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Sexualisierte Gewalt
Übergriffe bei DLRG-Ferienfreizeit

Die Kölner Polizei ermittelt gegen einen Betreuer einer DLRG-Ortsgruppe. Auf einer Ferienfreizeit soll der Mann gegenüber den ihm anvertrauten Minderjährigen übergriffig geworden sein. Die DLRG gibt bei dem ganzen Fall kein gutes Bild ab.

Von Andrea Schültke | 12.11.2022
DLRG-Flaggen wehen im Wind.
Auf einer DLRG-Ferienfreizeit soll ein Mann gegenüber den ihm anvertrauten Minderjährigen übergriffig geworden sein. (dpa / picture alliance / Siegfried Kuttig)
Es hätten zwölf schöne Ferientage werden können. Ende Juli, Anfang August reisten 14 junge Rettungsschwimmerinnen und -schwimmer aus Köln nach Spanien. In der Nähe von Barcelona hatte ihr Trainer für die Gruppe ein Ferienhaus angemietet. Wie es scheint, hatte der Mann solche Fahrten jahrelang gezielt im Alleingang organisiert, um sie für seine Zwecke auszunutzen - unter dem Dach der DLRG.
"Er hat einfach generell immer über Sex geredet. Auf der Freizeit in Spanien hat er mir zum Beispiel vorgeschlagen, dass wir miteinander schlafen könnten", berichtet eine der älteren Teilnehmerinnen der Fahrt, wir nennen sie Sophie. Das Ganze habe er so gesagt, dass es wie ein Witz wirken sollte.
"Unfassbar unangenehm" sei das gewesen. "Und solche Witze hat er auch bei anderen Teilnehmern gemacht", beschreibt Sophie in einem Gespräch mit der Fachberatungsstelle Zartbitter. Bei einem persönlichen Treffen hat die junge Frau uns erlaubt, daraus zu zitieren.

Schaffung einer sexualisierten Atmosphäre

Sexualisierte Grenzverletzungen unter dem Deckmantel des Witzes – für Expertinnen wie Traumatherapeutin Ursula Enders von Zartbitter "eine sehr offensive Anmache um abzutesten, ob Jugendliche sich auf so etwas einlassen". Auf diese Weise habe der Mann eine sexualisierte Atmosphäre geschaffen, der sich die Kinder, Jugendlichen und zwei Betreuerinnen kaum hätten entziehen können.
Kein Einzelfall. Zuletzt belegte die Studie „Sicher im Sport“: ein Viertel aller Vereinsmitglieder hat derartige sexuelle Grenzverletzungen erlebt.
Es passiert überall im Sport – auch beim Schwimmtraining und auf Ferienfreizeiten eines Ortsvereins der renommierten Deutschen Lebensrettungsgesellschaft.

Massive Formen sexueller Belästigung

So auch im Sommer 2022 in Spanien. Vor Ort gab es nach Angaben der Kinder gegenüber Zartbitter diverse Grenzverletzungen durch den Betreuer:
"Anmachende Bemerkungen, Berührungen, zu nahe zu kommen, Bewertung des Körpers von einzelnen Jugendlichen. Ein Mädchen hat zum Beispiel auch berichtet, dass er ihre Beine breit gespreizt hat. Angeblich im Rahmen einer Rettungsübung. Und das sind natürlich massive Formen sexueller Belästigung“, beschreibt Ursula Enders, was die Kinder und Jugendlichen ihr in Gesprächen berichtet haben.

Die Gruppe rettet sich selbst

Dann passiert etwas Außergewöhnliches:
Die Gruppe spricht miteinander über das Geschehene, schreibt es auf und ordnet ein: Das sind sexuelle Übergriffe. In der Regel verschweigen Betroffene derartige Übergriffe aus Scham. Wenn überhaupt, sprechen sie erst viel später darüber.
Auf dieser Freizeit in Spanien ist das anders. Eine Gruppe, die sich selbst aus einer Notsituation sexualisierter Gewalt befreit, hat selbst Ursula Enders in ihrer jahrzehntelangen Praxis noch nicht erlebt. Schnell wird klar: Alle wollen zurück nach Hause.
Von dort versuchen die Eltern bereits, auf allen Kanälen jemanden von der DLRG zu erreichen, suchen im Internet nach Notrufnummern:
"Es gab nur Festnetznummern und wir hatten Sonntag. Wer geht sonntags an eine Festnetznummer, die in irgendeinem Vereinshaus steht?", berichtet uns der Vater einer Teilnehmerin, die nicht selbst betroffen, aber Zeugin war. Also schreibt er eine Mail an Bundes- und Landesverband.
Er kündigt an, sollte die DLRG nicht umgehend Kontakt aufnehmen, werde er nach Spanien fahren und die Polizei einschalten.
Auf diese E-Mail meldet sich Ute Vogt, Präsidentin des DLRG-Bundesverbandes mit der Info, der Beschuldigte habe die Anweisung, unverzüglich zu packen und zurückzufahren. Die ganze Gruppe werde am nächsten Tag mit dem Zug nach Deutschland reisen.

Betreuer vorübergehend verhaftet

Entgegen der Zusagen gegenüber der Präsidentin, hält sich der beschuldigte Betreuer aber weiterhin bei der Gruppe auf. Die Eltern, über Dauertelefonate mit ihren Kindern verbunden, kontaktieren den Vermieter des spanischen Ferienhauses. Der informiert die Polizei, der Betreuer wird vorübergehend verhaftet.
Die Polizei befragt die Kinder zu den Vorgängen, zwei müssen mit aufs Revier und dort ihre Aussage machen. Wie die Eltern berichten, haben sie die Rückreise der Kinder in einem Bus selbst organisiert.

"Gehen Sie bloß nicht an die Presse"

Dazu schreibt DLRG-Präsidentin Ute Vogt auf Anfrage von Deutschlandfunk, dem WDR- Magazin "Sport inside" und Süddeutscher Zeitung, sie habe bezüglich der Rückreise im Bus "sofort mit dem Ansprechpartner, einem Reisekoordinator, Kontakt aufgenommen. Ebenso stand ich dann in Kontakt mit dem durchführenden Reisebüro und habe zugesagt, dass wir die Kosten der Rückreise übernehmen werden. Daraufhin wurde mir wiederum zugesagt, dass die Rückreise klargeht".
Bei der Ankunft des Busses in Köln sind Ursula Enders und Philipp Büscher von Zartbitter vor Ort. Die DLRG hatte die Fachberatungsstelle gegen sexuellen Missbrauch von Mädchen und Jungen um Unterstützung gebeten. Auch vom DLRG-Landesverband sind Personen anwesend. Ein Vater beschreibt die Situation so:
"Als die Kinder frisch aus dem Bus ausstiegen - in dieser Angstsituation - war das Erste, was dieser Mensch von der DLRG gesagt hat: 'Gehen Sie bloß nicht an die Presse, das ist das Schlechteste, was Sie machen können.' Damit wurden wir begrüßt. Hat nicht funktioniert."

Bereits zuvor Beschwerden

Eltern und Kinder erklären übereinstimmend, sie möchten ihre Erfahrungen auf der Ferienfreizeit der Öffentlichkeit mitteilen, um ähnliche Vorfälle in Zukunft zu verhindern.
Auch, weil inzwischen bekannt wird: Es hat bereits in den Jahren zuvor zwei Beschwerden über grenzüberschreitendes, sexualisiertes Verhalten des Betreuers gegeben. In einem Fall hat laut DLRG eine Bezirksleiterin mit dem Betreuer geredet. "Außerdem wurde zurückgemeldet, dass man weiterhin 'ein Auge' auf die Situation habe“, schreibt uns der Präsident des Landesverbandes Nordrhein.
Im Fall 2021 habe die Informantin um Vertraulichkeit gebeten. Dementsprechend wurden "Funktionsträger im Landesverband, im Bezirk oder der Ortsgruppe nicht informiert". So konnte der Betreuer weiterhin unter dem Dach der DLRG mit Kindern und Jugendlichen arbeiten.
Nach Bekanntwerden der Übergriffe in Spanien habe die DLRG zu Zartbitter Kontakt aufgenommen, berichtet Ursula Enders und erhebt dann schwere Vorwürfe:
"Ich habe den Eindruck, wir sind gerufen worden, um das Image der DLRG aufzuwerten, nach dem Motto 'Wir kooperieren', 'wir machen was‘. Aber inhaltlich hat die DLRG überhaupt nicht kooperiert und sie hat die gesamte Zusammenarbeit immer nur genutzt, um es zu ihrem Vorteil zu drehen und ist auf die Bedürfnisse und Anliegen der Kinder und Eltern nicht eingegangen."
Bis heute habe sich die DLRG nicht erkundigt, wie es den Teilnehmenden der Fahrt und ihren Eltern gehe.
Eine der älteren Betroffenen schildert gegenüber Zartbitter, gerade in den ersten Tagen nach der Ankunft sei sie stark belastet gewesen: „Ich hatte den Drang, mich permanent zu waschen und zu desinfizieren.“

"Die haben Seelen zerstört"

Das beherzte Handeln der Mädchen und Jungen während der Ferienfreizeit hat etwas bewirkt:
Auf der Internetseite des DLRG-Bundesverbandes gibt es mittlerweile eine Rufnummer für Notfälle. Zudem soll es unter anderem verbindlichere Vorgaben für Ferienfreizeiten geben, weitere Präventionsschulungen, mehr Ansprechpersonen. Das Thema Prävention sexualisierter Gewalt solle in den Ortsgruppen stärker verankert werden, schreiben Bundes- und Landesverbandes auf unsere Anfrage. Die Verantwortlichen der betroffenen Kölner Ortsgruppe sind nicht mehr im Amt. Gegen den Betreuer wurde Anzeige erstattet. Eine Gelegenheit zur Stellungnahme ließ dieser ohne Antwort verstreichen.
Was die abgebrochene Ferienfreizeit der Kölner Ortsgruppe angeht, urteilt dieser Vater: "Ich habe der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft unglaubliches Vertrauen geschenkt, das ich ihr jetzt komplett entziehe".
Am Ende des Gesprächs sagt er noch: "Ich dachte der Name wäre Programm, aber es ist das Gegenteil passiert. Die haben Seelen zerstört".
Hilfe und Beratung gibt es beim "Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch", Telefon 0800 - 2255530 oder bei der Initiative "Anlauf gegen Gewalt" von Athleten Deutschland, Telefon 0800 - 9090444