
„Also eigentlich ist Corona wie ein Zeitraffer, und ich hatte manchmal den Eindruck, es ist so, als wenn jemand vorgespult hätte und sagt, schaut her, so sehen eure Innenstädte aus, wenn ihr nichts tut.“
Corona ist nicht das eigentliche Problem
„Man kann sagen, die Jahre des Konsums haben die Innenstädte einseitig und monoton gestaltet. Und mit dem Ergebnis müssen wir jetzt leben - dass natürlich einseitige, monotone Innenstädte jetzt anfälliger sind für eine Krise.“
Leerstände eröffnen die Abwärtsspirale
„Und es sah ja auch gespenstisch aus in den Innenstädten, ohne Menschen, fast wie ausgestorben. Und dennoch würde ich sagen, das Wording vom Sterben der Innenstädte, das geht meiner Meinung nach viel zu weit. Also, wir haben ein Ladensterben, aber das ist nicht zwangsläufig mit dem Sterben der Innenstädte gleichzusetzen. Weil die Innenstädte bleiben. Sie verändern sich, sie verändern sich deutlich. Der Anteil des Handels nimmt ab. Er macht Platz für Neues. Aber die Innenstädte an sich, die sterben nicht.“
Das sieht auch Melf Grantz so. Er ist Oberbürgermeister von Bremerhaven und schlendert gerade durch seine Innenstadt. Auch hier hatte Corona dafür gesorgt, dass immer mehr Läden schließen mussten. Es ist Donnerstagnachmittag, einige Menschen sind unterwegs, aber es ist nicht voll. Ein Aktionsprogramm soll wieder mehr Schwung in die Fußgängerzone bringen, die Innenstadt soll attraktiver werden. Für 2,5 Millionen Euro werden unter anderem Verweilzonen eingerichtet und Fahrradabstellplätze gebaut. Und in der Tourismusbehörde hat die Stadt eine Stelle eingerichtet, die zwischen Vermietern und möglichen Mietern vermittelt - durchaus mit Erfolg, freut sich Grantz. Viel Geld hat die Stadt schon in die Hand genommen, um die Innenstadt aus der Corona-Krise hinaus zu führen. Öffentliches Geld sei auch weiterhin nötig, um die Krise zu meistern. Davon ist der Oberbürgermeister von Bremerhaven überzeugt.
„Von daher haben wir darüber hinaus auch noch zwölfeinhalb Millionen Euro zusätzlich aus dem Corona-Fonds vom Land bekommen, die uns dann überhaupt erst ermöglicht haben, den schlimmsten faulen Zahn selbst zu kaufen, nämlich das Karstadt-Gebäude.“

Die große Zeit der Center - vorbei?
„Und dann enden wir bei unseren Überlegungen nicht nur bei der Innenstadt, sondern müssten eigentlich die Gesamtstadt in den Blick nehmen. Und dann kommen wir dahin, dass wir insgesamt mehr Nutzungsmischung und Funktionsvielfalt in den Stadtbereichen denken müssen.“
Das Problem der langjährigen Funktionstrennung
„Das ist genau der Punkt, dass wir eigentlich die Städte ja sehr lange im Sinne einer Funktionstrennung entwickelt und gestaltet haben, oder es letztendlich halt auch die Investoren haben so machen lassen. Und das führt zu viel Verkehr. Ne? Weil, wir wohnen außerhalb und fahren in die Innenstadt.“
Auch Christoph Mäckler hält die bislang bestehende Funktionstrennung für überholt. Mäckler ist Architekt und leitet das Institut für Städtebaukunst an der TU Dortmund. In seinen Augen müsste eigentlich jedes Stadtviertel - auch die Innenstadt – alles bereitstellen, was eine Stadt ausmacht.
„Und das ist das Prinzip der Stadt der kurzen Wege. Dass ich also das Wohnen und das Arbeiten und das Einkaufen, die Kultur und so weiter alles an einem Fleck habe, weil sie sich eben nicht stören, sondern weil sie sich ergänzen und weil sie zu einer ganz großen Lebendigkeit führen.“
Christopf Mäckler bedauert vor allem, dass wir schon einmal weiter waren. Die Funktionstrennung in den Städten sei erst nach dem Zweiten Weltkrieg aufgekommen.
„Eigentlich war die europäische Stadt immer eine Stadt, die Funktionsmischung hatte und damit auch eine soziale Vielfalt hatte und eine Dichte. Und all das haben wir heute in unseren neuen Stadtquartieren aufgrund der Baunutzungsverordnung so nicht mehr.“
Vorbild Gründerzeit
„Wir haben damals Straßenräume gebaut, mit Straßenfassaden. Wir haben Platzräume gebaut, mit Platzfassaden.“
Moderne Straßenzüge und Plätze seien dagegen meist unschön gestaltet und würden auch nicht zum Verweilen und Flanieren einladen, findet Mäckler.
„Das konnten wir übrigens in der Pandemie wunderbar betrachten, was es bedeutet, einen Straßenraum oder einen Platzraum zu haben, also einen gestalteten Raum, in dem sich Menschen wohlfühlen. Das fehlt heute.“

„Die Pandemie ist eindeutig eine Chance, weil sie uns vor Augen geführt hat, wo unsere Probleme liegen. Aber jetzt müssen wir natürlich hergehen und müssen das Übel an der Wurzel packen. Das heißt, wir können jetzt nicht mal versuchen, irgendwie die Fußgängerzone ein bisschen aufzuhübschen und mit irgendwelchen Zwischennutzungen zu belegen, sondern wir müssen schauen, dass die Monofunktionalität der Fußgängerzone wieder Stadt wird. Das heißt, dass dort Menschen leben, arbeiten und natürlich auch einkaufen. Das heißt, wir müssen dort das Wohnen wieder hineinbringen. Es muss das Arbeiten dort hineingebracht werden.“
Als erstes solle die Baunutzungsverordnung geändert werden - das fordert Christoph Mäckler in der „Düsseldorfer Erklärung“ von 2019. Die hat er gemeinsam mit vielen Kollegen und mehr als 100 Stadtbauräten, Dezernenten und Planungsamtsleitern aus über 85 deutschen Städten formuliert. Aber an der Baunutzungsverordnung geändert wurde bislang noch nichts.

„Sie hören es ja, da wird umgebaut.“
Karstadt hatte schon vor Beginn der Pandemie zugemacht, das Gebäude stand lange leer. In dieser Zeit wurde ein neues Konzept entwickelt. Das wird heute umgesetzt.
„Und das ist auch eine ganz interessante Entwicklung für diese Warenhaus-Standorte. Es wird dann nämlich Einzelhandel geben, aber nicht mehr über alle Etagen, sondern im Erdgeschoss und im Untergeschoss und teilweise im ersten OG. Und darüber wird es geben: Co-Working-Spaces, Büros, darüber wird es geben Wohnungen, Mikroapartments. Da wird es auch Co-Living geben, also ein im Grunde genommen klassisches Wohn- und Geschäftshaus, wie man es eigentlich schon in der ganzen Historie erlebt hat. Unten Läden und oben eine andere Nutzung. Und dagegen haben sich die Immobilieneigentümer viele Jahre mit Händen und Füßen gewehrt. Aber dass es jetzt ein interessantes neues Format ist infolge der Digitalisierung, infolge des Rückgangs des stationären Einzelhandels, das haben die jetzt wiederentdeckt. Und das wird da als Pilot für ein Warenhaus umgesetzt.“
Auch Büros werden hier entstehen. Wie sich der Markt für Büroräume infolge von Home Office entwickeln wird, ist noch nicht abzusehen. Johannes Ringel von der Universität Leipzig rechnet vor allem mit mehr Flexibilität: Modulare Großraumbüros in der Innenstadt, kleinere Filialen oder Co-Working an den Rändern der Stadt oder auf dem Dorf, um Wege zu verkürzen. Das sei auch eine Chance für die Peripherie, lebendiger zu werden, sagt Ringel. In der Leipziger Innenstadt beobachtet er zusammen mit seinen Studierenden seit vielen Jahren, wie sich das Angebot verändert. Lange Zeit hatten hier immer mehr Filialen der großen Konzerne aufgemacht und die ortsansässigen kleinen Händler verdrängt – die Fußgängerzone in Leipzig ähnelte der in anderen Städten. Seit Corona hat sich der Trend umgekehrt, sagt Ringel. Filialen seien geschlossen worden, die Mieten gesunken. Dadurch hätten heute in der Leipziger Innenstadt wieder mehr Geschäfte aufgemacht, die es nur hier gebe, so wie viele Restaurants, Cafés und Kneipen.
„Also wir haben das gerade hier in einer Grimmaischen Straße erlebt. Da sind welche rausgegangen, also Kettenanbieter. Und es tun sich neue Formate auf, die wir vorher in den Innenstädten schon nicht mehr gesehen haben. Die Mieten, da ist ein Druck drauf auf den Mieten; das ist für die Immobilieneigentümer natürlich ein Problem. Und schmerzhaft. Aber es ist natürlich umgekehrt auch die Frage, ob man in Premiumlagen 2-, 300 Euro Miete pro Quadratmeter zahlen muss und ob sich durch die Konsolidierung einfach eine größere Vielfalt auftut, die, wie gesagt, für den Eigentümer ein bisschen schmerzlich ist, aber für den Immobilienbestand insgesamt in den Fußgängerzonen eigentlich eine Bereicherung.“

„Also warum muss eine Altentagesstätte irgendwo sein und nicht in der Fußgängerzone? Warum müssen Kitas irgendwo sein und nicht in der Fußgängerzone? Und wenn man sozusagen öffentliche Serviceangebote in die Innenstadt hineinholt, dann holt man damit ja auch Menschen in die Innenstadt. Und die wiederum sind eigentlich das Potenzial, damit auch Einzelhandel sich wieder etablieren kann.“
Marion Klemme vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung in Bonn teilt diese Meinung. Doch zugleich verweist sie auf die großen finanziellen Probleme, die viele Städte schon vor der Pandemie hatten und die durch die sinkenden Gewerbesteuereinnahmen während der Pandemie nicht kleiner geworden sind.
„Viele Kommunen haben einfach gar nicht die Mittel, selber zum Beispiel aktiv zu steuern, indem sie beispielsweise Immobilien oder Flächen auch selber erwerben, um dann die zukünftige Nutzung da auch selber mit beeinflussen zu können, auch Gemeinwohl orientierte Nutzung eher möglich zu machen in den Innenstädten. Bibliotheken, Musikschulen, wieder öffentliche Einrichtungen dort anzusiedeln. Viele Kommunen haben ein Haushaltssicherungskonzept, und dann ist der Spielraum nicht besonders groß.“
Bund und Länder haben das erkannt und die Kommunen im vergangenen Jahr mit vielen Milliarden unterstützt. Auch in diesem Jahr laufen unzählige Programme, um die Städte trotz Corona handlungsfähig und lebendig zu halten. Burkhard Jung, der Oberbürgermeister von Leipzig, war bis Mitte November Präsident des Deutschen Städtetags und ist seitdem dessen Vizepräsident. Er sieht in den vielen Initiativen und Programmen einen guten Anfang. Die Bundesregierung stehe aber weiterhin in der Pflicht, so Jung, auch nach der Pandemie.
„Wir haben eine klare Forderung auch an die sich abzuzeichnende Ampel-Koalition in Berlin. Wir brauchen mehr Beinfreiheit vor Ort.“
Darunter versteht er zum einen mehr rechtlichen Spielraum: Was das Vorkaufsrecht für die Städte angeht zum Beispiel. Und: Mehr Möglichkeiten gegen die Besitzer von Immobilien vorzugehen, die aus Spekulationsgründen Häuser leer stehen lassen. Er wünscht sich auch einen Fonds für Zwischenkäufe, der es ermöglichte, leere Gebäude zu kaufen, zu entwickeln und dann wieder zu veräußern. Alles in allem aber bräuchten die Städte vor allem kontinuierlich bereitgestelltes Geld:
„Wir fordern ja ein Innenstadtprogramm, weil die Innenstadt in ihrer Struktur in Deutschland und in Europa in der Tat etwas ganz, ganz spezifisches Urbanes ist, was mit der europäischen Stadt verbunden ist. Das gibt es so in Asien, in Amerika gibt es das nicht. Und die nationale Stadtentwicklung, die momentan beim Innenminister angedockt ist, sollte in die Lage versetzt werden, auch solche innenstädtischen Modelle zu unterstützen. 500 Millionen per Anno ist zurzeit der Wunsch, den wir da haben. Das würde zumindest helfen, uns vor Ort in die Lage zu versetzen, mit klugen Konzepten da vorwärtszukommen.“

Bedürfnis nach schönen Räumen und Plätzen
„Was ich sehr bezeichnend fand: dass bereits im ersten Lockdown schon Ideen, Konzepte, Strategien für eine Post-Corona-Stadt auch entwickelt wurden. Ja, also es gibt viele Menschen, die sich auch die Innenstadt anders vorstellen können und wollen und die auch gerne dort aktiv werden, um der Innenstadt vielleicht auch ein neues Gesicht zu verleihen.“
Denn für viele, das hat Marion Klemme festgestellt, ist die Einkaufsstadt, die nur für den Konsum da ist, nicht attraktiv. Gewünscht sei heute eine Innenstadt, die lebt und pulsiert - die für alle da ist, auch wenn sie nicht einkaufen wollen. Für die Stadtforscherin in Bonn wäre dieses Modell einer Innenstadt ein großer Gewinn.