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Wein im Judentum
Reben, Rausch und Ritus

Sich zu betrinken, ist im Judentum verpönt. Zugleich wird bei der Schabbatfeier Wein getrunken. Das gehört zum Ritual. Schon in der Bibel sind ausführliche Warnungen, aber auch Empfehlungen zu finden, was den Weingenuss betrifft. Schlomo Hofmeister kennt sie. Denn er ist Rabbiner – und zugleich Weinproduzent.

Von Tobias Kühn | 12.01.2022
Ein Weinkelch, Kerzen, ein Horn, eine Schriftrolle und ein Laib Brot
Der Wein ist fester Bestandteil des jüdischen Ritus (imago images/Shotshop)
"Wein ist ein schmackhaftes Getränk, das ich persönlich gerne konsumiere – in Maßen", sagt Schlomo Hofmeister. Er ist Rabbiner und Weinproduzent in Wien. "Es ist etwas, das mir schmeckt, was gerade als Begleitung zum Essen angenehm ist. Ich trinke eigentlich nur Wasser und Wein."
Und als Theologe ergänzt er: "Unsere Weisen im Talmud betonen die Bedeutung von Wein – auch des Trinkens – aber warnen immer wieder davor, zu viel zu trinken! In Maßen ist es in Ordnung, aber nicht zu viel! Denn das Berauschen, das Betrinken, ist gemäß der jüdischen Ethik, gemäß dem jüdischen Recht, nicht erlaubt. Man soll sich nicht betrinken."
Aber wie so oft bestätigen auch hier Ausnahmen die Regel: Denn am jüdischen Fest Purim ist der Weinrausch geradezu erwünscht. "Es geht hier nicht um das Berauschen, das Beschickern um seiner selbst willen, sondern es geht hier darum: Wer sind wir wirklich?"

"Wenn der Weinbau gelingt, dann gelingt auch alles andere"

Wein kommt im Judentum seit jeher eine besondere Bedeutung zu: An jedem Fest, ja sogar an jedem Schabbat gehört auch Wein auf den Tisch. Als ein Grund dafür gilt, dass Wein – neben Getreide und dem Ölbaum – zu den ältesten Kulturpflanzen der Welt gehört. So spielt Wein in vielen alten Kulturen eine besondere Rolle – auch im Judentum: als Lebensmittel, in der Wirtschaft, in der Religion. Bereits seit der Antike hat Wein eine tiefe spirituelle Bedeutung. Er ist ein rituelles Getränk.
Den Beginn des Weinbaus schreibt die biblische Tradition Noah zu. Als das Land nach der Sintflut wieder trocken war und Noah seine Arche verließ, habe er als erstes einen Weinberg angelegt. Das 1. Buch Mose will sagen: Noah möchte die Erde kultivieren. Denn der Weinstock gilt in der rabbinischen Tradition als kleinster Baum. Noahs erste Traubenernte nach der Flut ist deshalb Symbol des Neubeginns und eines neuen Segens, sagt Andreas Lehnardt, Professor für Judaistik an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz:
"Wenn das gelang, den Wein wieder zu ziehen, dann war eigentlich auch alle andere Ernte garantiert. Das zeigt, dass im Grunde die sensibelste Pflanze unter den Ackerpflanzen stellvertretend ist für die Möglichkeit, überhaupt wieder nach einer großen Katastrophe eine geordnete menschliche Kultur zu schaffen. Wenn der Weinbau gelingt, dann gelingt auch alles andere."

Der Teufel im Weinberg

"Der Wein erfreue des Menschen Herz" - so heißt es in den Psalmen. Doch wusste man seit alten Zeiten auch um die Gefahr des Weins: Zu viel zu trinken, kann folgenschwer sein, heißt es weiter im 1. Buch Mose: "Und Noah begann, von dem Wein zu trinken – und wurde berauscht."
Diese knappe Erzählung wurde später bildreich ausgedeutet. Es ist niemand Geringerer als der Teufel selbst, der seine Finger im Spiel haben soll, als Noah seinen Weinberg anlegt. In einem Midrasch, einer rabbinischen Tora-Auslegung aus dem 5. Jahrhundert, ist zu lesen:
"Als Noah sich anschickte, einen Weinberg zu pflanzen, stand plötzlich der Satan vor ihm.
'Was pflanzt du da?' – 'Einen Weinberg.'
'Was ist das Besondere daran?' – 'Seine Früchte sind süß, ob frisch oder trocken, und man macht Wein daraus, der die Herzen erfreut.'
Da sagte der Satan: 'Lass uns zusammen den Weinberg bewirtschaften!'
Und Noah sagte: 'Wohlan!'

Da brachte der Satan ein Schaf herbei und tötete es unter dem Weinstock. Danach brachte er einen Löwen herbei und tötete ihn. Danach brachte er ein Schwein herbei und tötete es. Danach brachte er einen Affen herbei und tötete ihn, und er versprengte ihr Blut auf jenem Weinberg.

Das heißt: Bevor ein Mensch Wein trinkt, ist er unschuldig wie ein Lamm. Trinkt er mit Maß, ist er ein Held wie ein Löwe und sagt, dass es wie ihn niemanden auf der Welt gäbe. Trinkt er jedoch mehr, wird er zum Schwein. Berauscht er sich, wird er zum Affen, der in der Öffentlichkeit tanzt, schändliche Reden führt und nicht weiß, was er tut. Dies alles geschah Noah, dem Gerechten. Und wenn es sogar ihm geschah, dem Gerechten, um wie viel mehr dann allen übrigen Menschen!"

Weltliche Verlockungen

Die jüdischen Gelehrten der Antike sahen in Noah das Symbol für den Missbrauch von Wein, sagt der Wiener Rabbiner Schlomo Hofmeister. Er sitzt an Sukkot, dem größten jüdischen Freudenfest, in seiner Laubhütte im Hof hinter seiner Wohnung in der Wiener Leopoldstadt.
"Noach war der spirituell hingegebene Mensch: Er hat an der Arche gebaut, er war der Zaddik seiner Generation. Und in dem Moment, wo er das überwunden hat, hat er sich dem Materiellen hingegeben, dem Wein, und hat sich betrunken. Und das ist etwas, was in der Tora nicht durch Zufall hier an dieser Stelle gebracht wird. Einerseits als Warnung: Es kann jedem passieren, wir sollen alle aufpassen, nicht über die materiellen Verlockungen zu stolpern. Aber es wird auch zum Ausdruck gebracht, dass der Wein etwas Positives hat – aber eben auch einen negativen Aspekt haben kann, wenn er missbraucht wird."
Eine Litographie aus dem 19. Jahrhundert (basierend auf einer Gravur aus dem 16. Jahrhundert) ziert die Seiten einer französischen Bibel. Zu sehen ist Noah, der trunken am Boden liegt. Seine Söhne Shem, Ham und Japhet bedecken ihn mit einem Mantel.
Noah liegt sturzbetrunken und entblößt auf der Erde - seine Söhne bedecken ihn (imago/Leemage)
Auch der biblische König Salomon soll schon vor 3000 Jahren gesagt haben: "Der Wein macht zum Spötter. Das starke Getränk macht wild. Und keiner, der sich damit berauscht, wird weise."
Vor dem Genuss von Wein warnt auch die vor rund 2000 Jahren entstandene jüdische Weisheitsschrift aus der Kairoer Geniza: "Der Betrunkene scheut sich nicht vor dem Herrn, und die den Herrn fürchten, verachtet er. Der Trunkene lernt keine Erkenntnis, und diejenigen, die Zucht annehmen, verwirft er. Das Werkzeug des Toren sind Wein und Trunkenheit, und unter ihrem Einfluss erweist er sich als stark."
Und der Arzt und Rabbiner Maimonides, der im 12. Jahrhundert in Ägypten lebte, warnte ebenfalls vor übermäßigem Weingenuss. Er empfahl, Wein nur zum Essen zu trinken, denn da sei er medizinisch förderlich: "Trinkt der Weise Wein, so geschehe es nur, um die Speisen in den Eingeweiden zu erweichen. Berauscht er sich, so sündigt er und bringt sich um seine Achtung und Weisheit."

"Ich kaufe die Trauben und verarbeite sie eigenhändig"

Trotz dieser Warnungen vor den Gefahren, die vom Wein ausgehen können, produziert der Wiener Rabbiner Schlomo Hofmeister seit vielen Jahren selbst Wein, Rotwein: einen koscheren Cabernet Merlot. Angefangen hat er während seines Studiums in Jerusalem.    
"Wir haben in der Jeschiwa, in der Talmud-Akademie, jedes Jahr Trauben gekauft auf dem Markt und haben sie dann zu Wein verkeltert, einfach in unserer Küche in der Jeschiwe. Und als ich nach Österreich gezogen bin, habe ich gesehen, es gibt hier auch sehr guten Wein, es gibt hier sehr gute Böden mit vielen, vielen Weinbergen. Und ich habe gedacht: Das kann ich hier doch auch machen! Hab mich dann an verschiedene Winzer gewandt und versucht, herauszufinden: Wo könnte ich denn Trauben erwerben, und dann auch die Kooperation der Winzer natürlich, dass sie mir diese Trauben am Erntetag verkaufen, auch dort die Gelegenheit dann geben, die Trauben einzumaischen, den Wein gären zu lassen und zu lagern."
Südöstlich von Wien, im Burgenland, einer der bedeutendsten Weingegenden Österreichs, fand Schlomo Hofmeister einen Winzer, eine traditionelle Weinbauern-Familie. Auf deren Hof produziert er seit zwölf Jahren seinen koscheren Wein.  
"Dort habe ich einen kleinen Schuppen mit meinen Geräten, die ich brauche, eben den Rebler – das ist die Maschine, in die man die Trauben hineinwirft, die dann die Trauben zerquetscht und in den Tank pumpt –, meinen eigenen Tank, Lagerbehälter, und dort mache ich meinen Wein. Ich kaufe die Trauben vom Weinbauern und verarbeite diese dann eigenhändig ohne fremde Hilfe selbstständig zu dem Wein."
Ein Blick aus den Weinbergen auf die Gemeinde Winden am See im Burgenland - im Hintergrund ist der Neusiedler See zu sehen
Im Burgenland wächst guter Wein (imago/imagebroker)
Er maischt die Trauben am Erntetag ein, sie fangen an zu gären, auf natürliche Art und Weise, ohne Zusätze – damit der Wein später als koscher gilt. Dann schließt Schlomo Hofmeister den Schuppen ab und fährt nach Hause, nach Wien. Vier bis sechs Wochen später kehrt er ins Burgenland zurück und schaut, was aus dem Wein geworden ist. Er pumpt ihn in einen Lagertank. Dort setzt sich der Wein noch einmal ein paar Wochen lang. Im Winter dann füllt Hofmeister den Wein in Eichenfässer und lässt ihn zwei bis drei Jahre darin reifen.
Aus den vier Tonnen Trauben, die der Rabbiner jedes Jahr beim Winzer kauft, entstehen auf diese Weise rund 3000 Liter koscherer Wein. 
"Bisher hat's immer funktioniert. Es ist nie Essig geworden, es ist nie ein unangenehmer Geschmack entstanden, sondern immer ein sehr guter Wein, auf ganz natürliche Art und Weise."

Wann ist ein Wein koscher?

Dass ein Rabbiner Wein keltert, erscheint ungewöhnlich. Doch schon in der Antike gab es Rabbiner, die Wein produzierten, und auch heute kommt es immer wieder vor.   
"Es gibt schon einige, die das machen – also ich bin nicht der einzige. Es ist mit einem minimalen Arbeitsaufwand verbunden und mit einer großen Ausbeute. Natürlich kann man in allen koscheren Lebensmittelgeschäften koschere Weine kaufen. Die kommen aus aller Welt: sind französische, italienische, spanische und auch israelische Weine. Aber den eigenen Wein herzustellen, ist doch nochmal etwas Anderes, und auch von der Qualität kann er durchaus mithalten mit den Qualitätsweinen, die importiert werden."
Damit ein Wein als koscher gilt – als "rituell rein" im jüdischen Sinne –, muss er gewisse Voraussetzungen erfüllen: Die erste Traubenlese darf nicht vor dem vierten Jahr nach der Anpflanzung erfolgen, und der Anbau von anderen Früchten oder gar Gemüse auf dem Weinberg ist verboten.
Auch im Keller gelten feste Regeln: Alle Gefäße, Werkzeuge oder Materialien, die man bei der Weinerzeugung verwendet, dürfen nur für die Herstellung koscherer Produkte benutzt werden. Außerdem ist der Einsatz von Enzymen und Bakterien verboten – nur Wildhefen, die an der Traube natürlich vorkommen, dürfen die Fermentation in Gang setzen. Darüber hinaus dürfen dem Wein keine sogenannten Schönungsmittel wie Gelatine oder Kasein zugesetzt werden. Und am Ende muss der Winzer ein Prozent des erzeugten Weins den Armen geben oder es wegschütten – dies geschieht in Erinnerung an den Zehnten, den man früher im Tempel abliefern musste.
Der Rabbiner Schlomo Hofmeister bei einer gemeinsamen Erklärung der Religionsgemeinschaften zum Ethik- und Religionsunterricht an österreichischen Schulen am 07. Juni 2021
Rabbi Schlomo Hofmeister trinkt nicht nur gerne Wein - er macht ihn sogar selbst (imago images/photonews.at)
Wein ist für Juden wie Schlomo Hofmeister nicht nur eine Begleitung zum Essen – sondern auch ein rituelles Getränk. Deshalb müssen, anders als bei Bier oder anderen Getränken, beim Keltern alle Arbeitsschritte der Halacha entsprechen, dem jüdischen Religionsgesetz. Dazu gehört, dass nur diejenigen koscheren Wein produzieren dürfen, die den Schabbat halten.
Damit all diese und noch weitere Regeln befolgt werden, wird koscherer Wein unter der Aufsicht eines Rabbiners hergestellt. Im Falle von Schlomo Hofmeister ist er, der Wein-Produzent, selbst dieser Aufseher. Sein Siegel steht auf dem Etikett einer jeden Flasche.  
"Den Wein trinke ich natürlich nicht selbst. Ich trinke einen kleinen Teil davon. Der meiste Anteil dieser Flaschen wird verkauft in den Geschäften, er wird auch verschenkt, er wird als Spende gegeben. Eine jüdische Familie braucht jeden Schabbes mindestens eine Flasche Wein. Zu den Feiertagen wird noch mehr Wein konsumiert."

Ein Symbol für das Leben

Das zeigt – trotz der Warnungen von Salomon oder Maimonides: Wein und jüdisches Leben gehören zusammen. Deshalb mag es kein Zufall sein, dass sich viele jüdische Familiennamen auf Wein beziehen: wie Weinstock, Weinreb, Weintraub oder Weinberg.
Der Wein begleitet im Judentum die festlichen Anlässe: neben dem wöchentlichen Schabbat, dem Pessachfest, Purim und den anderen Feiertagen auch Feste im Lebenszyklus wie Beschneidungen und Hochzeiten. Zu all diesen Anlässen wird über den Becher Wein eine Bracha gesprochen, ein Segensspruch:
"Baruch ata Adonaj, Eloheinu, Melech haOlam, Bore pri hagefen."
("Gepriesen seist Du, Ewiger, unser Gott; Du regierst die Welt. Du hast die Frucht des Weinstocks geschaffen.")
Der Wein wird aber nicht als solcher gesegnet, sondern es wird lediglich über einen Becher Wein ein Segen gesprochen – ein feiner Unterschied.
"Wir haben im Hinterkopf, dass es eben nicht der Wein ist, der einfach so an der Rebe wächst, sondern das Produkt, das wir durch unser konstruktives Zutun dann erst zu diesem Wein machen konnten. Der Wein ist Symbol für das Leben schlechthin. Er drückt die überbordende Lebensbejahung des Judentums aus. Und so lautet der Trinkspruch auf Hebräisch: 'LeChajim!' – 'Auf das Leben!'"   

Trankopfer haben eine lange Tradition

Wein in religiösen Riten zu verwenden – das gibt es nicht nur im Judentum, sondern auch in anderen antiken Religionen. Im Altertum wurden rings um das Mittelmeer in den Tempeln und Heiligtümern, wo Tiere geopfert wurden, auch Trankopfer oder Gussopfer dargebracht, sogenannte Libationsopfer. Die Tora beschreibt, wie die Israeliten opfern sollten.
"Am Heiligtum gieß als Trankopfer für den Herrn berauschendes Getränk aus! Am Schabbat aber nimm zwei fehlerlose einjährige Lämmer, dazu als Speiseopfer zwei Zehntel Feinmehl, das mit Öl vermengt ist, sowie das dazugehörende Gussopfer."
Der Mainzer Judaist Andreas Lehnardt erklärt, dass die Israeliten bereits vor mehr als 3300 Jahren in Tempeln Wein als Gussopfer verwendeten. Später wurde dies dann offenbar auch im Jerusalemer Tempel so gehandhabt.
"Das sind Riten, die wahrscheinlich in vorisraelitische Zeit zurückgehen, die also gar nicht so sehr spezifisch jüdisch sind, sondern die man aus der Umwelt aufgenommen hat, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass natürlich alle landwirtschaftlichen Produkte letztendlich ein Treuebeweis Gottes sind, der die Ernte solcher Früchte ermöglicht. Und dies brachte man durch solche Gussopfer zum Ausdruck. Man sieht das ja auch in Ägypten beispielsweise. In der altägyptischen Religion spielt der Wein auch schon eine große Rolle. Er wird auch dort im Kult rituell genossen oder ausgegossen. Auch in der römischen Religion ist das ja dann üblich, dass Gussopfer den verschiedenen Gottheiten dargebracht werden, insbesondere Bacchus."
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Unter dem Einfluss von Wein kommt manchmal auch die Wahrheit ans Licht. Das wussten offenbar nicht erst die alten Römer. Rabbiner Schlomo Hofmeister glaubt, dass diese Erkenntnis auf eine jüdische Weisheit zurückgeht.
"Der alte römische Spruch 'In vino veritas' ist eine Abwandlung des talmudischen Satzes 'Nichnas Jajin, joitzes Sod.' – 'Wenn Wein hineinkommt, kommt die Wahrheit oder das Geheimnis heraus.' Wenn wir Wein trinken, löst sich die Zunge, wir sind vielleicht nicht mehr so in unserer Selbstkontrolle. Manchmal ist das gut – manchmal ist das schlecht."

Charaktertest an Purim

Gut soll es an Purim sein, einer Art jüdischem Karneval, bei dem man sich – einmal im Jahr – berauschen soll. An jenem Tag wird gefeiert, dass das jüdische Volk nicht dem persischen Regierungsbeamten Haman zum Opfer gefallen ist, sondern überlebt hat.
Der Tradition nach war jener Haman vor 2500 Jahren der höchste Beamte des Perserkönigs und wollte alle Juden vernichten. Ein weiser Mann namens Mordechai rief daraufhin die jüdische Bevölkerung zu Umkehr und Gebet auf. Seine Cousine, die jüdische Königin Esther, fädelte Hamans Sturz ein. So wurde das jüdische Volk gerettet. Aus Freude darüber soll man jedes Jahr an Purim so viel trinken, bis man nicht mehr unterscheiden kann zwischen den Aussagen "Verflucht sei Haman!" und "Gesegnet sei Mordechai!" – wie es in einem Purimlied heißt.
Bürger feiern im März 2018 in den Straßen von Tel Aviv das Purim-Fest
An Purim dürfen Juden sich im Einklang mit den Religionsgesetzen dem Rausch hingeben (imago / Sergey Orlov)
Während viele jüdische Gelehrte zu allen anderen Anlässen vor dem Weinrausch warnen, ist er zu Purim also ausdrücklich erwünscht. Aus Sicht von Rabbiner Schlomo Hofmeister hat der Rausch an Purim einen spirituellen Aspekt.
"Es geht hier nicht um das Berauschen, das Beschickern um seiner selbst willen, sondern es geht hier darum: Wer sind wir wirklich? Wenn wir uns nicht kontrollieren, wenn wir uns nicht so benehmen, wie wir vielleicht durch soziale Konventionen, durch Zwang von außen uns genötigt fühlen, sondern uns mal gehen lassen, uns mal lockerlassen – machen wir einmal im Jahr an Purim diesen Test: Sind wir dann noch der, der wir sein wollen? Sind wir authentisch? Sind wir wirklich das? Oder werden wir unangenehm? Dann sollten wir aufhören. Es gibt bei Purimfeiern eigentlich nichts Schöneres, wenn man sieht, dass auch Menschen, die man kennt – ob das gelehrige Rabbiner sind oder ansonsten angesehene und zu Recht wertgeschätzte Mitmenschen –, dann auch unter dem Einfluss von Wein genauso sind, sich nicht verändern, nicht negativ herausstechen."

"Gebt Wein den betrübten Seelen"

Wein kann also Segen bringen, aber auch ein Fluch sein. Das Wissen um seine vielfältige Wirkung, um seine Ambivalenz, zieht sich wie ein roter Faden durch die jüdische Tradition. Wein kann schaden, und er kann angeblich auch helfen. So soll König Salomon nicht nur vor Wein gewarnt, sondern ihn wegen seiner stärkenden Wirkung, ja wegen seiner Heilkraft, auch empfohlen haben: "Gebt starkes Getränk denen, die am Umkommen sind, und den Wein den betrübten Seelen."
"König Salomon sagt: Jemand, der unter Depressionen leidet, soll etwas Wein trinken. Warum? Indem er sich in die Lage versetzt, zu erkennen, dass seine Probleme eigentlich nicht seine eigenen sind, sondern die Probleme von außen, Faktoren von außen, die mit ihm persönlich nichts zu tun haben, aber etwas, mit dem er zurechtkommen muss. Hier ist eben der Wein als ein – ich möchte fast sagen – Psychopharmaka anzuwenden. Aber auch hier geht es nicht um das Berauschen, sondern um diesen leichten Anstoß."