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Autorin über Verschwörungserzählungen
Wie Ungeimpfte bei Gläubigen Rückhalt finden

Im der Kirchen und auch im Sekten-Umfeld gebe es zahlreiche Verschwörungsnarrative über Corona, sagte die Politikwissenschaftlerin Katharina Nocun im Dlf. Institutionen sollten sich davon klar abgrenzen, rät sie. Im privaten Umfeld sei es aber wertvoll, den Dialog aufrechtzuerhalten.

Katharina Nocun im Gespräch mit Christiane Florin | 03.12.2021
Ein Teilnehmer einer Demonstration von Corona-Impfgegnern hält ein Transparent mit den Aufschrift "Wir bleiben ungeimpft".
Teilnehmer einer Demonstration von Corona-Impfgegnern (Archiv) (picture alliance/dpa/Georg Wendt)
Die Kirchen in Deutschland haben ihre Gläubigen aufgerufen, sich impfen zu lassen. Impfen sei Nächstenliebe, behauptet zum Beispiel ein Slogan. Doch es gibt Christinnen und Christen, die unter Berufung auf ihren Glauben gegen die Corona-Schutzmaßnahmen protestieren und sich im Widerstand gegen den Staat und gegen die Amtskirche wähnen.
Katharina Nocun ist Autorin eines Buches über Verschwörungserzählungen. "Fake facts" heißt es und ist 2020 erschienen. Es gebe aktuell im kirchlichen Umfeld sowie im Sekten-Umfeld sehr unterschiedliche Narrative, sagt sie im Interview mit dem Deutschlandfunk. Corona werde darin manchmal als Vorbote einer Apokalypse beschrieben, manchmal auch als Strafe Gottes. Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche in Deutschland habe verbreitet, Corona sei eine Strafe für Sterbehilfe, Abtreibungen oder dafür, dass Menschen transsexuell sind.

"Problematische Missionierungsversuche an Ungeimpften"

Es gebe aus diesem Umfeld auch problematische Missionierungsversuche an Ungeimpften. Es gebe den Versuch, auszunutzen, dass diese gesellschaftlich Druck bekommen. Da versuche man zu zeigen: „Wir stehen zu euch, wir schließen uns sozusagen eurem Kampf an.“ Einzelne Akteure aus dem freikirchlichen Umfeld seien auch bei „Querdenken“ aktiv.
Nocun plädiert dafür, dass auf politisch-institutioneller Ebene klare Grenzen zu solchen Strömungen gezogen werden. Auf der privaten Ebene sei allerdings Dialog die beste Chance, um Menschen aus Verschwörungserzählungen zu holen. Freunde und Angehörige könnten die Menschen emotional noch erreichen. Politik, Wissenschaft und Medien werde hingegen sowieso nicht mehr geglaubt.

Das Interview im Wortlaut:

Christiane Florin: Frau Nocun, welche religiös grundierten Verschwörungserzählungen haben sich in der Corona-Pandemie entwickelt?
Katharina Nocun: Es gibt ganz unterschiedliche Narrative. Gerade im kirchlichen Umfeld und auch im Sekten-Umfeld sehen wir leider: Es sind Geschichten, in denen man Corona als Vorboten der Apokalypse deutet, als eine der biblischen Plagen. Was wir auch gesehen haben: Es gibt Mythen, in denen verbreitet wird, Corona sei eine Art Strafe Gottes. Beispielsweise hat das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche in Deutschland verbreitet, das sei eine Strafe dafür, dass es so etwas wie Sterbehilfe gibt, dass Menschen transsexuell sind, dass Abtreibung legal ist.
Und dann gibt es sehr radikale Gruppierung, vor allem im Sekten-Umfeld, die eine Verschwörung hinter Corona und hinter Impfungen wittern. Das ist natürlich hochproblematisch, weil damit immer auch starke Feindbilder einhergehen. Da wird behauptet: „Medien, Wissenschaft und Politik – quasi alle sind gegen uns. Der große Kampf gegen Gut und Böse steht an, und ihr müsst euch jetzt entscheiden, dass ihr auf der richtigen Seite steht.“ Was natürlich immer die Seite der jeweiligen Gruppierung.
Problematische Missionierung unter Ungeimpften
Florin: Die evangelikale Nachrichtenagentur Idea berichtet, dass dieser Tage eine „Evangelisten-Konferenz“ hätte stattfinden sollen. Die wurde aber abgesagt, weil man den 2-G-Regeln nicht genügend konnte. Zu viele Evangelisten sind offenbar nicht geimpft, darunter auch der Vorsitzende dieser Konferenz. Er hat erklärt, der Status ungeimpft gebe „weitreichende missionarische Möglichkeiten“, weil keine Personengruppe gegenwärtig so stark gesellschaftlich ausgegrenzt werde wie Ungeimpfte. Wie einflussreich ist dieses Motiv der Ausgrenzung?
Nocun: Die Aussage, dass es keine andere gesellschaftliche Gruppe geben würde, die derartig ausgegrenzt wird, ist hochproblematisch. Das ist ein sehr starkes Opfer-Narrativ. Jetzt muss man sagen: Ungeimpfte werden aufgrund der hohen Inzidenzen gerade eingeschränkt. In einigen Bereichen ist es aber sachlich begründet und in vielen Bereichen kann man sich auch freitesten.
Aber klar: In dem Moment, wo Menschen einen gesellschaftlichen Druck bekommen, sich impfen zu lassen und das nicht möchten, kann man natürlich als Gruppe hingehen und sagen: „Wir stehen zu euch, wir schließen uns sozusagen eurem Kampf an.“ Das sehen wir eben auch teilweise: Es gibt einzelne Akteure aus dem vor allem freikirchlichen Umfeld gibt, die beispielsweise auch bei „Querdenken“ aktiv sind, die auch da durchaus eine tragende Rolle spielen, die auch Verschwörungserzählungen verbreiten, bis hin zu rechtsradikalen Narrativen. Natürlich darf man das nicht alles in einen Topf werfen, aber man muss sich klarmachen: Das Spektrum dessen, was da anscheinend unter Missionierung verstanden wird, das ist recht weit und auch ziemlich problematisch.
Florin: Sie sprachen vorhin vom Opfernarrativ. Warum spielen die tatsächlichen Opfer die Toten, die schwer Erkrankten, die Angehörigen der Verstorbenen in diesen Teil der Kirchen – es sind eher die Ränder der Kirchen, wo sich das abspielt, was wir besprechen –, warum spielt die Empathie mit diesen Opfern keine Rolle?
Krankheiten als höhere Bestimmung: „Für die Betroffenen ist das schrecklich“
Nocun: Das ist eine gute Frage, die ich mir auch stelle. Was problematisch ist: In einigen Gruppen gibt es auch eine sehr starke Verbreitung von Verschwörungserzählungen. Da gab es eine interessante Studie aus der Uni Münster. Die hat sich erst mal gefragt: Sind religiöse Menschen anfälliger für Erzählungen? Ja, und die Antwort war Nein laut der Studie. Aber wir haben eben auch festgestellt: Bei Anhängern von freikirchlichen Gruppierungen findet sich ein kleiner Peak. Jetzt muss man natürlich sagen: Freikirchen sind auch ein sehr heterogenes Feld, aber da gibt es eben auch diese Gruppen, die beispielsweise auch behaupten: „Jesus ist ein Immunsystem“. Wenn du krank wirst, dann hast du sozusagen nicht richtig geglaubt. Oder: „Diese Strafe ist determiniert von oben. Da kannst du nichts gegen machen.“
Das ist ein Narrativ, das wir auch ganz stark in esoterischen Gruppierung sehen: dieses Konzept vom Karma. Das heißt, dass man Krankheiten durchleben muss, wenn man sie nicht durchlebt, dann entzieht man sich der höheren Bestimmung. Das ist für Betroffene natürlich schrecklich, ganz egal ob bei Corona oder Krebs. Wenn einem quasi obendrauf noch die Schuld eingeredet wird, dass man an seiner eigenen Erkrankung selbst schuld ist beziehungsweise die durchstehen muss, weil irgendeine größere Macht, von der man eigentlich geschützt werden will, dies einem sozusagen als Strafe auferlegt hat.
Das privat Umfeld ist extrem wichtig“
Florin: Der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm sagte kürzlich:
Bedford-Strohm: „Vor allen Dingen müssen wir alle mit Geduld diese Gespräche führen. Es darf nicht dazu kommen, dass die Emotionen hoch gehen, die Leute sich ausklinken und dann praktisch dauerhaft in einer Entfremdung nicht nur von anderen Menschen, sondern auch vom Staat leben. Deswegen sagen ich noch einmal: Geduld, Geduld, Geduld.“
Florin: Geduld, Geduld, Geduld. Im Gespräch bleiben mit denen, die sich ausgegrenzt fühlen, die sich als Opfer fühlen. Ist das ein guter Weg?
Nocun: Ich würde hier zwei Ebene unterscheiden wollen. Auf der individuellen Ebene, glaube es, ist das tatsächlich ein guter Weg. Wenn man beispielsweise Freunde und Angehörige hat, bei denen man merkt: Da driftet jemand ab in eine komische Richtung, dann macht man sich meistens um die Person Sorgen. Wenn sich jemand mitten in der Pandemie nicht impfen lässt oder beispielsweise Abstandsregeln nicht einhält oder nicht glaubt, dass Corona überhaupt existiert. Da macht es durchaus Sinn zu reden. Beratungsstellen sagen auch immer wieder: Bei Menschen, die sehr stark in einen Verschwörungsglauben abgedriftet sind, ist das direkte Umfeld eigentlich oftmals der letzte Anker sozusagen. Freunde und Angehörige sind Menschen, die auf emotionaler Ebene noch durchdringen können. Wer glaubt, dass eine große Verschwörung alles durchdrungen hat, dann glaubt man ja auch nicht, was man in den Medien hört, man glaubt wissenschaftlichen Studien nicht mehr, und Politik wird als Agent des Bösen gesehen. Also da ist das private Umfeld extrem wichtig.
Auf der anderen Seite muss man natürlich auch sagen: Es ist okay, wenn Leute auf individueller Ebene sagen: „Ich kann das gerade nicht. Ich habe dafür keine Kapazitäten, es belastet mich“ oder sogar „Es gefährdet mich, weil ich Risikopatientin bin und da hält sich jemand nicht an Absprachen.“ Das muss jeder selbst entscheiden, würde ich sagen.
Auf politisch-institutioneller Ebene bin ich tatsächlich für Abgrenzung. Man muss eben auch klarmachen: Das sind unsere Werte und Normen. Und wenn Gruppen eklatant dagegen verstoßen, weil sie beispielsweise Menschen, die erkrankt sind, Schuld einreden oder Falschmeldungen verbreiten, dann muss man sich davon abgrenzen.
Es ist extrem schwierig, Menschen da wieder rauszuholen“
Florin: Gerade kam die Meldung, dass der Chef des christlichen US-Senders Daystar an einer Corona-Erkrankung gestorben ist. Er hatte vor nicht allzu langer Zeit noch gesagt, man solle sich nicht impfen lassen. Man solle stattdessen beten. Glauben Sie, dass solche Ereignisse Menschen zur Einsicht bringen?
Nocun: Ich hoffe, dass einige Menschen aufgerüttelt werden, weil sie eben sehen, dass Corona existiert und gefährlich ist. Dass sie sich schützen und auch ihre Liebsten schützen. Trotz allem muss man aber sagen: Wir haben immer wieder diese Fälle, bei den der Verschwörungsglaube so stark ist, dass Menschen selbst auf der Intensivstation, wo sie selbst an Schläuche, an Beatmungsgeräte angeschlossen sind, kurz vor dem Tod immer noch sagen: „Ich bleibe dabei“. Man muss sich klarmachen: Wenn Menschen sich so stark in etwas verrannt haben, dann kostet sie das auch auf emotionaler Ebene unglaublich viel, sich einzugestehen: „Ich lag falsch“. Daher ist es auch extrem schwierig, Menschen da wieder rauszuholen. Es gibt nicht nur die rationale Ebene, sondern auch irgendwo die emotionale Ebene, dass Menschen sich ja auch problematischen Wahrheiten eingestehen müssen. Das ist nicht immer einfach. In den USA sind Verschwörungserzählungen im evangelikalem Umfeld auch ein riesiges Problem. Aber nicht nur. Auch in Brasilien haben wir Prediger gesehen, die Falschmeldung verbreitet haben,
Corona wird in eine größere Geschichte verpackt und die wird weitergesponnen“
Florin: Sie haben vorhin das Stichwort Abgrenzungen nannte. Die Bundeskanzlerin hat gestern Abend in ihrer Rede beim Zapfenstreich ausdrücklich Verschwörungserzählungen als Gefahr für die Demokratie erwähnt. Wenn man den Anlass betrachtet, dann ist offenbar diese Sorge ihr Vermächtnis. Meinen Sie, die Gefahr, dass Verschwörungserzählungen sich verbreiten, wird geringer, wenn die Pandemie eines Tages überstanden sein sollte?
Nocun: Leider, nein. Studien deuten darauf hin, dass es vor Corona auch schon einen gar nicht so kleinen Anteil der Bevölkerung gab, der anfällig für solchen Narrative ist, ein Drittel nämlich. Sie glauben nicht alle dramatische Dinge, aber sie sind anfällig. Gerade in Krisenzeiten wird das immer wieder problematisch. Wir sehen auch jetzt schon, dass in einschlägigen Gruppierungen beispielsweise bei Telegram neue Verschwörungserzählungen verbreitet werden. So wird Corona in eine größere Geschichte verpackt. Und diese Geschichte wird weitergesponnen werden nach Corona. Leute, die jetzt glauben, sie können Medien und Wissenschaft nicht mehr vertrauen, werden, wenn Corona kein großes Thema mehr ist, nicht einfach ihre Meinung ändern. Das ist eben auch gerade im Gesundheitsbereich die große Gefahr. Man findet das harmlos, wenn es vielleicht um nichts geht. Aber was ist, wenn die Person eines Tages an Krebs erkrankt und dann sagt: „Ich gehe lieber zum Wunderheiler statt zum Arzt“ - das kann dann lebensgefährlich sein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.