Pfadfinder sind die größte Jugendorganisation der Welt. Auch in Deutschland haben sich viele junge Menschen den Pfadfindern angeschlossen. Bei den „Pfadis“ können Kinder und Jugendliche Abenteuer und Gemeinschaft erleben. Zehntausende von ihnen fahren regelmäßig in Zeltlager und lernen, wie sie sich in der Natur und der Gesellschaft zurechtfinden.
Der Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP) hat als erster deutscher Pfadfinderverband eine Studie über das Ausmaß sexualisierter Gewalt unter Pfadfindern in Auftrag gegeben. Nun liegen die Ergebnisse vor.
Wie viele Fälle sexualisierte Gewalt gibt es bei den Pfadfindern in Deutschland?
Der Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP) wurde 1976 gegründet, hat aktuell rund 30.000 Mitglieder und gliedert sich in zwölf Landesverbände. Es ist einer von mehreren deutschen Pfadfinderzusammenschlüssen Es gibt allein fünf große Verbände in Deutschland, die wiederum aus unzähligen Ortsgruppen, sogenannten Stämmen, bestehen.
2021 hat der BdP eine wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben, die das Ausmaß sexualisierter Gewalt unter Pfadfindern ermitteln soll. Zwischen 1976 und 2006 erlebten der Studie zufolge 123 Pfadfinderinnen und Pfadfinder sexualisierte Gewalt. Auch nach 2006 sollen weitere Fälle hinzugekommen sein.
Für die Studie hat das unabhängige Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung betroffene Jungen und Mädchen, Zeitzeugen und Schlüsselpersonen des Verbands interviewt und Akten analysiert.
Die Fälle von sexualisierter Gewalt reichen von verbalen Grenzverletzungen bis hin zu Vergewaltigungen. „Es wurde viel berichtet von Fummeln, also durchaus Hands-on-Handlungen, das heißt mit Berührung. Es wurde viel davon gesprochen, dass Spiele sexualisiert wurden, dass es darum ging, sich auszuziehen, Schamgrenzen zu überschreiten. Bis hin dazu, dass Kinder wirklich sexuell missbraucht wurden und auch Gewalt dazu angewendet wurde“, sagt Studienleiterin Helga Dill.
„Die Täter, die uns beschrieben wurden, sind männlich, in der Regel sehr charismatische Personen, attraktiv auch in dem Sinn, dass sie als Pfadfinder ganz besonders sind, viel organisieren können, geschickt sind, kräftig sind, mutig“, so Dill.
Existieren bei den Pfadfindern Strukturen, die Missbrauch begünstigen?
Zum Pfadfinderleben gehören gemeinsame Ausflüge mit Übernachtung, Zeltlager ohne Eltern, manchmal wochenlang und teilweise ohne erwachsene Begleitpersonen. In einigen Stämmen, so heißen die Ortsgruppen der Pfadfinder, herrsche eine Kultur der Grenzverletzung. Kinder würden nachts allein und nackt in den Wald geschickt, berichtet Studienleiterin Helga Dill.
Gruppendruck, Aufnahmerituale und Mutproben würden es den Kindern und Jugendlichen erschweren, ihre persönlichen Grenzen zu erkennen und zu wahren. „Mutproben erfordern eine Grenzüberschreitung. Damit ist dieses Empfinden, jetzt muss ich Stopp sagen, dann ein bisschen außer Kraft gesetzt.“
Die Soziologin Dill spricht von einer Parallelstruktur: Die Pfadfinder und Pfadfinderinnen verstehen sich als eingeschworene Gemeinschaft und pflegen besondere Regeln und Bräuche wie zum Beispiel das Prinzip „Jugend-führt-Jugend“, bei dem Jugendliche Kindergruppen leiten.
Manche verbringen so viel Zeit bei den Pfadfindern, dass die Gruppe zur Ersatzfamilie werde. Dadurch entstehe eine enge Bindung zu den Tätern. Betroffene könnten von ihrem Stamm als Verräter diffamiert werden, wenn die Täter die respektierten Gruppenleiter sind.
„Wo wir dran zu knabbern haben werden, ist, dass viele unserer pädagogischen Methoden, von denen wir selber sagen, dass sie uns abheben von anderen Jugendverbänden und anderen Pfadfinderbünden, die Dinge sind, die den Weg für sexualisierte Gewalt geebnet haben“, sagt die Vorsitzende des Pfadfinderbunds BdP, Annika Schulz, selbstkritisch.
Wie ging der BdP in der Vergangenheit mit Missbrauchsvorwürfen um?
Schon lange ist bekannt, dass es unter den Pfadfindern sexualisierte Gewalt gibt und gab. Seit 2001 bemüht sich beim BdP ein Arbeitskreis um Prävention. Allerdings seien viele Fälle nicht vernünftig dokumentiert worden. Das ist ein weiteres Ergebnis der nun vorliegenden Studie. In der Vergangenheit sei über Missbrauchsfälle eher geschwiegen worden, statt sie aufzudecken und Täter zur Verantwortung zu ziehen.
Betroffene seien zudem meist allein gelassen worden, wie die Studie zeigt. Das geschah selbst dann, wenn sie den Vorfall beim Pfadfinderbund meldeten. Täter mussten in der Regel keine Konsequenzen fürchten und konnten, wenn sie ihren Stamm verlassen mussten, einfach einen neuen gründen oder den Landesverband wechseln.
Was ändert sich durch die Studie? Welche Präventionsmaßnahmen gibt es?
Missbrauchsstudien sind wichtig, um Betroffenen eine Stimme zu geben. Außerdem schaffen sie ein Bewusstsein für strukturelle Probleme. Das hilft dabei, Präventionsmaßnahmen zum besseren Schutz von Kindern und Jugendlichen zu entwickeln.
Inzwischen bietet der Pfadfinderbund seinen Mitgliedern regelmäßig Schulungen an, in denen über Machtmissbrauch aufgeklärt wird. Es gibt einen Verhaltenskodex für Pfadfinder sowie Vertrauenspersonen, an die sich Betroffene wenden können.
Abhängig vom gemeldeten Vorfall ist nun vorgesehen, dass ein Interventionsteam gebildet wird, dem eine externe Beratungsstelle angehört. Mutmaßliche Täter werden mit ihren Vergehen konfrontiert. Außerdem muss mittlerweile jeder Vorfall dokumentiert werden.
Kulturwandel bei den Pfadfindern notwendig
Problematisch ist nach wie vor, dass die einzelnen Stämme und Landesverbände ganz unterschiedlich mit Missbrauchsvorwürfen umgehen. Häufig seien die Pfadfindergruppen, die meist von Ehrenamtlichen getragen werden, schlichtweg überfordert im Umgang mit Missbrauchsvorwürfen.
„Wir denken oft, wir können die Sachen alleine. Aber das können wir nicht", räumt BdP-Vorsitzende Annika Schulz ein. "Man kann so einen großen Konflikt in vielen, vielen Fällen nicht alleine klären.“
Darüber hinaus fordert Schulz einen Kulturwandel innerhalb ihrer Organisation. Es dürfe nicht sein, dass frühere Stammesgründer, die sexuell übergriffig waren, auf Internetseiten gewürdigt werden.
rey