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Vor 100 Jahren in den USA
"The Wolf" - der Beginn der Goldenen Ära des Radiohörspiels

Es ist ein Stück Rundfunkgeschichte: Vor 100 Jahren präsentierte ein kleiner Sender im US-Bundesstaat New York eine Radiofassung des Theaterstücks „The Wolf“. Die Inszenierung, an der neben den Schauspielern auch Geräuschemacher und Musiker mitwirkten, gilt als das weltweit erste Hörspiel.

Von Christian Blees |
Eine Frau sitzt 1922 in einem Sessel und hört Radio.
Der Wunsch nach immer neuen Hörspielen breitete sich aus wie ein Lauffeuer nachdem "The Wolf" veröffentlicht wurde (picture alliance / Photo12/Archives Snark)
Donnerstag, der 3. August 1922. Die Rundfunkstation WGY im Städtchen Schenectady im US-Bundestaat New York präsentierte um viertel vor acht Uhr abends zunächst einige Takte Musik, bevor der eigentliche Höhepunkt des Programms anstand: ein Hörspiel mit dem Titel "The Wolf". Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Publikum des damals noch jungen Mediums Radio neben Nachrichten, Wetterberichten und Börsenkursen in Sachen Unterhaltung außer Musik lediglich kurze Sketche zu hören bekommen.
„Ein Schauspieler namens Edward H. Smith, der einer lokalen Schauspieltruppe vorstand, hatte eine Idee: ‚Lasst uns anstelle kurzer Sketche doch mal ein komplettes Stück aufführen", so Craig Wichman, Experte für US-amerikanische Rundfunkgeschichte und Leiter der New Yorker Hörspielgruppe „Quicksilver Radio Theater“.

"Nicht länger als 40 Minuten"

„Also wandte er sich an den damaligen Manager der Radiostation, einen Mann namens Colin Hager. Der sagte: ‚Das ist eine gute Idee. Lass‘ es uns mal versuchen. Allerdings darf das Ganze nicht länger dauern als 40 Minuten.‘ Er befürchtete, dass die Zuhörer sonst abschalten würden. Also kürzte Smith die Theatervorlage geschickt zusammen, indem er den Kern des zweiten Akts im Wesentlichen beibehielt und aus dem ersten und dritten Akt jeweils nur das Allernötigste übernahm.
Bei "The Wolf" handelte es sich um eine Adaption des gleichnamigen Theaterstücks von Eugene Walter aus dem Jahr 1908. Darin vermacht ein reicher kanadischer Holzhändler seinem Sohn Jules ein ansehnliches Vermögen. Doch noch auf dem Sterbebett beichtet der Vater, dass es noch einen weiteren Erben gibt: eine Halbschwester, die er 20 Jahre zuvor mit einer Indigenen gezeugt und zur Adoption freigegeben hat. Daraufhin gelobt Jules, das Mädchen ausfindig zu machen und am gemeinsamen Erbe zu beteiligen. Allerdings muss er schon bald erfahren, dass die junge Frau unter grausamen Umständen ums Leben gekommen ist. Nun setzt Jules alles daran, den Tod seiner Halbschwester zu rächen.
„Das Stück wurde erstaunlicherweise auf sehr ähnliche Weise produziert, wie es heute noch bei Radiohörspielen üblich ist. Auf Fotos sieht man beispielsweise einen Mann an einem großen, mit Leinwand bespannten Rahmen stehen, der beim Drehen Windgeräusche erzeugte. Ein Blech, das man schütteln konnte, wurde Donnerblech genannt. Im Studio standen die Schauspieler mit ihren Manuskripten in der Hand am Mikrofon, während die Toneffekte gleichzeitig live eingespielt wurden. Das Ganze war ein riesiger Erfolg."

"Der einzige Lichtblick in ihrer Eintönigkeit"

Nach der Ausstrahlung von "The Wolf" erreichten die Radiostation mehr als 2.000 begeisterte Zuschriften. Eine Zeitung urteilte über das Hörspiel: „Wer imstande ist, jederzeit eine Theatervorstellung zu besuchen, dem wird das Bild fehlen, um der Geschichte die volle Wirkung zu geben. Gerade auf dem Land gibt es aber Tausende, viele davon blind oder invalide, für die die Unterhaltung aus dem Radio der einzige Lichtblick in ihrer Eintönigkeit ist.“
Der Erfolg von "The Wolf" ermunterte den Manager der Radiostation dazu, gleich eine ganze Serie weiterer Hörspiele in Auftrag zu geben. So kamen die WGY-Hörer ab Herbst 1922 in den Genuss von mehr als drei Dutzend zusätzlichen, ebenfalls 40 Minuten langen Radio-Adaptionen. Sie alle basierten auf mehr oder weniger bekannten Theaterstücken.

Goldenes Zeitalter des US-amerikanischen Rundfunks

Die neuartige Hörspielreihe sollte landauf, landab schon bald zahlreiche Nachahmer finden. „Radiohörspiele wurden auf einen Schlag unglaublich populär. Egal, ob zehn, fünfzehn, zwanzig oder vierzig Minuten lang: Die Leute liebten es. Darum gingen ab Mitte der Zwanzigerjahre immer mehr Radiostationen dazu über, ebenfalls Hörspiele zu produzieren. Die Hörer schrieben an die Sender: ‚Gebt uns mehr davon! Wir wollen nicht länger nur Nachrichten, Börsen- und Landwirtschaftskurse hören'."
Der Wunsch nach immer neuen Hörspielen breitete sich quasi aus wie ein Lauffeuer. Die Übertragung von "The Wolf" entpuppte sich letztlich als Initialzündung für das, was heutzutage als das Goldene Zeitalter des US-amerikanischen Rundfunks bezeichnet wird: Jene Phase, in der das Radio zum festen Bestandteil der täglichen Familienunterhaltung gehörte und in der ein einziges Hörspiel bis zu 60 Millionen Zuhörer erreichte.
Erst, als sich das Fernsehen Anfang der 1960er-Jahre endgültig durchzusetzen begann, sollte sich die Hochphase des Hörspiels in den USA ihrem Ende zuneigen.