf diese zwei Prozent Verpflichtung Deutschlands pochen wird, dass Deutschland zwei Prozent seines Bruttosozialprodukts für Verteidigungsausgaben aufwendet. Wobei Annalena Baerbock, die Grünen-Chefin, gestern nicht ganz zu Unrecht darauf hinweist, dass die Bundeswehr schon jetzt große Probleme hat, ihr Geld auszugeben. Es gab ja einen großen Mittelzuwachs. Muss man nicht erst einmal die Strukturen schaffen, damit man das Geld auch in das richtige Material überhaupt investieren kann, bevor man das Budget immer weiter aufbläht?
Ramms: Wenn man in der Bundeswehr in die Materialerhaltung, in die Instandsetzung, in die Erhaltung des Gerätes, in die Ersatzteilbeschaffung der vorhandenen Systeme mehr Geld reinstecken könnte, dann könnte man die Einsatzfähigkeit dieser Waffensysteme über Heer, Luftwaffe und Marine deutlich verbessern. Dann könnte man die Flugstunden erhöhen, man könnte die Ausbildung verbessern, und so gibt es viele Punkte, an denen gearbeitet werden kann, und dafür ist Geld erforderlich.
Frau Baerbock hat recht damit, wenn sie sagt, dass die Beschaffung der großen Waffensysteme oder neuer Waffensysteme ein Prozess ist, der vielleicht ein bisschen zu viel Zeit kostet, der aber in jedem Fall Zeit nehmen wird. Mir ist im Augenblick nicht bekannt, dass die Bundeswehr im Jahr des Haushaltes 2020 so wahnsinnig viel Geld übrig behält. Von daher, sage ich mal, ist die Masse an die Kasse gebracht. Ganz im Gegenteil! Wenn ich sehe, wie das Hubschrauber-Projekt mit dem schweren Transporthubschrauber und andere Dinge im Augenblick sich wieder anfangen zu verzögern, weil sie zu teuer geworden sind auf der einen Seite, aber auch, weil die Verfahren in diesem Falle wieder länger dauern als erwartet, dann kann ich nur sagen, das ist Material – der Schützenpanzer Puma ist ein anderes Beispiel -, welches schnellstens zu den Soldaten kommen muss, damit die Soldaten auch tatsächlich ihren Auftrag weiter erfüllen können. Von daher sind meine Gefühle gemischt gegenüber der Darstellung von Frau Baerbock in ihrem Interview. Aber die Bundeswehr braucht Geld und es gibt Leute, die das berechnet haben, und die Summen, die wir in den nächsten Jahren brauchen, um selbstgesetzte und durch die Regierung weitestgehend gebilligte Ziele zu erreichen, die haben wir zurzeit nicht.
Strategische Ausrichtung der NATO
May: Kommen wir auf die allgemeine strategische Ausrichtung der NATO. Wir haben es im Beitrag gehört: Eine Expertengruppe hat Reformvorschläge gemacht. Ist ein neues strategisches Konzept grundsätzlich tatsächlich überfällig? Muss sich die NATO neu ausrichten?
Ramms: Das strategische Konzept aus dem Jahre 2010 – das hat auch vorhin Ihr Kollege und Herr de Maiziére richtig festgestellt – stammt aus dem Jahre 2010 und berücksichtigt damit eine Lage, mit Blick auf China und mit Blick auf Russland, die heute nicht mehr der Realität entspricht. Insbesondere die Ukraine 2014 und alle Folgen, die dahinter gehangen haben, haben letztendlich dieses Konzept von 2010 mit dem Titel "Active Engagement and modern Defence" überholt, sage ich mal mit meinen Worten. Von daher ist eine Überarbeitung dringend erforderlich. Wie das dann ausgeht, weiß ich nicht. Die NATO hat aber auch in der Zeit, in den letzten zehn Jahren weitergearbeitet. Es hat Oberbefehlshaber gegeben in Mons in Belgien, die beispielsweise den 360-Grad-Blick auch mit Blick auf Bündnisverteidigung wieder gestärkt und wieder eingeführt haben, wobei man – und das hat Deutschland vielleicht anders gesehen, vielleicht sogar Herr de Maiziére anders gesehen – die Rolle der Bündnisverteidigung, die im vergangenen strategischen Konzept seit 2010 drin gewesen ist, in Deutschland zumindest von 2011 bis 2015 wenig beachtet hat.
May: Ist Bündnisverteidigung tatsächlich das nächste kommende große Thema, von dem man eigentlich gesagt hat, es geht eher um Auslandseinsätze in der NATO – Stichwort Afghanistan?
Ramms: Nein, das ist Landes- und Bündnisverteidigung. Jeder Staat hat die Pflicht, seine Bürger im Rahmen der Verteidigung gegen auswärtige Einflüsse zu schützen. Von daher ist Bündnisverteidigung das zentrale Thema. Bei dem strategischen Konzept von 2010 …
May: Gegen Russland oder gegen China?
Ramms: Im Augenblick erst mal gegen gar keinen, sondern man muss sich selber verteidigen können mit den entsprechenden Mitteln, was Deutschland beispielsweise im Zustand 2015/2016 nicht mehr gekonnt hätte, auch nicht im Rahmen der Bündnisverteidigung, beispielsweise an der Außengrenze, der östlichen Grenze von Polen oder in den baltischen Staaten. Sie müssen miterleben in den baltischen Staaten, welche Angst die Balten seit 2014 wieder, eigentlich schon seit dem Georgien-Krieg 2008 gegenüber Russland haben. Das muss man fühlen, hätte ich beinahe gesagt. Dieses Gefühl der Angst in dieser Richtung entfernt sich oder wird kleiner, je weiter man sich von den baltischen Staaten entfernt. Das ist übrigens auch eine der Ursachen für die Aussagen von Macron vor etwas mehr als einem Jahr.
May: Ist denn diese Angst berechtigt?
Ramms: Da müssen Sie die Leute fragen, die dort Gefühle haben.
May: Ich kann jetzt aber nur Sie fragen.
Ramms: Ich habe das Zufallserlebnis gehabt, dass ich im Jahre 2008 etwa sechs Wochen nach dem Georgien-Krieg in den baltischen Staaten gewesen bin zur Dienstaufsicht und zu offiziellen Besuchen. Und ich kann Ihnen nur sagen, was mir damals an Fragen gestellt worden ist, und auch das Gefühl, welches mir von Politikern, aber auch von Medienvertretern vermittelt worden ist, war: Wir haben Angst vor Russland. Das hat sich, glaube ich, seither nicht geändert, zumindest mit Sicherheit nicht verbessert seit 2014.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.