
Erst tauchten russische Drohnen über Polen auf, dann Kampfjets über Estland. Russland testet die NATO und richtet nun auch den Blick nach Norden. Moskau rüstet entlang der mehr als 1300 Kilometer langen Grenze zu Finnland auf. Der russische Außenminister Sergej Lawrow warf dem neuen NATO-Mitglied jüngst „Revanchismus“ vor – also den Versuch, alte Rechnungen mit Russland zu begleichen. Doch Finnland lässt sich nicht einschüchtern: Das Land gilt als so gut vorbereitet wie kaum ein anderes in Europa.
Warum Russland Finnland bedrohen könnte
Die verbalen Angriffe Russlands gegen Finnland begannen mit dem NATO-Beitritt 2023. In den vergangenen Wochen haben die Äußerungen gegenüber Finnland aber eine neue Qualität erreicht. Dmitri Medwedew, stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrates und ehemaliger Präsident, veröffentlichte bei der Staatsagentur TASS einen Essay, in dem er Finnland eine „antirussische Hysterie“ unterstellte. Er warf Helsinki vor, sich auf einen Krieg mit Russland vorzubereiten und als Aufmarschgebiet für einen Überfall zu dienen.
Solche Äußerungen häufen sich derzeit in Moskau. Das Institute for the Study of War (ISW) erkennt darin ein Muster: Mit ähnlichen Vorwürfen – von angeblichem Faschismus bis zu vermeintlicher Aggression – habe der Kreml schon den Angriff auf die Ukraine vorbereitet. Nun solle so auch ein mögliches Vorgehen gegen NATO-Staaten propagandistisch als „Verteidigung“ erscheinen.
Russland baut Militärpräsenz an der finnischen Grenze aus
Satellitenbilder von Juni 2025 zeigen außerdem einen deutlichen Ausbau der militärischen Anlagen auf russischer Seite an mehreren Orten nahe der finnischen Grenze. Der frühere finnische Militärgeheimdienstler Marko Eklund nennt als Beispiele Kandalakscha im Gebiet Murmansk, wo eine Garnison zu einem vollwertigen Standort mit Artillerie- und Ingenieureinheiten ausgebaut werde, sowie Kamenka auf dem Weg von St. Petersburg nach Helsinki, wo eine Brigade zur Division mit bis zu 10.000 Soldaten anwächst. Auch im Raum Petrosawodsk, rund 200 Kilometer von der finnischen Grenze entfernt, werden Stützpunkte ausgebaut.
Dabei hatte Russland 2022/23 zunächst Einheiten abgezogen. Der Kreml rechtfertigt den Aufmarsch als Verteidigungsmaßnahme. Die meisten Expertinnen und Experten halten einen Angriff Russlands auf Finnland derzeit für unwahrscheinlich. Vielmehr diene die russische Rhetorik dazu, von der Ukraine abzulenken und eine Debatte über Waffenlieferungen nach Finnland statt an Kiew auszulösen – was wiederum die Ukraine beunruhigt.
Wehrpflicht und Reservisten – Finnlands militärische Stärke im Ernstfall
Finnland hat viele gut ausgebildete Streitkräfte und ein starkes Reservistenheer – ein Ergebnis jahrzehntelanger Vorbereitung.
Ein Grund: Finnland ist einer der wenigen Staaten Europas, die die Wehrpflicht nach dem Kalten Krieg nie abgeschafft hat. Männer müssen dienen, Frauen können sich freiwillig melden. Die Wehrpflicht ist im Land unumstritten, das Reservistenalter wurde jüngst auf 65 Jahre angehoben.
So verfügt das Land im Ernstfall über rund 870.000 Reservistinnen und Reservisten, von denen etwa 280.000 innerhalb weniger Tage mobilisiert werden können, bei nur 5,5 Millionen Einwohnern. Zum Vergleich: Deutschland hat eine ähnlich hohe Zahl an Reservisten, allerdings bei über 83 Millionen Einwohnern.
Obwohl die finnische Armee selbst nur rund 24.000 aktive Soldatinnen und Soldaten zählt, gelten rund 200.000 von ihnen als unmittelbar einsatzbereit. Die Luftwaffe gilt außerdem als eine der stärksten Europas. Viele junge Menschen in Finnland bereiten sich bereits vor ihrem Wehrdienst auf den Ernstfall vor und lernen etwa zu schießen.
Finnland hat seine Abschreckung spürbar verstärkt. Das Land schloss nach der Invasion Russlands in die Ukraine mehrere Grenzübergänge und baute einen Zaun an sensiblen Abschnitten, als Schutz vor gezielt gelenkter Migration, die Russland laut Helsinki als Waffe einsetze. Entlang der mehr als 1300 Kilometer langen Grenze überwachen heute Kameras, Bewegungsmelder und Drohnen jeden Meter. Außerdem wurde an der Ostflanke ein NATO-Hauptquartier eingerichtet.
Auch auf See zeigt sich Finnland wachsam: Die Küstenwache trainiert regelmäßig den Zugriff auf verdächtige Schiffe. Die „Eagle S“, die Weihnachten 2024 Seekabel zerstört haben soll, wurde beispielsweise von der finnischen Küstenwache festgenommen. Und finnische Jets waren zuletzt die ersten, die auf russische Luftraumverletzungen in Estland reagierten.
Zwischen Preppen und Bunker: Wie sich die Gesellschaft vorbereitet
Sicherheit ist in Finnland kein abstrakter Begriff, sondern fester Bestandteil der Gesellschaft. Das Land hat den Zivilschutz nie heruntergefahren – nicht nach dem Ende des Kalten Krieges.
Landesweit bieten über 50.000 Schutzräume Platz für rund 90 Prozent der Bevölkerung. Allein in Helsinki könnten 900.000 Menschen unterkommen – mehr, als die Stadt Einwohner hat.
Es gibt beispielsweise Sporthallen, die 20 Meter unter der Erde liegen – so gebaut, dass sie sich im Ernstfall in wenigen Stunden in Schutzräume verwandeln lassen, mit einfachen Betten, Eimern statt Toiletten und Vorratslagern für den Notfall.
Doch der Zivilschutz endet nicht unter der Erde: In fast jedem Neubau sind Luftschutzräume vorgeschrieben, Bürger wissen, wo sich der nächste befindet.
Auch zu Hause sollen die Menschen vorbereitet sein. Der Staat empfiehlt jedem Haushalt, 72 Stunden lang selbstständig durchhalten zu können – also drei Tage ohne Strom, fließendes Wasser oder Supermarkt. Das offizielle Programm heißt schlicht „72 Stunden“. Es gibt Prepper-Kurse und Zivilschutzkurse, in denen man lernen kann, was in den Notvorrat gehört: Wasser, Konserven, Taschenlampe, Kurbelradio, Batterien. Jede und jeder muss in der Lage sein, sich drei Tage lang selbst zu versorgen. Diese Zeit braucht der Staat, um die Notfallinfrastruktur in Gang zu kriegen.
Das „Preppen“ ist in Finnland eine Art Volksport. Laut Zivilschutzbehörde sind rund ein Drittel der Haushalte gut vorbereitet.
Warum die Verteidigungsbereitschaft in Finnland so außergewöhnlich hoch ist
Auch außerhalb des Militärs engagieren sich viele Bürgerinnen und Bürger freiwillig für die Verteidigung des Landes. Es gibt zum Beispiel eine große Frauenorganisation, die Schießübungen an Wochenenden organisiert. Laut einer Studie wären 83 Prozent der Bevölkerung bereit, Finnland im Kriegsfall zu verteidigen.
Diese außergewöhnlich hohe Verteidigungsbereitschaft der Finnen hat tiefe historische Wurzeln. Sie geht zurück auf den Winterkrieg von 1939, als sich das militärisch weit unterlegene Land gegen die sowjetische Übermacht wehrte und seine Souveränität verteidigte, aber schwere Verluste hinnehmen musste. Kaum eine andere historische Erfahrung habe Finnlands nationale Identität derart geprägt, so der Historiker Juhana Aunesluoma.
Die Erfahrung des Winterkriegs und die jahrzehntelange Nachbarschaft zu Russland – mit der längsten EU-Außengrenze und ohne NATO-Schutz – haben das Sicherheitsbewusstsein der Finnen geschärft. Heute steht das Land erneut unter Druck: Russland rüstet entlang der Grenze auf, stört GPS-Systeme und setzt Migration gezielt als politisches Druckmittel ein. Viele Finnen haben deshalb das Gefühl, „an der Front“ zu stehen.
Finnland als Vorbild in Europa
Das Konzept der „totalen Verteidigung“ ist Ausdruck dieses Selbstverständnisses: In Finnland trägt jeder Verantwortung – das Militär, Behörden, Unternehmen und Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen. Vertrauen in den Staat und in die eigene Fähigkeit, Krisen zu meistern, gehören fest zur finnischen Identität.
Mit dem Beitritt zur NATO im April 2023 hat Finnland seine Strategie nicht aufgegeben, sondern erweitert. So verbindet das Land heute eine tief verwurzelte Verteidigungskultur mit der kollektiven Abschreckung der NATO – und gilt in Europa als das Land, das am besten auf den Ernstfall vorbereitet ist.
Kein Wunder also, dass Delegationen aus ganz Europa regelmäßig nach Helsinki reisen, um sich über Krisenvorsorge, Zivilschutz und Verteidigungsstrategien zu informieren. Finnland gilt heute als Vorbild dafür, wie man eine Gesellschaft auf Notlagen vorbereitet.
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