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Vor 60 Jahren
Als Schostakowitschs 13. Sinfonie "Babi Jar" uraufgeführt wurde

Dmitri Schostakowitsch hat für seine 13. Sinfonie das Gedicht „Babi Jar“ vertont. Die Verse greifen eines der größten Massaker des Zweiten Weltkriegs auf – eine Thematik mit Sprengkraft. Vor 60 Jahren wurde die Sinfonie uraufgeführt.

Von Stefan Zednik | 18.12.2022
Schwarzweißfoto vom jungen Schostakowitsch, der den Kopf auf seine Hand stützt
Dmitri Schostakowitsch vertont im März 1962 die Verse von "Babi Jar" (imago / Everett Collection)
Ein aufs äußerste konzentriertes, gespanntes Publikum sitzt 18. Dezember 1962 im Saal des Moskauer Konservatoriums. Es erklingt erstmals die 13. Sinfonie von Dimitri Schostakowitsch, und der ebenso geehrte wie vielfach geschmähte Komponist befindet sich ebenfalls im Publikum.
„Jewgeni Jewtuschenko war ein Schriftsteller, ein Poet, zu der Zeit dieser Sinfonie noch sehr jung. Ursprünglich aus Sibirien kommend, ist er dann als Kind schon übergesiedelt nach Moskau und machte sich in dieser sogenannten Tauwetterphase dann einen Namen.“
Die "Tauwetterphase", von der die Historikerin Sarah Matuschak spricht, bezeichnet die Jahre nach dem Tod des Diktators Josef Stalin im Jahr 1953, sie bezeichnet eine Zeit der Liberalisierung, vor allem in kultureller Hinsicht. Schon die Titel der Gedichte Jewtuschenkos, die Schostakowitsch in der Sinfonie verarbeitet hatte, ließen die Menschen hellhörig werden: "Humor", "Im Laden", "Ängste", "Karriere" - Themen und Begriffe, die dem neugierigen Moskauer der erst wenige Jahre zurückliegenden Stalin-Ära ein breites, auch sehr persönliches Assoziationsfeld eröffneten.
„Die Gedichte sind zu verschiedenen Zeiten veröffentlicht worden und behandeln verschiedene Probleme. Ich wollte sie durch die Musik verbinden. So habe ich eine Sinfonie geschrieben und nicht eine Reihe einzelner Bilder.“
Besondere Sprengkraft enthielt das erste Gedicht, das der Sinfonie ihren Namen gibt. "Babi Jar", zu Deutsch: die Schlucht der alten Frauen.
„In den Memoiren von Jewtuschenko beschreibt er, dass er einen Freund besuchte, in der Ukraine, einen Universitätsfreund, und dieser Freund wollte ihn unbedingt zu einem Ort namens ‚Babi Jar‘ führen, irgendeine Schlucht bei Kiew.“

Größte Massenhinrichtung außerhalb der Vernichtungslager

Am 29. September 1941 hatten hier deutsche Besatzungssoldaten und Einheiten des Sicherheitsdienstes über 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder grausam ermordet, innerhalb von 48 Stunden. Es war die größte Massenhinrichtung außerhalb der Vernichtungslager im Zweiten Weltkrieg. Jewtuschenkos habe mit seinem Freund die Schlucht besucht, sagt Sarah Matuschak:
„Und er wandert dann da mit ihm rum und erfuhr davon erst und war furchtbar betroffen. Und er sagte: Man konnte da sogar auch noch Knochen finden zu dem Zeitpunkt. Es hat ihn so belastet, dass er sich danach in seinem Hotelzimmer hingesetzt hat und ein Gedicht verfasst hat mit dem Titel ‚Babi Jar‘:“

Über Babi Jar, da steht keinerlei Denkmal.
Ein schroffer Hang – der eine, unbehauene Grabstein.
Mir ist angst.
Ich bin alt heute, so alt wie das jüdische Volk,
Ich glaube, ich bin jetzt ein Jude.

Antisemitismus in der Sowjetunion

Das Gedicht löst nach seinem Erscheinen eine heftige Kontroverse aus, bei der es vor allem um die unerwünschte Identifikation mit dem Leid der Juden geht. Auch im Zarenreich, ebenso in der späteren Sowjetunion, gab es eine antisemitische Tradition, die in den Jahren nach dem Ende des Weltkriegs wieder aufzuflammen schien. Eine Darstellung von Juden als "besondere Opfer" war unerwünscht. Ein Vorwurf, der auch Schostakowitsch treffen muss, so Sarah Matuschak:
„Ursprünglich war wohl auch mal eine Fernsehübertragung geplant, das Ganze sollte gefilmt werden, aber das wurde alles abgebrochen, es wurde weder gefilmt noch war die Parteielite da, die Parteiloge blieb leer. Der ganze Vorplatz war geräumt um dieses Konservatorium, aber das Publikum kam und die Begeisterung war groß, es wurde dann noch mal am 18. Dezember aufgeführt und noch mal am 20. Dezember und danach aber faktisch nicht mehr.“
Auch eine erzwungene Textänderung, die Schostakowitsch ärgerlich zur Kenntnis nahm, bringt das Werk nicht zurück auf die Programme der sowjetischen Konzerthäuser. Vernichtende Kritiken erscheinen, das Werk gerät auf die Verbotsliste, die Partitur und eine Platteneinspielung erscheinen erst neun Jahre später. Schostakowitsch scheint dies nicht mehr tangiert zu haben: Mit seinen Nächsten feiert er den Tag der Vollendung der Partitur wie einen jährlich wiederkehrenden Geburtstag.