Protestkultur Musik und Kunst als Durchlauferhitzer
Bands veranstalten ein Konzert gegen Rassismus in Chemnitz, das 65.000 Besucher zählt. Ein Kabarettist schreibt ein Protestlied zum Hambacher Forst, wo sich Tausende zum Waldspaziergang treffen. Wenn sich Künstler Protesten anschließen, habe das eine wichtige Funktion, sagte der Soziologe Simon Teune im Dlf.
Simon Teune im Corsogespräch mit Sigrid Fischer | 02.10.2018
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Kerpen Buir DEU 30 09 2018 Waldspaziergang Demonstration im Hambacher Wald Hambacher Forst Foto (imago stock&people)
Hambach ist schon lange kein Ortsname mehr, Hambach steht für politischen Protest, für den Kampf zwischen dem vermeintlich Guten gegen das vermeintlich Böse. Hambach steht auch für das Paradox, dass einerseits an einer Kohleverstromungsausstiegsstrategie und gleichzeitig an der weiteren Kohleverstromung gearbeitet wird, mit der Abholzung der letzten 200 Hektar Hambacher Forst, in der Protestszene auch "Hambi" genannt. Zu Solidaritätsaktionen wie sonntägliche Waldspaziergänge und die Groß-Demo nächsten Samstag gehören auch künstlerische Aktionen: die Liedermacherin Dota Kehr ist mit Band vor Ort aufgetreten, der Kabarettist Bodo Wartke hat ein vielgeklicktes Lied geschrieben. Ein Fotograf hat todgeweihte Bäume portraitiert. Vor vier Wochen haben auch Künstler in Chemnitz ein Zeichen gegen Rassismus gesetzt, mit dem Konzert #WirSindMehr.
David gegen Goliath
"Ein Wald mit Symbolgehalt", singt Bodo Wartke in seinem Protestsong. Tatsächlich gehe es auch um mehr als um diesen Wald, es gehe um das große Ganze, um den Klimawandel, sagte der Soziologe Simon Teune vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung im Dlf. In diesem Konflikt könnne man sich relativ leicht auf eine Seite stellen, die Konstellation: Leute auf den Bäumen werden von der Polizei weggeräumt habe etwas von "David gegen Goliath", so etwas funktioniere bei Protesten immer sehr gut.
Bodo Wartke im Hambacher Forst (Foto von Bodo Wartke)
An manchen Protesten würden auch größere Probleme sichtbar, bei Stuttgart21 sei das etwa die Frage gewesen, wie unsere Demokratie aussehen solle, ob die Regeln starr befolgt werden sollten oder ob Bürgerpartizipation groß geschrieben werde. Das sei in Hambach jetzt auch wieder so.
Klimawandel sei zwar ein komplexes Thema, aber hier habe man es geschafft, ein konkretes Beispiel dafür zu finden, was falsch laufe und wie es anders laufen könne. Damit könne man viele Leute mobilisieren und man könne davon ausgehen, dass am 6. Oktober viele Leute auf der Straße sein werden.
Wenn Künstler sich den Protesten anschließen, habe das eine wichtige Funktion, in Chemnitz zum Beispiel sei der Auftritt der Bands eine symbolische Aneignung des Raumes gewesen, um zu sagen: "Wir wollen eine bunte Stadt, wir wollen denen Raum geben, die gegen Rassismus sind."
Die Wirkung digitaler Protestformen sei schwer feststellbar. Onlineprotest sei eine wichtige Ergänzung zum Straßenprotest, es sei ein Form, seine Meinung auszudrücken. Und das könnten auf diesem Wege mehr Leute tun, nicht jeder könne montatelang im Baumhaus ausharren.
Andere Wahrnehmung als früher
Der Soziologe Simon Teune, Mitbegründer des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (Foto von Ulrich Dahl)
Seit Wackersdorf in den 80er-Jahren hätten sich die Protestformen nicht sehr verändert. Was im Hambacher Forst geschehe, erinnere schon sehr an das, was damals in der Anti-Atombewegung stattgefunden habe. Leute setzten sich auf den Platz, der anders genutzt werden soll und stellten sich so dagegen. Verändert habe sich aber unsere Wahrnehmung von Protest. Blockaden seien in den 60er-, 70er-Jahren als Gewalt wahrgenommen worden, heute seien es mehr oder weniger ein legitimes Mittel, sich vor einen Castortransport zu setzen oder vor eine Neonazidemonstration. Auch die Medienberichterstattung würde das heute anders aufnehmen.
Wir haben noch länger mit Simon Teune gesprochen – hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.