Sicherheitslage in Europa
Russland, die NATO und die Kriegsgefahr

Drohnen über Polen, Dänemark und Deutschland; russische Kampfjets im estnischen Luftraum, ein russisch-belarussisches Manöver an der Grenze zu Polen: Alles nur gezielte Provokationen Putins? Wie sollte die NATO reagieren?

    Zwei polnische Soldaten in Tarnkleidung trainieren unter freiem Himmel auf einem Feld am 18.09.2025 bei einer Militärübung mit Panzerabwehrwaffen.
    Polnische Soldaten trainieren im September 2025 gemeinsam mit NATO-Verbündeten für den Ernstfall. (picture alliance / ZUMAPRESS.com / Dominika Zarzycka)
    Bomben auf Kiew, russische Kampfflugzeuge im estnischen Luftraum, russische Drohnen in Polen – Wladimir Putin scheint zu testen, wie weit er gehen kann. Auch Drohnensichtungen über militärischen Anlagen in Dänemark oder auch Deutschland tragen zur Unsicherheit bei. Wie kann – oder muss – die NATO reagieren? Ein Überblick.

    Inhalt

    Wie Putin den Westen provoziert

    Die erkennbar russischen oder Russland zugeschriebenen Provokationen spielen sich auf verschiedenen Ebenen ab. Im September 2025 drangen etwa russische Kampfjets in den estnischen Luftraum ein, bis sie von dort stationierten italienischen Flugzeugen zurück in den russischen Luftraum eskortiert wurden. Zwei russische Kampfjets näherten sich auch einer polnischen Bohrinsel in der Ostsee und verletzen die Sicherheitszone über der Plattform.
    Russische Drohnen wurden im September 2025 im rumänischen Luftraum aber vor allem an der polnischen Grenze gesichtet. Mehr als ein Dutzend Drohnen drangen in den Luftraum Polens ein. Einige davon wurden von der polnischen Luftwaffe und NATO-Verbündeten abgeschossen.
    Aber auch weit davon entfernt lösten Drohnensichtungen Besorgnis aus, auch wenn meist unklar war, wer für die Drohnenflüge verantwortlich war. So wurden im September in Dänemark, das auch Mitglied der NATO ist, Drohnen an mehreren Flughäfen und militärischen Einrichtungen gesichtet. Der Flugbetrieb in Kopenhagen oder Aalborg musste zeitweise eingestellt werden.

    Drohnen über Dänemark und Schleswig-Holstein

    Die dänische Regierungschefin Frederiksen sagte danach, auch wenn man noch nicht wisse, wer hinter den Vorfällen stecke, könne man eines feststellen: „Es ist vor allem ein Land, das eine Bedrohung für Europas Sicherheit darstellt – und das ist Russland.“
    Auch in Schleswig-Holstein wurden im September mehrere Drohnen auch über militärischen Anlagen gesichtet, weshalb die Behörden auch Spionage nicht ausschließen wollten. Und in München führten Anfang Oktober Drohnensichtungen am Flughafen dazu, dass dieser mehrmals gesperrt werden musste.

    Merz: Ausspähversuche

    Bundeskanzler Merz sprach von einer ernsthaften Bedrohung der Sicherheit. Es habe sich um Ausspähversuche gehandelt, zudem solle die Bevölkerung verunsichert werden. Er machte Russland für die meisten Drohnenvorfälle verantwortlich. In Moskau wurde das zurückgewiesen.
    Russland steht seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine auch immer wieder im Verdacht, für die Sabotage und Zerstörung von Unterseekabeln in der Ostsee verantwortlich zu sein. Beweisen ließ sich das bislang nicht.
    Zudem sollen mehrere Cyberangriffe in Deutschland gegen die SPD und Unternehmen aus den Bereichen Logistik, Rüstung, Luft- und Raumfahrt und IT sowie der Versand von Sprengstoffpaketen in mehrere europäische Länder auf das Konto des russischen Militärgeheimdienstes GRU gehen.

    Warum löste das russische Militärmanöver "Sapad" große Sorgen aus?

    Besorgnis hatte bei den östlichen NATO-Staaten auch Mitte September das russisch-belarussische Militärmanöver „Sapad 2025“ ausgelöst: „Sapad“ heißt „Westen“. Die beiden Länder beendeten ihre Militärübung mit nuklearen Drohszenarien gegen die NATO.
    Militärmanöver sind an sich nichts Ungewöhnliches, so führt auch die NATO regelmäßige Übungsreihen durch, wie beispielsweise „Quadriga“, die überwiegend im Ostseeraum und Baltikum stattfindet.
    „Sapad 2025“ war allerdings die erste gemeinsame Militärübung von Russland und Belarus auf belarussischem Staatsgebiet seit 2021. Analysten sagen, dass das Manöver "Sapad 2021" den russischen Überfall auf die Ukraine vorbereitet hatte. Russland griff die Ukraine am 24. Februar 2022 auch von belarussischem Staatsgebiet aus an.
    Dass Russland noch einmal von Belarus aus einmarschieren könnte, hält die Staatsführung in Kiew für unwahrscheinlich. Das Manöver diene vor allem dazu, die westlichen Partner einzuschüchtern, hieß es in Kiew. Deshalb habe die belarussische Militärführung angekündigt, auch den Einsatz von Atomwaffen und neuen Mittelstreckenraketen zu üben.

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    Belarus spielt eine entscheidende Rolle als quasi-militärisches Testgelände Russlands. Der Kreml kontrolliert auch die Atomwaffen auf belarussischem Gebiet.

    Wie bewerten Experten den Drohnenangriff in Polen?

    Experten und führende Politiker bewerteten den Drohnenangriff in Polen übereinstimmend als gezielte russische Provokation und einen Test der NATO-Reaktionsfähigkeit, nicht als Zufall oder Versehen. Russland wolle vor allem wissen, wie sich die USA gegenüber der NATO-Bündnisverpflichtung verhielten, sagt die Sicherheitsexpertin Claudia Major.
    Ein Teil der Drohnen zielte anscheinend auf den Flughafen Reschov – ein großer Umschlagpunkt für die Ukrainehilfe. Einige der Drohnen gelangten auch bis ins Landesinnere Polens.
    Manche Militärexperten sehen den Vorfall auch als Teil eines ohnehin schon laufenden „hybriden Krieges“ Russlands gegen den Westen insgesamt. Zu dieser Grauzone zwischen Krieg und Frieden gehört auch die Bedrohung kritischer Infrastruktur, Überflüge von Drohnen über Militäreinrichtungen oder aggressiveres Verhalten russischer Einheiten auf See.
    Polen beantragte aufgrund des Angriffs eine Sondersitzung nach Artikel 4 des NATO-Vertrags. Zuletzt wurde Artikel 4 nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine ausgelöst, von Bulgarien, Tschechien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien und der Slowakei.

    Was besagt Artikel 4 der NATO?

    Die NATO ist ein Militärbündnis, das aktiv wird, wenn ein Mitglied sie anruft. Artikel 4 des NATO-Vertrags erlaubt es, die Partner im Falle einer kritischen Lage zügig zusammenzurufen. Wörtlich heißt in Artikel 4:
    „Die Vertragsparteien konsultieren einander, wenn nach Auffassung einer von ihnen die territoriale Unversehrtheit, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Vertragsparteien bedroht ist.“
    Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius unterstützte das Auslösen von Artikel 4 durch Polen ausdrücklich. Die NATO werde sich „besonnen und nicht eskalierend“ verhalten, sagte er.
    Der deutlich schärfere Artikel 5, der nicht nur Konsultationen, sondern militärische Unterstützung vorsieht, wurde bisher nicht ausgelöst.

    Wie schätzen Experten die Bedrohungslage ein?

    Der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Karl Schlögel, sieht Europa in einer "neuen Vorkriegszeit". Es falle einer friedensgewohnten Generation schwer, sich in einer solchen Situation zurechtzufinden, sagte der Osteuropa-Historiker bei der Preisverleihung in der Paulskirche in Frankfurt am Main.
    Schlögel rief dazu auf, von den Erfahrungen der Menschen in der Ukraine zu lernen. "Sie bringen uns bei, dass Landesverteidigung nichts mit Militarismus zu tun hat."
    Polens Ministerpräsident Donald Tusk warnte nach dem Drohnenvorfall im September, sein Land stehe einem offenen Konflikt mit Russland näher als jemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg und sei in höchster Alarmbereitschaft. Polen hatte - auch wegen des Militärmanövers „Sapad 2025“ - seine Grenze zu Belarus geschlossen und Tausende Soldaten dorthin geschickt.
    Die Sicherheitsexpertin Claudia Major betont, dass Russland eine Strategie der ständigen Provokation, des Testens von Grenzen und der hybriden Kriegsführung verfolgt. Russland beschädige die kritische Infrastruktur europäischer Staaten, etwa Seekabel in der Ostsee, erkunde mit Drohnenüberflügen die Einrichtungen kritischer und militärischer Infrastruktur und verbreite Desinformation, so Major.
    Ähnlich äußerte sich auch der Sicherheitsexperte Ralph Thiele, der Europa einem hybriden Krieg ausgesetzt sieht. Die Drohnen seien dabei nur das sichtbarste Stück. Weitaus umfassender sei das russische Vorgehen im virtuellen Raum, das aber kaum bemerkt werde.
    Moskaus Ziel sei es, die europäische Einheit zu schwächen, sagt Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
    Europäische Geheimdienste warnten im März diesen Jahres davor, Russland schaffe die Voraussetzungen, um einen „großmaßstäblichen konventionellen Krieg“ zu führen. „Das wollen wir verhindern, indem wir verteidigungsbereit und abschreckungsfähig sind", sagt Jan Christian Kaack, Inspekteur der Deutschen Marine. Nach Geheimdienstinformationen wäre Russland spätestens ab 2029 bereit, „Unfug zu machen“.
    Die baltischen Staaten gelten als Achillesferse des Bündnisses. Durch ihre geografische Lage könnten sie leicht vom Rest des NATO-Territoriums abgeschnitten werden. Die NATO hat als Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ihre Ostflanke im Baltikum mit Soldaten und Waffen verstärkt.

    gue/tha/rey