Vorzeitiger Ruhestand
Pro und Contra abschlagsfreie Frührente

Die abschlagsfreie Rente nach 45 Jahren – bekannt als „Rente mit 63“ – steht in der Kritik. Viele Ökonomen halten sie für zu teuer und fordern ihre Abschaffung. Doch die Regierung plant derzeit keine Änderungen und manches spricht dafür, diese Form der Frührente beizubehalten.

Von Katja Scherer |
Zwei Radfahrer fahren am Deich bei Norddeich in Niedersachsen am Wattenmeer entlang
Zwei Radfahrer fahren am Deich bei Norddeich in Niedersachsen am Wattenmeer entlang (picture alliance / dpa / Matthias Balk)
Nach 45 Versicherungsjahren vor der Regelaltersgrenze abschlagsfrei in Rente gehen: Das geht im Rahmen der sogenannten Altersrente für besonders langjährige Versicherte – bekannt als „Rente mit 63“. Das klingt für diejenigen, die es betrifft meist gut, für die Rentenkasse wird es zum Problem. Denn in den kommenden Jahren verabschieden sich die geburtenstarken Jahrgänge der 60er-Jahre aus dem Arbeitsleben.
Die Bundesregierung steht zwar unter Druck, Lösungen zu entwickeln, Änderungen bei den gesetzlichen Regelungen zur Frührente plant sie aber noch nicht Doch die Stimmen für eine Abschaffung der Altersrente für besonders langjährige Versicherte werden lauter.

Inhalt

So funktioniert die abschlagsfreie Frührente

Sie gibt Menschen, die auf 45 Versicherungsjahre kommen und bestimmte Altersgrenzen erreichen, die Möglichkeit, vorzeitig ohne Abschläge in Rente zu gehen.
Dazu muss man wissen: Die Möglichkeit, früher in Rente zu gehen, weil man nicht mehr arbeiten kann oder will, gibt es im deutschen Rentensystem grundsätzlich ab dem Alter von 63 Jahren nach 35 Versicherungsjahren. Normalerweise ist das aus mathematischen Gründen mit Abschlägen verbunden. Damit gleicht die Deutsche Rentenversicherung aus, dass Menschen, die früher in Rente gehen, im Schnitt länger Rente beziehen.
Die vorzeitige Rente hat also ihren Preis. Versicherte erwerben weniger Rentenansprüche, wenn sie früher mit dem Arbeiten aufhören. Und sie bekommen pro Monat, den sie früher aufhören, 0,3 Prozent Abschlag von der Rente abgezogen.
Die abschlagsfreie Rente für besonders langjährige Versicherte nimmt Menschen, die auf 45 Versicherungsjahre kommen, allerdings von diesen Abschlägen aus. Quasi als Wertschätzung für ihre langjährige Versicherungszeit.
Diese Regelung wurde 2007 von der damaligen Großen Koalition eingeführt und 2014 auf Drängen der SPD zur „Rente mit 63“ ausgeweitet. Für Versicherte, die vor 1953 geboren wurden, wurde damals die Möglichkeit geschaffen, die abschlagsfreie Frührente mit 63 Jahren in Anspruch nehmen zu können.
Mittlerweile geht das nicht mehr. Das Eintrittsalter für die abschlagsfreie Frührente wird schrittweise angehoben. 1961 Geborene können die abschlagsfreie Frührente ab einem Alter von 64 Jahren und 6 Monaten erhalten. Für alle ab 1964 Geborenen gilt dauerhaft eine Altersgrenze von 65 Jahren.
Wie viele Menschen nutzen diese vorzeitigen Altersrenten?
Viele. Zahlen der Deutschen Rentenversicherung zeigen, dass 2024 knapp 270 000 Menschen die abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren bewilligt bekommen haben. Gut 220 000 Menschen sind nach 35 Versicherungsjahren mit Abschlägen in Rente gegangen. Das bedeutet, dass im vergangenen Jahr etwas mehr als die Hälfte aller Neurentner vorzeitig in Ruhestand gegangen ist und nicht wie eigentlich von der Regierung vorgesehen bis zur Regelaltersgrenze gearbeitet hat.
Grafik zeigt das Renteneintrittsalter für die Jahrgänge 1950 bis 1965 an und unterscheidet zwischen abschlagsfreier Rente für besonders langjährig Versicherte und abschlagsfreier Regelaltersrente und abschlagsfreier Rente für langjährig Versicherte.
Das Renteneintrittsalter steigt allmählich, aber es gehen auch immer mehr Menschen vorzeitig in Rente (Deutschlandradio / Andrea Kampmann)

Darum ist die abschlagsfreie Frührente umstritten

Es gibt gleich mehrere Kritikpunkte. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung kam 2024 in einer Studie zu dem Schluss, dass die abschlagsfreie Frührente nur teilweise den Menschen zugute kommt, für die sie oft als notwendig benannt wird.
„Von denjenigen, die abschlagsfrei in Rente gehen können, war weniger als ein Drittel während des Berufslebens im Durchschnitt sehr hoch belastet. Dazu zählen neben körperlicher Anstrengung auch sogenannte psychosoziale Belastungen wie Stress. Demgegenüber waren fast 40 Prozent leicht bis mäßig belastet“, schreiben die Studienautoren auf Basis von Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
Ruth Schüler, Volkswirtin am Institut der deutschen Wirtschaft kritisiert, dass Menschen ein vorzeitiger Renteneintritt sehr leicht gemacht wird und das, obwohl die abschlagsfreie Frührente teuer ist: Weil Versicherte, die sie in Anspruch nehmen, im Schnitt länger Rente ausgezahlt bekommen.
Die Volkswirtin schlägt vor, die abschlagsfreie Rente für besonders langjährig Versicherte abzuschaffen. Zudem sollten die Abschläge für frühe Renteneintritte nach 35 Versicherungsjahren erhöht und die Regelaltersgrenze nach dem Jahr 2031 weiter angehoben werden. So könnte die Rentenversicherung finanziell entlastet werden.

Das sagen Befürworter der abschlagsfreien Frührente

Zu den Befürwortern zählt unter anderem der Sozialverband VdK, der die sozialpolitischen Interessen von 2,3 Millionen Mitgliedern vertritt. Personen, die Anspruch auf eine abschlagsfreie vorzeitige Altersrente haben, hätten viel geleistet, um Wohlstand zu schaffen, Kinder zu betreuen und Angehörige zu pflegen, sagt VdK-Präsidentin Verena Bentele. Diese Leistungen erforderten generationenübergreifende Solidarität.
Aus ihrer Sicht sollte die Regierung stattdessen arbeitsmarktpolitische Maßnahmen nutzen, um die Zahl der vorzeitigen Renteneintritte zu reduzieren. Es gehe darum, Arbeitsplätze und Arbeitszeitmodelle so zu gestalten, dass Menschen nicht früher in den Ruhestand gehen wollen oder müssen.
Außerdem gebe es weitere Stellschrauben, um die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung zu verbessern: mehr Steuerzuschüsse zum Beispiel oder die Integration von Abgeordneten, Selbstständigen und Beamten in das System.
Statistik zur Bezugsdauer von Versichertenrenten von 1960 bis 2023.
Im Jahr 2023 lag die durchschnittliche Rentenbezugsdauer in Deutschland bei 20,5 Jahren. Das sind fast vier Jahre mehr als noch vor 20 Jahren. Im Vergleich zum Jahr 1960 stieg die Dauer des Rentenbezugs sogar um mehr als zehn Jahre. (Statista / Deutsche Rentenversicherung)

Was würde eine Abschaffung der abschlagsfreien Frührente bringen?

Dazu gibt es zwar Schätzungen, zum Beispiel in diesem Gutachten vom ifo Institut im Auftrag der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung. Doch verlässlich lässt sich das nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung nicht sagen. Denn man weiß schließlich nicht, wie viele Menschen trotzdem früher in Renten gehen würden – dann eben mit Abschlägen. Sicher ist: Es wäre eine Entlastung. Aber die Höhe ist unsicher.
Unsicherheiten gibt es außerdem grundsätzlich bei der Frage, wie stark das gesetzliche Rentensystem in den kommenden Jahren belastet wird. Denn es gibt zwar einerseits die demographisch nachteilige Entwicklung mit Blick auf die Geburtenjahrgänge. Andererseits gibt es gegenläufige Entwicklungen, die das Rentensystem entlasten.
Die Rentenversicherung habe in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich stark von Produktivitätszuwächsen profitiert, sagt Martin Brussig von der Universität Duisburg-Essen. Das heißt vereinfacht gesagt: Weil Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer heutzutage in einer Arbeitsstunde mehr schaffen als früher, braucht es weniger Erwerbstätige, um einen Rentner zu versorgen.
Und auch die Konjunktur spielt eine wichtige Rolle: Sind viele Personen sozialversicherungspflichtig beschäftigt und verdienen gute Löhne, fallen die Beitragseinnahmen höher aus. Die Finanzierung der steigenden Ausgaben wird einfacher. Selbst für ihn als Experten sei es schwer, einzuschätzen, wie stark das Rentensystem in den kommenden Jahren an Grenzen gerate, sagt Martin Brussig.
All das trägt dazu bei, dass die Rentendebatte so kontrovers geführt wird. Der Wissenschaftler Martin Brussig ist allerdings in einem Punkt sicher: Entscheidet sich die Politik dafür, die Altersgrenze bei der Rente weiter anzuheben, dann braucht es auch Angebote, für die Menschen, die physisch oder psychisch nicht mehr Schritt halten könnten. Schon jetzt steige die Zahl der Versicherten, die mit Ende 50 Erwerbsminderungsrente beantragen müssen, weil sie es nicht bis zu den regulären Altersgrenzen schafften.