Samstag, 27. April 2024

Sagen & Meinen
Weshalb man Juden nicht "Mitbürger" nennen sollte

Wer Jüdinnen und Juden als "jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger" bezeichnet, ziehe eine sprachliche Grenze, meint Henry Bernhard. Man selbst sei "normal", das Gegenüber irgendwie anders. Und suggeriere zudem, dass das Wort "Jude" ein Schimpfwort sei.

Von Henry Bernhard | 09.11.2023
Ein Mann mit Kippa auf einer Demonstration gegen Antisemitismus in Berlin.
Politiker sprechen oft von "jüdischen Mitbürgern" statt von "Juden" (IMAGO / IPON )
Olaf Scholz hat es getan, genauso wie Angela Merkel oder Frank-Walter Steinmeier. Sie alle sprechen von den jüdischen "Mitbürgern". Ein Wort das fast ausnahmslos in der Bezeichnung von Juden auftaucht. In seltenen Fällen ist auch mal von "muslimischen Mitbürgern" oder "ausländischen Mitbürgern" die Rede.
Aber ansonsten gibt es keine „Mitbürger“ in Deutschland, keine christlichen, agnostischen oder atheistischen Mitbürger. Denn sie alle sind: Bürger. Oder Nachbarn. Oder Einwohner. Oder Menschen.

Das Ziehen einer sprachlichen Grenze

Wer den anderen mit einem vorgesetzten Adjektiv als „Mitbürger“ bezeichnet, zieht eine Grenze zwischen sich und ihm, zwischen sich und „dem Anderen“, dem er aber verbal in paternalistischer Pose wohlmeinend auf die Schulter klopft. Man sagt ihm dabei, dass man selbst „normal“ sei, der andere aber irgendwie anders. Oder auch schwächer, betreuungsbedürftig.
Und dann gibt es da noch die „Mitbürger jüdischen Glaubens“, „jüdische Menschen“, „Menschen jüdischer Herkunft“ - früher auch noch „Mitbürger mosaischen Glaubens“. Nein, „Jude“ ist kein Schimpfwort. Wer das Wort bewusst vermeidet, der suggeriert aber, dass das Wort lieber nicht ausgesprochen werden sollte.

Jude ist kein Schimpfwort, sondern Selbstbezeichnung

Aber „Juden“ ist die Bezeichnung für eine Menschengruppe mit gemeinsamer Religion und Kultur. Es ist ihre Selbstbezeichnung. Und, nein, nicht jeder Jude glaubt an einen Gott. Und bleibt doch: Jude. Und so sollten wir sie auch benennen. Sonst landen wir irgendwann noch vor lauter verschämter Verdruckstheit beim „J-Wort“.