
Als Almodóvar den Film vorstellte, in dem er eigene Erfahrungen mit der katholischen Erziehung verarbeitete, schenkte dem Thema kaum jemand in Spanien große Beachtung. In einem traditionell katholischen Land, in dem das Franco-Regime den sogenannten Nationalkatholizismus mit Gewalt durchsetzte und der Kirche eine Sonderstellung bei der Erziehung zusprach, kamen solche Dinge eben vor.
Politik gibt dem Druck der Öffentlichkeit nach

„Die Kirche war zu keiner Zusammenarbeit bereit. Sie wollte zu den ihr bekannten Fällen nichts sagen. Von den Gerichten wussten wir von 34 nachgewiesenen Fällen aus den letzten Jahrzehnten. Das ist eine lächerliche Zahl. Ich schrieb über diese 34 Fälle mit einer Infografie über jeden einzelnen davon.“
Und am Ende des Textes stand die E-Mail-Adresse der Redaktion. Ein Angebot an weitere Opfer, sich an die Öffentlichkeit zu wenden und ihren Fall zu schildern. „Das hat alles verändert. In einer Woche bekamen wir 300, 400 Zuschriften. Das war eine ganze Welle von Zuschriften und die Zeitung sah, dass das ein großes Thema war und richtete ein Team mit sieben Leuten ein. 2019 war der sexuelle Missbrauch Thema eines Sondergipfels im Vatikan. Wir hatten also bis zum Beginn des Gipfels vier Monate vor uns, mit sehr viel Arbeit, in denen wir versuchten, über so viele Fälle zu berichten, wie nur möglich.“
Kirche nicht zur Zusammenarbeit bereit
„Die Schwierigkeiten sind enorm. Es ist so viel Zeit vergangen. Die Opfer haben ihr Leid niemandem mitgeteilt, nach 40 Jahren sprechen sie zum ersten Mal darüber. Es gibt keine Beweise, nur die Berichte der Opfer. Vor allem, die Kirche will von alldem nichts wissen. Die Anrufe liefen so ab:
„Ich habe hier diesen Bericht eines Opfers, das diesen oder jenen Priester beschuldigt.‘ Und von der anderen Seite kam immer nur: „Nein, davon wissen wir nichts.“ - „Und, werdet Ihr den Fall untersuchen?“ - „Nein.“
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Während die meisten Fälle als verjährt gelten und deshalb von den Gerichten nicht untersucht werden, wurde der Geistliche, der den Sohn von Juan Casanova sexuell misshandelte, zu zwei Jahren Haft verurteilt: „Das war 2008, 2009 und 2010. Es nahm nach und nach zu. Dieser Herr hat meinen Sohn aus dem Unterricht zu sich geholt. Fünf, sechs Stunden in einer Woche. Bei sexuellen Straftätern entwickelt sich das nach und nach.“
Der heute 81-jährige Antonio Carpallo ist Vollwaise. Er und sein Bruder waren fünf und sechs Jahre alt, als ihre Eltern starben. Das Sorgerecht bekam die Großmutter. Als sie neun und zehn Jahre alt waren, vermittelte der Pfarrer ihrer Kirchengemeinde die beiden Jungen an ein Internat der Salesianer Don Boscos in Sevilla. Antonios Berichte aus der Schulzeit bei den Salesianern sind voller Bitterkeit. Wie viele Opfer erinnert er sich nicht nur an sexuellen Missbrauch, sondern auch an die körperliche Züchtigung.
„Du musstest Dich hinknien, die Arme ausgebreitet. In dieser Stellung haben sie Dir dann auf die Hände geschlagen. Die Gewalt war Alltag. Sie schlugen uns im Beichtstuhl. Man erfand dort Sünden. Im Beichtstuhl. Das war schlimm.“
"Ich habe mich wirklich geschämt"
„Sie hatten es leicht. Wenn sie einen Jungen missbrauchen wollten, sagten sie ihm: ‚Hey, Du kommst schon lange nicht mehr zur Beichte.‘ Und sie nahmen ihn dann in eine Ecke des Arbeitszimmers. Aber es wurde nicht viel davon gesprochen. Wem hätte man es erzählen sollen? Wir waren Waisenkinder. Ich hätte meiner Großmutter schreiben können. Aber die Briefe wurden ja gelesen, bevor sie rausgeschickt wurden.“
Später habe er fast niemandem davon erzählt. „Ich habe mich da wirklich geschämt. Man konnte erzählen, dass man verprügelt worden ist. Aber dass sie dich angefasst haben?“
Der Opferrolle nicht bewusst gewesen

Bistum Bilbao leitete Untersuchungsausschuss ein - als eines der wenigen
„Ich fand, der Geistliche sollte dabei sein. Das ist ein junger Mann, wenn er sein Leben seinem Glauben widmen möchte, muss er mir zuhören. Sie waren sehr korrekt, empathisch. Sie fragten, was ich wollte. Ich sagte, ich möchte wissen, wer der Pfarrer war, der mir das angetan hat, wer ihn beaufsichtigt hat, wohin er später kam. Und ich fragte, ob andere Fälle aus dem Sanatorium bekannt sind. Sie antworteten mit nein. Aber der Geistliche sagte: ‚Wenn es einen Fall gab, gab es mehr.‘“
Auch das Bistum Madrid hat vor zwei Jahren eine Anlaufstelle für Opfer eingerichtet. Der spanische Philosophie-Professor Miguel García-Baró betreut das Projekt „Repara“: „Wir hatten hier auch schon den Fall eines Mannes, Opfer eines grausamen Geistlichen, der nach vielen Jahren hierher kam und uns beschimpfen und gleichzeitig umarmen wollte. Einerseits bezeichnete er uns Laien als naiv, auf der anderen Seite war er froh über unsere Arbeit, dass wir ihm zuhörten. Aber die meisten Menschen kommen ohne Vorurteile zu uns, sie wollen, dass ihnen jemand zuhört, ihnen glaubt, ihnen Hilfe anbietet, psychologische, juristische und auch spirituelle Hilfe. Natürlich kostenlos.“
García-Baró hofft, den Opfern in den Räumen der Caritas, die ohne religiöse Symbole dekoriert sind, die Scheu vor einer kirchlichen Beratungsstelle zu nehmen. Mit Erfolg. 103 Menschen hat das Projekt im vergangenen Jahr betreut, 2020 waren es 85. Die Opferberichte führten auch zu Überlegungen, wie in Zukunft sexuellem Missbrauch vorgebeugt werden kann: „Es gibt auch Risiken in der spirituellen Führung, die zur Kontrolle des Gewissens führt. Das muss ein Thema weiterleitender Untersuchungen sein."
Kirche weigert sich, bekannte Fälle mitzuteilen
Und dann adressiert der Leiter der kirchlichen Anlaufstelle die Kirchenführung direkt: „Meine persönliche Meinung ist: Die Kirche sollte sich bei der Sorge um Klarheit, Gerechtigkeit und Nächstenliebe auch in diesem Thema von niemandem überholen lassen. Davon bin ich fest überzeugt.“
Bislang sind die spanischen Bischöfe solchen Forderungen aus den eigenen kirchlichen Reihen nicht nachgekommen. Und auch die Bitte der Tageszeitung El País um Aufklärung habe die katholische Bischofskonferenz bislang ignoriert. Das unterstreicht Redakteur Iñigo Domínguez: „Die Zahlen sind ein großes Problem. Die Kirche hat sich stets geweigert, die ihr bekannten Fällen mitzuteilen. Sie sagen, sie wissen es nicht. Wir haben im April 2021 eine erste Bilanz vorgelegt. Jetzt sind es mehr als 1.200 Opfer und 600 Fälle, also mutmaßliche Täter. Ein Teil von ihnen ist in unserem Bericht zum Thema aufgelistet, es sind 251. Jeder Fall ist ein Beschuldigter.
Staatsanwaltschaft: Taten sind längst verjährt
„Die Kirche will keine Untersuchungskommission, auch keine, die die Bischöfe selbst bestimmen wie in Deutschland oder Frankreich. Den Staat interessiert das auch nicht. Denn, würde diese Regierung eine unabhängige Untersuchung vornehmen, würde von einer Kampagne gesprochen, die sich gegen die Kirche richtet. Aber irgendwas wird geschehen und das Thema wird auf die Agenda kommen. Wir untersuchen das Thema nun schon seit drei Jahren. In drei Jahren sind aus den 34 Fällen, die damals bekannt wurden, weit mehr als zehn Mal so viele geworden.“

„Ich war sehr krank, hatte hohes Fieber. Wir fuhren im Auto, in der einen Hand hatte er das Lenkrad, mit der anderen zog er mir die Hose runter und befummelte mein Geschlecht. Das wechselte er ab mit einer Masturbation mit der Hand in seiner Hosentasche.“
Nur einen Tag nach der Ausstrahlung des Interviews setzt sich Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez mit dem Schriftsteller in Verbindung, eine Woche später treffen sich die beiden. Wenig später kündigt Hector Gómez, Sprecher der Fraktion der regierenden Sozialisten im Parlament, eine Untersuchungskommission an. Sie soll unter der Leitung des Ombudsmanns, dem Bürgerbeauftragten der Regierung, stehen. Der Sozialist Hector Gómez im spanischen Rundfunk:
„Wir müssen etwas unternehmen. Die Gesellschaft ist alarmiert. Dutzende von Fällen werden bekannt. Wir dürfen die Opfer nicht länger allein lassen. Wir wollen eine Untersuchung, die die Privatsphäre der Opfer respektiert. Dies richtet sich gegen niemanden. Auch nicht gegen die katholische Kirche. Ich habe mit dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz mehrmals gesprochen. Es wäre gut, wenn sich die Kirche an dieser unabhängigen Expertenkommission beteiligen würde. Es wäre auch für die Kirche gut, wenn diese Kommission Fälle aufklärt und Lösungen für die Zukunft findet.
"Wir können hoffen, dass die Kirche jetzt ihre Haltung ändert"
„Wir können hoffen, dass die Kirche jetzt ihre Haltung ändert. Ich denke aber, die Bischöfe sehen sich eher im Krieg. Die Mehrheit ist sehr konservativ, sie lehnt Papst Franziskus in dieser Frage ab und empfindet dies als einen Angriff, gegen den sie sich verteidigen muss. Sie sieht in der Untersuchung keine Chance, dass die Wahrheit nun endlich ans Licht kommt. Überhaupt nicht.“
Die Bischofskonferenz hat eine Interviewanfrage zum Thema abgelehnt. Ihre Gremien würden sich nun in der Angelegenheit beraten, heißt es. Unterdessen fordert die Fraktion von Podemos, der linke Koalitionspartner der Sozialisten, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss – der zeitgleich zur von Regierungschef Sánchez vorgeschlagenen Expertenkommission arbeiten soll. Eine Entscheidung darüber ist noch nicht gefallen. Missbrauchsopfer Leonor García begrüßt die Pläne für eine umfassende Untersuchung. Über die katholische Kirche sagt sie:
„Mich macht diese Macht wütend. Die Macht dieser Institution, die wie ein Panzer alles überrollt und die damit einfach weitermacht, wenn wir es ihr erlauben. Im Namen ihres Gottes. Wenn sie wirklich an diesen gerechten Gott glauben, müssten sie eine schreckliche Angst haben.“