Im russischen Krieg gegen die Ukraine stellt die erzwungene russische Eingliederung von ukrainischen Regionen eine weitere Eskalation dar. Die Weltgemeinschaft hat auf diesen Vorgang mehrheitlich mit Kritik reagiert. Darüber wie sich Kriegsgeschehen und internationale Beziehungen weiterentwickeln werden, sind sich Beobachter uneins.
Wie reagiert der Westen auf die Annexion?
Der Westen hat die russische Annexion der vier ukrainischen Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson für illegitim erklärt. Die 27 EU-Staaten einigten sich als Reaktion auf ein achtes Sanktionspaket gegen Russland. Es enthält eine Preisobergrenze für russisches Öl, eine Beschränkung des EU-Exports von Flugzeugteilen nach Russland sowie eine Begrenzung der Stahleinfuhren, wie die tschechische Ratspräsidentschaft mitteilte.
Am 12. Oktober 2022 verabschiedete die UNO-Vollversammlung eine Resolution, in der Moskaus Vorgehen als Verletzung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine kritisiert wird. Die Annexion stehe im Widerspruch zu den Prinzipien der UN-Charta. Die russischen Aktionen hätten „keine Gültigkeit unter dem Völkerrecht und bilden keine Grundlage für jegliche Änderung des Status dieser Regionen der Ukraine“, heißt es. Die Resolution fordert Moskau dazu auf, die völkerrechtswidrige Annexion zurückzunehmen. Das Abstimmungsergebnis fiel deutlicher aus als von vielen Beobachtern erwartet. 143 der 193 Mitgliedsstaaten stimmten für die Resolution, mehr als bei der Abstimmung im März über die Verurteilung des Einmarsches in die Ukraine. 35 enthielten sich. Dagegen stimmten Russland, Syrien, Nicaragua, Nordkorea und Belarus.*
Allerdings kann die UN-Vollversammlung im Gegensatz zum UN-Sicherheitsrat keine rechtlich bindenden Resolutionen erlassen. Im Sicherheitsrat hat Russland – wie die anderen vier ständigen Mitglieder – ein Vetorecht, weshalb dort einer Abstimmung mit bindenden Konsequenzen für Russland keine Chance eingeräumt wird.
Wächst nun die Gefahr einer Eskalation mit Atomwaffen?
Im Zuge der Annexion hat der russische Präsident Wladimir Putin seine Drohung wiederholt, Atomwaffen einzusetzen. Bereits vor dem Beginn der Scheinreferenden hatte er darauf hingewiesen, dass die Gebiete danach komplett unter dem „Schutz“ der Atommacht Russland stünden. Er hatte der Ukraine mit dem Einsatz „aller verfügbaren Mittel“ gedroht, um Angriffe abzuwehren – und betont, er bluffe nicht. Auch der ehemalige Präsident und jetzige Vizechef des russischen Sicherheitsrats, Dmitri Medwedew, hatte mehrfach unverhohlen mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Die USA haben Russland für diesen Fall vor „katastrophalen Folgen“ gewarnt.
Der Politologe Gerhard Mangott erklärte dazu, wenn es der Ukraine gelinge, weiteres Territorium zurückzugewinnen und Russland bis an den Rand einer katastrophalen Niederlage zu bringen, dann bleibe letztlich immer noch eine nukleare Eskalation - die er Putin in seiner Kaltblütigkeit durchaus zutraue.
Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis hält die Verlautbarungen Russlands dagegen für Angstmacherei und Kalkül. Wenn es zu dieser atomaren Frage komme, wäre die Reaktion komplett zerstörerisch für Russland – das sei die Antwort auf diese Panikmache, so der litauische Politiker im Dlf.
Beobachter befürchten, dass durch das russische Vorgehen Verhandlungen mit der Ukraine nun noch unwahrscheinlicher werden. Denn weder Russland noch die Ukraine könnten auf die seit dem 24. Februar von Russland eroberten Gebiete verzichten. Politikwissenschaftler Mangott ist überzeugt: „Putin ist fix entschlossen, die Gebiete, die er jetzt annektiert hat, auch militärisch zu halten.“ Ein diplomatischer Ausweg habe somit keine große Chance. Aufgrund der mangelnden Verhandlungsbereitschaft spricht sich Mangott für verstärkte Waffenlieferungen an die Ukraine aus. Nach seiner Auffassung muss das Land soweit militärisch gestärkt werden, bis Russland sich auf Verhandlungen einlassen müsse.
Eine „durchschaubare Propagandaaktion“ des Kremls erkennt Wolfgang Ischinger, früherer Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, in der Annexion. „Die ganzen letzten Monate musste die russische Führung irgendwie damit leben, dass weitere militärische Erfolge in der Ukraine nicht stattfanden. Man konnte nicht von Sieg zu Sieg eilen, erklärte Ischinger im Dlf. Mit der Annexion solle der russischen Bevölkerung vorgegaukelt werde, dass sich im Kriegsgeschehen etwas Großartiges tue.
Wie hängen Scheinreferenden und Annexion zusammen?
Kurz nach Ankündigung der Teilmobilisierung in Russland inszenierte die russische Regierung kurzfristig angesetzte Referenden in den ukrainischen Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson im Süden des Landes – mit dem Ziel diese Gebiete zu annektieren. Zusammen entsprechen sie grob der Fläche Portugals und machen 15 Prozent des ukrainischen Staatsgebietes aus.
Der Westen verurteilte dieses Vorgehen als illegitim, denn die sogenannten Volksabstimmungen wurden unter militärischem Druck von moskautreuen Offiziellen in den besetzten ukrainischen Gebieten organisiert. Zudem waren zahlreiche Bewohner der betroffenen Regionen längst vor dem Krieg geflüchtet und solche Referenden über eine Angliederung an einen anderen Staat hätten nur vom ukrainischen Staat selbst durchgeführt und von der gesamten ukrainischen Bevölkerung entschieden werden dürfen.
Den in russischen Staatsmedien veröffentlichten Endergebnissen zufolge stimmte die Bevölkerung in Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson mit zwischen 87 und gut 99 Prozent für einen Anschluss an Russland. Infolgedessen unterschrieb der russische Präsident Wladimir Putin am 30. September die Annexionsverträge, denen anschließend das russische Parlament am 3. Oktober zustimmte.
Die von Russland annektierten Gebiete werden von Statthaltern geführt, die zu 90 Prozent russische Staatsbürger sind: Emporkömmlinge aus Ministerien oder anderen russischen Behörden. Sie wurden eingesetzt, um die Befehle aus Moskau durchzusetzen – wie den Befehl zur Teilmobilmachung. Das heißt in der Konsequenz, dass eingezogene Männer aus besetzten ukrainischen Gebieten in der russischen Armee Krieg gegen ihre eigenen Landsleute führen müssen.
(Quellen: Peter Sawicki, Florian Kellermann, Sabine Adler, Reuters, AFP, dpa)
*) Korrekturhinweis: Wir haben die Angabe präzisiert, welche Länder gegen die Resolution gestimmt haben.