Donnerstag, 25. April 2024

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Russische Menschenrechtlerin Scherbakowa
"Wir leben in einer Diktatur"

Die politische Opposition in Russland sei längst zerschlagen, sagte die Historikerin Irina Scherbakowa im Dlf. Alles solle kontrolliert, keine Opposition zugelassen werden. Wichtige Entscheidungen würden von einem kleinen Kreis von Menschen um Präsident Wladimir Putin herum getroffen.

Irina Scherbakowa im Gespräch mit Jochen Rack | 29.08.2021
Die russische Historikerin und Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa, Preisträgerin der Goethe-Medaille 2017, steht am 28.08.2017 im Stadtschloss Weimar (Thüringen).
Irina Scherbakowa spricht im Dlf über über die russische Hetzpropaganda gegen den Westen, die zunehmenden diktatorischen Züge des Regimes und die Chancen der Opposition. (dpa / Candy Welz)
Einführung von Jochen Rack
Man kann Irina Scherbakowa als Grande Dame der russischen Menschenrechtsbewegung bezeichnen. 1989, noch zu Zeiten der Sowjetunion, gehörte die 1949 in Moskau geborene Germanistin und Kulturwissenschaftlerin zu den Mitgründerinnen von "Memorial" - einer NGO, die sich die Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen zum Ziel gesetzt hatte. Es ging nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 darum, die Betrachtung der Geschichte von den ideologischen Vorgaben der kommunistischen Zeit zu befreien und die Wahrheit über die realsozialistische Ära ans Licht zu bringen.
Die Hoffnung war, dass Russland sich zu einer liberalen demokratischen Gesellschaft entwickeln würde. Es galt für das postsowjetische Land an die Idee der Aufklärung anzuknüpfen, wie Irina Scherbakowa bis heute betont. Aufklärung über den Terror der Stalinzeit, das hieß, die Massenmorde des NKWD zu erforschen, die Orte der Massengräber zu finden und zum Teil der öffentlichen Erinnerungskultur zu machen. Es galt, die Namen der Opfer zu ermitteln, Denkmale zu errichten oder historische Museen zu gründen, die das Unrechtssystem der UDSSR dokumentierten.
Als Aktivistin einer in Russland neu entstehenden Zivilgesellschaft erforschte Irina Scherbakowa die Archive des KGB, um das System der GULAG-Straflager durchsichtig zu machen, zeichnete Interviews mit Opfern des Stalinismus auf und koordiniert heute unter anderem einen russischen Geschichtswettbewerb für Jugendliche.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besucht am 25.10.2017 das Menschenrechtszentrum «Memorial» in Moskau (Russland) und wird von der Leiterin, Irina Lasarewna Scherbakowa (r), durch das Archiv geführt. 
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird von Irina Lasarewna Scherbakowa durch das das Menschenrechtszentrum «Memorial» in Moskau geführt (dpa / Bernd von Jutrczenka)
Allerdings hat Irina Scherbakowa, die inzwischen 72 Jahre alt ist, erleben müssen, dass die Freiheit in Russland seit der Präsidentschaft von Wladimir Putin immer weiter eingeschränkt wurde. Schon 2015 klagte sie in einem Gespräch mit dem Osteuropahistoriker Karl Schlögel darüber, dass Russland gerade seine Geschichte propagandistisch umschreibe: "Stalin, Krieg, Patriotismus – die Jugend differenziert nicht mehr und die Geschichte des Terrors wird erneut verdrängt; die Sowjetzeit wird allgemein sehr positiv gesehen."

"Memorial" als ausländischer Agent gelistet

Als ich im Juni 2021 mit Irina Scherbakowa im Moskauer Büro von "Memorial" über die politische Situation in Russland spreche, hat sich ihr Pessimismus verstärkt. Seit 2016 ist "Memorial" als ausländischer Agent gelistet, das erschwert die Arbeit der Menschenrechtsorganisation, die Finanzierung wird schwieriger, öffentliche Veranstaltungen müssen staatlich genehmigt werden, eigene Publikationen dürfen nicht mehr verkauft werden. Eine freie Meinungsäußerung im Land sei immer weniger möglich, immer mehr NGOs würden als extremistisch erklärt, die Zahl unabhängiger Medien und Verlage nehme weiter ab. Seit der Annexion der Krim und des Krieges in der Ostukraine beschwört ein aggressiver Patriotismus antiliberale Feindbilder, sagt Scherbakowa.
In unserem Gespräch redet sie über die russische Hetzpropaganda gegen den Westen, die zunehmenden diktatorischen Züge des Regimes und die Chancen der Opposition.

Jochen Rack: Wie schätzen Sie die politische Situation in Russland ein, angesichts der Vergiftung und Verhaftung Nawalnys, der kürzlich stattgefundenen aggressiven Militärmanöver an der Grenze zur Ukraine und der bevorstehenden Duma-Wahl im September 2021?
Irina Scherbakowa: Erfreulich wird diese Antwort nicht klingen. Ich bin eigentlich eher ein Optimist, aber momentan kann man sagen, dass, glaube ich, eine ziemlich endgültige Entscheidung passiert ist, also Schluss mit möglichen liberaldemokratischen, irgendwelchen noch letzten Überbleibseln von Vorstellungen und so, und eindeutig schon, glaube ich, nicht nur in die Richtung, wir leben schon in einer Diktatur.
Vor der Duma-Wahl - Neue Repressionen in Russland
Die Haftstrafe gegen Kreml-Kritiker Alexej Nawalny und die Polizei-Einsätze gegen Demonstrationen sind nur die Spitze des Eisbergs: Kritische Bürger haben in Russland immer weniger Freiräume.
Ich bin eine Historikerin, und da soll man das mit den 30er-Jahren nicht vergleichen. Es war eine andere Zeit und andere Informationsmöglichkeiten und Quellen, aber wir leben in einer diktatorischen Vertikalen, wo die Entscheidungen erstens absolut im Dunkeln sind und im Dunkeln getroffen werden. Man weiß nicht, wer oder man kann es nur vermuten, das ist eine ganz kleine Gruppe. Es ist noch vielleicht dunkler als damals im Politbüro. Jetzt gibt es auch natürlich Strukturen, Sicherheitsrat und solche Sachen, aber es ist eindeutig, dass schwerwiegende politische Entscheidungen von einem sehr engen Kreis von Menschen, von Putin selbst und einigen Leuten um ihn herum – man kann sie wahrscheinlich an einer Hand abzählen, und alle gehören sie zu Silowiki, wie man das in Russland nennt. Das heißt also, die Menschen, die eigentlich in den Sicherheitsstrukturen tätig sind, also Staatsanwaltschaft, Untersuchungskomitee, dann verschiedene Strukturen wie die russische Garde und sonstige geschaffene zusätzliche Truppen oder Kräfte, die eigentlich nur dazu da sind, um, glaube ich, das Regime vor möglichen oder in den Köpfen von diesen Menschen entstehenden Gefahren zu schützen. Wir erleben jeden Tag neue Repressalien, es häufen sich politische Häftlinge, Abschreckungsmechanismen, Haussuchungen, Verhaftungen, Urteile.

Maßnahmen gegen Kritiker häufen sich

Man konnte sich vor Jahren nicht vorstellen, dass man für ein paar Links im Internet oder für irgendwelche Posts in Facebook wirklich verfolgt wird, geschweige schon von allen Organisationsstrukturen, die gefährlich erscheinen, die man dann zu den sogenannten unerwünschten Organisationen erklärt, das heißt, man verbietet die Tätigkeit dieser Organisationen. Man zerschlägt alle Strukturen von Nawalny, und dazu hat man natürlich eine ganze Skala von verschiedenen Gesetzen oder zu verschiedenen Paragrafen, zusätzlichen Paragrafen zu diesen Gesetzen durchgeführt, die nur das eine Ziel verfolgen: Alles soll kontrolliert werden, keine Opposition soll zugelassen werden, ich meine reale Opposition, keine Kritik, und ich glaube, jeden Tag erleben wir, dass diese Maßnahmen gegen Kritiker, gegen freidenkende Menschen sich häufen.
Rack: Jetzt haben Sie von den Gesetzen gesprochen, die angewandt werden, um die Opposition zu kriminalisieren. Welche Rolle spielt denn in dem Zusammenhang die neue Verfassung? Ich hab' hier mit einem Lektor gesprochen vom Corpus-Verlag, und er war der Meinung, dass in dieser neuen Verfassung eben auch neue Handhaben entstanden sind, um gegen die Opposition vorzugehen, also etwa wenn es darum geht, dass diejenigen belangt werden, die die Veteranen beleidigen, die irgendwie nicht das offizielle Narrativ der russischen Geschichte wiedergeben, so wie das erwünscht ist.
Scherbakowa: Erstens, ich glaube, die Rolle der neuen Verfassung war dazu da, dass jetzt Putin für die nächste Frist noch mal antreten kann, und das heißt, das ist schon fast für die Ewigkeit, und ich glaube, das war das Ziel dieser letzten, würde ich sagen, Erneuerungen der Verfassung. Und dazu gibt es natürlich eine Reihe von unglaublichen Formulierungen da drin, oder man ist bemüht, die Gesetzgebung in dieser Richtung zu ändern, und manches ist absolut widersprüchlich und widerspricht absolut noch bestehenden Paragrafen dieser Verfassung.

Fast noch schlimmer als zu sowjetischen Zeiten

Aber das ist für Russland nicht neu, würde ich sagen, das haben wir auch schon in der Sowjetunion erlebt, das heißt aber, hier, wo eigentlich in der Verfassung noch steht, dass keine Staatsideologie zugelassen wird, dass die Menschen frei sich äußern, denken und so können, also dass wir keine Zensur haben, das wird hier alles zur Attrappe, weil es gibt dazu sozusagen eine ständige Änderung in der Gesetzgebung, wo man Gesetze annimmt, die dann eigentlich Zensur einführen, wo es sozusagen unantastbare Themen gibt.
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Der Kreml fördert die Erinnerung an den Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, sagte der russische Historiker Oleg Budnizkij im Dlf.
Es dreht sich natürlich sehr viel um den großen vaterländischen Krieg, und da ist es schwer zu charakterisieren, weil es verlässt allen möglichen, würde ich sagen, historischen Raum oder Vorstellungen von der Geschichte oder von der Geschichte als Wissenschaft, sondern in Wirklichkeit wird eine neue Ideologie gesetzmäßig formuliert, und Verstöße gegen diese Ideologie sollen bestraft werden. Diese Ideologie besteht aus dem Nationalismus, Traditionalismus, nationalem Stolz und alles, was man annimmt, dass man gewisse Perioden in der russischen Geschichte, in der sowjetischen Geschichte als kritisch betrachtet oder eher Handlungen der sowjetischen Führung, zum Beispiel vor dem Krieg oder schon nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. Das alles eigentlich soll unter dem Verbot stehen, sich damit wirklich auseinanderzusetzen.
Das ist ja fast noch schlimmer, wie es in sowjetischen Zeiten war, wo Stalin dann doch auf dem 20. Parteitag verurteilt wurde. Also der Hitler-Stalin-Pakt soll nicht kritisiert werden, Stalin soll mit dem Hitler nicht vergleichen werden, und es heißt, die Urteile der Nürnberger Prozesse sollen nicht widerlegt werden, der Sieg im Zweiten Weltkrieg soll nicht unter Zweifel gestellt werden und Sonstiges. Historisch gesehen völlige Absurdität, weil niemand – ich weiß nicht, was für Chimären dann in den Köpfen von Menschen, also von diesen Kreml-Ideologen oder Kreml-Führung, entstehen, oder Gespinste, weil niemand, der sich irgendwie mit der Geschichte auskennt des 20. Jahrhunderts, niemand, der einen Verstand hat, verneint den Sieg der Sowjetunion in dem Zweiten Weltkrieg nicht. Das ist völlig lächerlich, historisch gesehen. Diese Absurdität, wie ich schon gesagt habe, führt dazu, dass man aus der Geschichte oder aus Quasi-Geschichte Ideologie bastelt, gegen die man nicht vorstoßen kann.
Rack: Aber wie eindeutig ist dieses Bild der Repression öffentlicher Meinungen oder kritischer Stimmen eigentlich? Dieser erwähnte Lektor hat mir erzählt, dass im Corpus-Verlag jetzt ein Buch erschienen ist zum Hitler-Stalin-Pakt von Roger Moorhouse, zumindest bis jetzt ist es auf dem Markt verfügbar. Er äußerte zwar die Befürchtung, dass womöglich dieses Buch auch verboten werden könnte, aber zumindest, das Buch existiert. Dann war ich hier während meines Besuchs in Moskau im Gulag-Museum – dieses Museum ist auch von der Stadt Moskau mitfinanziert …
Scherbakowa: Das ist ein staatliches Museum.

Verschärfung der Gesetze, Verhaftungen von Menschen

Rack: … und zumindest wird kritisch diese Geschichte aufgearbeitet, über die ja vielleicht jemand, der Nationalist ist, auch nicht unbedingt so gerne reden wollte. Es gibt ja doch immerhin noch einige Gegenstände.
Scherbakowa: Erstens, wir bewegen uns nicht in die Richtung der Aufklärung, sondern in die Gegenrichtung. Ich will da nicht vergleichen, aber in den '20er-Jahren zum Beispiel konnte man auch so erleben, wie immer weniger und weniger von der Geschichte blieb und die Ideologie sich immer verfestigte. Also wir bewegen uns, in diesem Sinn in der Bewegung, bewegen uns in einer entgegengesetzten Richtung, so wie der Held von Orwell in 1984 sich damit beschäftigt hat, dass er die alten Zeitungen umgeschrieben hat – genau das hat er gemacht.
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Wir sind in einer hybriden Situation. Es gibt ja Streit darüber unter den Soziologen bei uns und den Historikern, ob wir schon in einer Form eines totalitären Staates sind, aber diese Totalitarismustheorien sind sozusagen widersprüchlich, sie haben sich sozusagen modifiziert. Ich bin eher keine Anhängerin und würde nicht sofort sagen, wir sind in einer totalitären Zeit, aber darüber kann man streiten, wenn man sieht, wohin die Reise geht. Noch sind nicht alle Quellen geschlossen. Noch sind wir in einem anderen Informationsfeld. Noch kannst du ins Internet gehen und vieles dort raussuchen und rauslesen, noch arbeiten die Verlage. Noch gibt es ein paar Sender, und es geschieht noch nicht von einem Tag auf den anderen angeblich, das ist noch ein Prozess, das ist eine Entwicklung.
Aber in diesem Prozess sehen wir die Verschärfung der Gesetzgebung, die Verhaftungen von Menschen, die für einen Link oder für einen Vergleich Hitler mit Stalin oder sonstige verrückte Sachen bestraft werden, zum einen. Zum anderen sehen wir, wie immer weniger von diesen Quellen zugänglich sind. Es ist ein Kampf auch gegen das Internet, es ist die Bestrafung von Google, es sind Versuche, Facebook zu zensurieren. Es gab einen Versuch, Telegram zu verbieten. Also noch können sie das nicht, aber natürlich geht das Richtung China. Und ich glaube, in diesen Köpfen von den Menschen dreht sich dieses Bild von China: Schaut mal zu, wie sie dort den Internetraum in den Griff bekommen haben. Und ich sehe, dass das zunehmend sich verstärkt. Es werden Rockkonzerte nicht zugelassen oder verboten, es werden Aufführungen nicht durchgeführt, es werden Theaterregisseure entlassen, es werden Zeitungen sozusagen gekauft oder sie müssen dann den Besitzer wechseln. Das haben wir schon bei einigen Zeitungen erlebt, auch Internetressourcen, aber auch Paper‑Ausgaben, die dann, indem sie sozusagen den Besitzer ändern oder die Aktionäre, ändert sich auch die Politik, zum Beispiel die Zeitung Wedomosti, und man kann jetzt noch diese Beispiele anführen. Und sie häufen sich. Und sie häufen sich.

Auch Schulen und Universitäten unter Druck

Und die Schule ist natürlich auch Opfer von dieser Politik, weil man hat sicherlich Angst, dass das, was unsere Macht jetzt vorschlägt, nicht mehr so anziehend und sexy ist für die jungen Menschen. Deshalb ist man sehr in Sorge, was in den Schulen gelehrt wird, und versucht das natürlich sehr stark zu zensurieren. Also Schulen stehen unter einem sehr starken Druck, und Lehrer dort auch. Und patriotische Erziehung sozusagen soll ganz vorne stehen. Man verfolgt Schüler, wenn ein Signal kommt aus sozusagen Sicherheitsstrukturen, dass sie vielleicht in Facebook für Nawalny irgendwelche Links gestellt haben oder gar auf die Kundgebungen gegangen sind. Man droht den Studenten aus den Universitäten und Hochschulen, entlassen zu werden, also das häuft sich.
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Rack: Sehen Sie denn da eine graduelle Verschärfung, die sich jetzt in den letzten Jahren kontinuierlich vollzogen hat, oder gab es da Wendepunkte? Seit wann ist denn aus Ihrer Sicht eigentlich dieses Regime auf diesen harten Kurs umgeschwenkt?
Scherbakowa: Der Kurs, für mich hat er sehr wenig Illusionen, (zeigte) schon sehr früh, wohin die Reise gehen sollte, und dass das von Anfang an, schon vor 20 Jahren, eine eindeutige Richtung war, diese Macht zu vertikalisieren und auch gegen Oppositionelle zu kämpfen. Nur war das der Prozess, der dann viel stärker wurde, und zwar nachdem Medwedew, der für vier Jahre eigentlich ein Stuhlhalter war, aber man hatte gewisse Hoffnungen sogar, dass es eine Tauwetterperiode oder Modernisierung geben könnte. Dieser Zeit verdankt man zum Beispiel die Existenz vom Gulag-Museum, weil das war zum Teil die Entscheidung von Medwedews Regierung damals, also diese Richtung sozusagen, dieser Richtung zuzustimmen.
Aber nachdem Medwedew abgesetzt wurde, weil das waren ja Putins Wahlen, aber das waren die Wahlen mit eindeutigem Druck und Fälschungen, das waren die Wahlen von 2012 nach den großen Protesten, weil es gab ja Proteste – die sind vielleicht mit Belarus nicht vergleichbar, aber es gab große Proteste in Moskau gegen Fälschung, gegen massive Fälschung von Wahlen, von Duma-Wahlen. Da kamen die ersten sehr scharfen Gesetze. Und 2012 gab es Prozesse nach der großen Kundgebung im Mai, gegen Putin eigentlich und gegen diese Wahlen, nachdem schon Putin gewählt war, und da gab es Prozesse, wo die Menschen, die teilnahmen an diesen Kundgebungen, bis zu sechs Jahre bekommen haben – also manche haben das durchgemacht.

Massive Hetzpropaganda gegen den Westen

Und das war ein Ruck vom Autoritarismus in die Diktatur, und seit der Zeit wurde es immer schlimmer. Es gab eine kurze Phase in der Olympiade-Geschichte 2013. Olympiade war vielleicht irgendwie ein Versuch, sich westlicher darzustellen. Dann kam die Krim-Geschichte, dann kamen die ukrainischen Ereignisse. Es ist vielleicht kein so schreckliches Blutvergießen, wie es im Sommer 2014 gab, aber es ist ein ständiger Konflikt mitten in Europa. Ich glaube, das ist sozusagen ein Teil einer Politik in der Diktatur, indem man immer solche Punkte, solche Brennpunkte schafft und da rein Petroleum gießt, damit man entweder die Nachbarn ständig in der Spannung hält zum einen, und zum anderen sozusagen in der inneren Politik – also wir sollen uns vor dem Feind schützen und wir sind von den Feinden umringt. Es begann im Fernsehen eine massive Hetzpropaganda gegen Ukrainer und gegen den Westen und so, das war ein großer Ruck in diese Richtung, 2014.
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Und ich glaube, seit der Zeit geht es sozusagen immer bergab mit der Demokratie, also mit den Resten der Freiheit – der Meinungsfreiheit und allen möglichen Freiheiten. Es wurde dieses Gesetz gegen Zivilgesellschaft, gegen sogenannte ausländische Agenten zu einem Knüppel, und jetzt sind sehr viele Organisationen der Zivilgesellschaft zu ausländischen Agenten erklärt worden, die Beziehungen zum Westen haben sich immer mehr und mehr verschlechtert. Es gab ja schreckliche Folgen dieses Konfliktes in der Ostukraine – wie die Geschichte mit der abgeschossenen Boeing, die ist nicht abgeschlossen. Dann gibt es Anschläge, Giftanschläge, vor Nawalny auch, punktuelle, vielleicht einige, von denen wir nicht wissen, weil sie nicht öffentlich geworden sind und man hat sie nicht erkannt. Aber ich glaube, wenn man das alles aufzählt, ist das natürlich ein düsteres Bild.

Politische Opposition ist längst zerschlagen

Rack: Und welche Chancen geben Sie denn der Oppositionsbewegung um Nawalny überhaupt? Hat es jetzt der Bewegung genützt, dass er eigentlich aus dem Berliner Exil gewissermaßen zurückgekehrt ist, weil er jetzt diese Rolle eben auch glaubwürdiger vielleicht vertreten kann als jemand, der gewissermaßen als Märtyrer im Gefängnis sitzt, oder war das eigentlich eine falsche Strategie? Wenn wir nach Weißrussland schauen, dann sehen wir ja, dass Tichanowskaja im Ausland sich aufhält, sie hat also diesen Weg nicht eingeschlagen. Was für Kräfte kann denn die Nawalny-Bewegung eigentlich mobilisieren jetzt im Vorfeld dieser Wahlen?
Scherbakowa: Es ist schwierig. Momentan sieht es nicht so aus, dass die Oppositionskräfte sich erneut aufraffen. Ich würde ja sagen, Opposition ist vielleicht ein falsches Wort. Die Opposition in Russland ist, politische Opposition ist längst zerschlagen, die Menschen sind entweder im Ausland oder einfach weg aus irgendeiner Politik – das macht man schon jahrelang. Deshalb, wenn man sozusagen von der Opposition spricht, ist das in den Köpfen von westlichen Menschen etwas ganz anderes. Es gibt kritische Stimmen, sie mehren sich. Es heißt nicht, dass Putin wirklich – ich würde hier nicht sagen, dass er vielleicht, wenn die Wahlen kommen, das ist ja doch immer so, dass man, es musste ja zu Lukaschenko kommen, also dass man wirklich diese Wahlen so verliert, dass man das alles nur schummeln kann. Aber ich glaube, der war sich so selbstsicher, dass er mit diesem Ergebnis nicht gerechnet hat. Hier ist das anders, Lukaschenko war in diesem Sinne ein Beispiel. Sie versuchen jetzt in dieser Richtung alles zu machen, um dem vorzubeugen und die Menschen einzuschränken so gut es geht. Deshalb weiß ich nicht, ob da welche Demonstrationen und so noch möglich sein werden. Natürlich ist das für die Menschen tragisch, dass er im Gefängnis sitzt. Er ist Gott sei Dank ein junger Mensch, obwohl natürlich gesundheitlich sehr geschlagen, und das ist eine sehr mutige Tat. Ich kann es nachvollziehen, dass man um jeden Preis im Lande bleiben sollte. Chodorkowski wollte auch das Land nicht verlassen damals, obwohl er wusste, dass ihm die Verhaftung droht, und ich kann das verstehen. Diesen Weg sind auch manche Dissidenten gegangen, indem man sie vorgewarnt hat, wenn sie das Land nicht verlassen, werden sie im Lager landen. Das haben sie trotzdem nicht gemacht. Das ist eine seelische Entscheidung für die Menschen. Aber ob er aus diesem Gefängnis etwas bewirken kann, das ist eine Frage. Momentan wahrscheinlich nicht, aber ich hoffe sehr, das ist nicht für immer und ewig.
Ich glaube nach wie vor, dass die Diktaturen ein Ende haben. Wann, weiß man nicht. Russland ist sehr groß, man hat Hunderttausende von Kräften geschaffen, die bereit sind, gegen Opposition und gegen Studenten und sozusagen gegen alles vorzugehen, und leider war das Beispiel von Belarus auch ein tragisches. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass Lukaschenkos Regime keine Zukunft hat, aber wann das passiert und welche Opfer das kosten wird, das ist schwer zu sagen. Was unsereins anbetrifft, man hat natürlich viel mehr Kraft zur Gewalt als Lukaschenko, viel mehr. Das muss man in Kauf nehmen. Und alle jetzt in der letzten Zeit, wenn wir auf die Straße gehen oder wenn die Menschen auf die Straße gehen, wissen wir, dass man geschlagen wird, dass man im Gefängnis landen kann. Wir sind uns dessen bewusst, und natürlich können das nicht alle.

"Lukaschenko wäre ohne die Unterstützung Russlands an die Wand gedrückt"

Rack: Könnte der Schuss mit Lukaschenko womöglich dann vielleicht doch nach hinten losgehen, wenn die Demokratiebewegung sich wieder erholen würde – im Augenblick sieht es ja so aus, als wäre sie eigentlich an ein Ende gekommen –, dass dann womöglich aber diese Zusammenarbeit zwischen Putin und Lukaschenko zu einer Situation führt, wo womöglich dann auch russische Truppen, ähnlich wie es in der Ukraine der Fall war, Richtung Weißrussland sich aufmachen? Denn der Traum, Sie haben ja von der Ideologie gesprochen, ein großrussisches Imperium wiederherzustellen, der wäre damit ja vielleicht in gewisse Nähe gerückt, wenn Lukaschenko so weit ginge, die Hilfe vom großen Bruder hier einzufordern.
Scherbakowa: Ich glaube nach wie vor, bei Belarus ist das eindeutig, dass die Menschen in der Mehrzahl Lukaschenko nicht wollen. Das ist so wie in einer Stadt, und das haben wir mehrmals in den Science-Fiction-Filmen gesehen oder so, wie eine Stadt, irgendein Gotham, von einer kleinen Bande regiert wird, die die Menschen so einschränken oder einschüchtern oder sie so gewaltsam angehen, dass man eigentlich wirklich sozusagen sehr viel riskiert, wenn man gegen Regime … Und das ist der Fall, was Lukaschenko anbetrifft, nur ohne natürlich die Unterstützung Russlands, und Putin wäre wahrscheinlich an die Wand gedrückt. Das ist auch ein großer Faktor.
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Also die Liebe zu ihm, glaube ich, ist sehr beschränkt, was Kreml anbetrifft. Das wäre für ihn sowieso persönlich. Es wäre eine historische politische Katastrophe, aber für ihn persönlich wäre das auch kein Gewinn. Deshalb wird er manipulieren, also sich wenden und drehen, solange er das noch kann. Ich hoffe nicht sehr lange. Ich sehe da keine wirkliche Zukunft. Und bei uns hier gibt es wirklich … Das ist ein riesiges Land, also es ist eine Krise, es geht den Menschen nicht gut, also vielen, oder schlechter als früher, aber es gibt Hunderttausende von Menschen, wenn nicht Millionen, die haben da was zu verlieren, die haben Angst. Unsere Wirtschaft hat sich in vielem verstaatlicht, oder die großen Konzerne, die hängen vom Staat ab. Es gibt keine Oligarchen mehr in dem Sinne. Es gibt superreiche Menschen, die mischen sich noch nicht in die Politik ein. Die halten sich ja da raus, die geben ja nur Geld der Macht, also wenn sie nach dem Geld fragt. Es gibt Millionen von Silowiki, also von den Menschen aus verschiedenen Sicherheitsstrukturen, die haben auch was zu verlieren. Das ist ja nicht wie in den 80er-Jahren, wo man wirklich schon nichts mehr hatte, was man diesen Menschen anbieten kann. Jetzt ist das anders. Jetzt haben sie was zu verlieren, und sie kriegen ihr Geld, und alles von der Macht, also von diesem Staat.

"Putin würde diese Wahlen wahrscheinlich gewinnen"

Rack: Aber wie stark schätzen Sie die prozentual ein, die tatsächlich hinter Putin und seiner Partei stehen?
Scherbakowa: Ich glaube, dass ungefähr 20 Prozent unzufrieden sind. Unter ihnen gibt es noch weniger, die auf die Straße gehen wollen, was auch aber nicht wenig ist. Das sind keine Handvoll von Dissidenten, die wir Mitte der '80er-Jahre hatten, entschuldigen Sie, das ist viel, viel mehr, zum einen. Aber zum anderen, was das zum Beispiel einheitliche Russland anbetrifft, da, glaube ich, bei den fairen Wahlen werden sie ganz wenig Prozente bekommen, ganz wenig. Aber was Putin anbetrifft, das ist eine andere Geschichte. Wahrscheinlich, trotzdem seine Unterstützung wird auch schwächer, aber er würde nach wie vor wahrscheinlich auch bei den fairen Wahlen irgendwie – manche sagen 60 Prozent, ich weiß es nicht. Aber er würde wahrscheinlich diese Wahl, also in dieser Situation, diese Wahlen wahrscheinlich gewinnen.
Rack: Sie haben ja vorhin von einer Ideologie gesprochen, die im Laufe des Endes der Sowjetunion neu entstanden ist, dieser Patriotismus, dieser Nationalismus …
Scherbakowa: Traditionalismus.
Rack: Traditionalismus. Aber das würde doch heißen, dass zumindest bei vielen Leuten diese Ideologie, die sich zum Teil ja auch mit religiösen Tendenzen verbunden hat, dass die doch bei vielen irgendwie ankommt.
Scherbakowa: Ja, das ist, ich würde ja sagen, nicht die Sehnsucht, das ist die Flucht sozusagen. Das ist die Flucht in die Machtvertikale. Das ist die Flucht sozusagen unter die Flügel des starken Staates, den Putin ja verkörpert in den Augen von diesen Menschen. Man hat Angst vor Freiheit, man hat Angst vor Demokratie und so. Viele Menschen waren in diesem Militärkomplex tätig, also sozusagen für die Verteidigung gearbeitet und dann waren sie nutzlos. Jetzt mit der neuen Aufrüstungsgeschichte wird diese Linie wieder irgendwie von dem Staat unterstützt. Deshalb glaube ich eher, das ist so eine Entscheidung, lieber das, lieber diese Stabilität, lieber das als irgendein demokratisches Chaos.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.